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Der Dichter und die Welt

Von Karl Röttger

Der Dichter hatte sich erhoben von seinem abseitigen Sitz und stand nun, aber ein wenig vornübergebeugt. Und, war es nun das Geräusch in der Stille dieses Augenblicks oder eine magische Erscheinung: fast alle sahen ihn ... Er sprach aber so: »Der Wert des Menschen ist nie quantitativ zu bemessen. Er kann nicht wie der Kesseldruck vom Manometer von dem Tun seiner Tage abgelesen werden. Der Wert eines Menschen ist gleich einem verschlossenen Juwel und ist ruhendes Sein. Der Wert eines Menschen bemißt sich nach dem Maß, in dem er Gott in sich hat oder ihn ersehnt ...«

Der Assessor wandte sich an Ingeborg, die neben ihm saß und sagte: »Um Gotteswillen – was will der? Hat der Theologie studiert?« Das Mädchen aber schüttelte seine Worte wie ein lästiges Gesumme ab und starrte den Mann an ... Der hatte eine Pause gemacht und lächelte. –

»Vielleicht sind meine Worte Ihnen lächerlich«, sagte er weiter. »Wie oft bin ich ausgelacht worden ... Aber schließlich kann unsereins doch nur reden, was man ist und meint. Also: Der Wert eines Menschen, sagte ich, kann nur so ungeheuer schwer gesehen werden ... weil er Sein ist und nicht Tat. Die Tat kann mit ihm in Verbindung stehn, bedingt ihn aber nicht. Es sei ein Mensch, und er tue nur Gutes, er gebe täglich die Hälfte seines Erwerbs den Bedürftigen, er kränke niemand, er gehe beiseite, wo Zank ist in Worten oder Taten. So kann dieser Mensch doch der wertlosesten einer sein, die je da waren; so kann er doch ein Mensch sein, der vor dem Angesicht Gottes nicht da ist. Denn wer ist für ihn da? Das ist der Schaffende. Und wer ist der Schaffende? Der da Liebe hat. Nichts als Liebe. Liebe aber ist eben das, was ich nannte das ruhende Sein. Liebe ist gleichbedeutend mit dem Weltgeist und dem Weltsinnen. Liebe ist das Innere aller Dinge. Und wo etwas in der Welt mit sich und der Welt uneins ist, da mangelt's der Liebe. – Und wo ein Mensch leidet, da liebt ihr ihn nicht; und wo einer dürstet in seiner Seele, und ihr wißt es und reicht ihm nicht Hand und Mund, da habt ihr nicht Liebe. Da seid ihr ganz ohne Wert. Und gäbt ihr, was ja sooft geschieht, irgendwem und dem Fernsten Gruß und Teilnahme und dem Nächsten nicht, so seid ihr ohne Wert. Nicht, daß ich sage, der Wert sei nach dem mehr oder minder großen Tun zu messen. – Und so füge ich hinzu: es sei ein Mensch, der irre viel und versäume viel und tue an sich oder an andern, an Fremden und Freunden nicht, was zu tun not sei, etwa weil er noch in sich gespalten sei, oder weil er leide an sich oder zu scheu sei und er habe doch Liebe, so hat er den Wert, den ein Mensch vor Gott haben muß, und Gott wird ihn kennen. Nehmet ein Beispiel. Ich war ein Mensch, arm und einsam, und hatte wenig Gemeinschaft mit den Menschen. Ich liebte dort, wo ich nicht wieder geliebt wurde, und wurde geliebt, wo ich es nicht sah ... War ich etwas Minderes denn heute, da ihr meine Gestaltungen unterirdischer Nöte und Sehnsüchte in meinen Büchern habt? Ist mein Wert gesteigert, seit ich »berufen« bin von der Stimme, zu reden und zu schreiben? – Bin ich dadurch ein anderer? ... Nein! War ich, was ich heute bin, nicht schon als – Kind? – So seht doch, das Kind, mit dem mich heute fast nichts mehr verbindet als ein Blick, den ich hinübersende wie übers Meer (wie in ein Unerreichbares) – dies Kind, was war es? – Aber in Gottes Blick ist sein Wert, den niemand sah, wohl bewahrt. Denn so wir das nicht so zu denken vermöchten, müßten wir vergehen in namenloser Traurigkeit. – Das Kind liebte ein Mädchen, als es zehn Jahre alt war, und das Mädchen war weiß, blond und blau, da es in seines Vaters Garten heraufkam. Aber diese Liebe blieb unerfüllt wie alle große Liebe, und so ward der Wert nicht gesehen. –«

Hier war wieder eine Pause; einige dachten: er ist zu Ende – was hat er gewollt? Und der Maler sprach leise zur Sängerin: »Worauf will er hinaus?« Die zuckte die Achseln und sah den Menschen an. – Er aber sprach weiter: »Wir müssen noch weiter. Es sei ein Mensch, verworfen – wie etwa solche, die ihren Körper verkaufen (Männer oder Weiber), oder wie solche, die ihren Geist verkauften einst (und die waren schlimmer), und das Publikum nannte sie Dichter und Künstler – so können sie noch Wert haben, wenn anders sie noch einen Funken der Liebe haben ... Und sie noch haben einen Funken des Bewusstseins ihrer Verworfenheit. Denn so ich weiß, daß ich verworfen bin, bin ich's noch nicht ganz. Oder schon nicht mehr ganz. Und so ich noch Liebe habe, bin ich nicht aus dem Gesichtsfeld Gottes gerückt. – Gott aber – Gott aber, sage ich« – und da schwand das Lächeln von seinem Mund, und er trat einen Schritt in die Gesellschaft hinein, »Gott richtet anders! ... Denn bei Gott ist eine andere Gerechtigkeit denn bei den Menschen. Gott siehet den Wert des Menschen an, die ruhende Perle in seiner Seele. Es werden vor ihn treten zwei Männer und werden sprechen, der eine: Sieh Herr, ich war ein guter Vater der Kinder und ein treuer Gatte meiner Frau, ich war nie untreu, ich habe das Meine bewahrt, ohne je dem andern zu nehmen; ich habe die Kinder in Sitten gut aufgezogen. – Siehe mich an, Herr! So wird der Herr reden: Ich sehe dich noch nicht; es redet eine Stimme aus dem Nichts zu mir. Du hast deiner Frau nie Übles getan, ich weiß; aber ich sehe deine Perle noch nicht; wo ist dein Wert? Wo ist deine große Liebe? ... Und der andere Mann wird sprechen: Ich habe der Meinen und den Meinen Schmerzen gemacht ... Siehe Herr, du weißt, mein Herz war heiß; ich liebte die eine – und danach geschah es, daß ich auch die andere liebte, und da waren es ihrer zwei. Und es war ein Schmerz uns allen dreien, und es hätte doch wohl eine Seligkeit sein mögen ... Und danach wußte ich, daß ich alles liebte, was schön war, und daß mein Herz sehnte, groß zu werden –: wie eine Sonne über alles hin. Sieh, ich habe oft gestanden und gefragt, warum das so alles sei. Und habe es nicht gefunden. Der Herr wird sagen: Geh ein zu deines Herrn Freude – hättet ihr vermocht, dort schon nur der Stimme eures Herzens zu folgen, so hättet ihr dort schon meine Seligkeit gehabt. Geh ein, sieh, da sind sie schon alle, die du liebtest und die dir schön erschienen; nimm sie an die Hand, hier wird euer keines eine Liebe dem andern neiden. – Denn das sollst du wissen, daß ich weiß, wie du nicht ohne Wert warst, und daß dein Wert war, daß du sehntest und liebtest und leiden konntest um deiner Liebe und deiner Sehnsucht willen. –

Und es werden Kinder kommen und scheue Mädchenseelen und werden nicht wissen, was sie reden sollen; eben da sie scheu sind und zu bescheiden sind, um ihren Wert selbst recht zu glauben, werden sie also nur stumm dastehn; und der Herr wird sagen: Ich sehe wohl euren Wert und eure ruhende Perle, gehet ein. Gehet ein! Denn die Größe des Wertes eines Menschen kann nicht gemessen werden an der Tat und den Taten, sondern ist ruhendes Sein. – Und es werden kommen die Schaffenden, die der Welt gegeben haben das Ihre, auf daß sie reicher sei und schöner und lebenswerter. Und wird kommen, der in Gewalt und Macht und Kraft Werk auf Werk türmte, Shakespeare wird kommen und Strindberg, und die Vielheit und Größe ihrer Werke wird hinter ihnen aufstehen, bergehoch ... Und bei ihnen werden stehen andere, fast namenlos, die der Welt gaben kleine, winzige Schönheiten, die aber auch Liebende und Schaffende waren; und werden nicht geringer gefunden werden von dem Blick Gottes als die Großen, und Er wird sagen: Gehet alle ein, ich sehe wohl eure Perle und euren Wert im Verborgenen ruhn. Und ist kein Unterschied unter euch. Gehet hinein, ihr werdet dort alles finden, das euch lieb und schön war, alle Seelen von Dingen und Männern und Frauen, und euer Herz wird allen strahlen, denn es ist groß und licht wie Sonne. – Und wird eure Liebe, weil ihr vieles lieben müßt, jedem einzelnen nicht geringer sein. – Und werden alle hineingehen, auch die Kinder mit und die Mädchenseelen, die da noch nichts taten noch tun konnten; und werden alle gleich gewertet sein.« –

Leise trat der Dichter zurück und duckte nieder im großen Sessel. Er sah vor sich nieder auf seine Hände. Seine Geliebte lächelte schnell nach ihm hin und dann in die Gesellschaft hinein. Die saß stumm. Die Stille war fast peinlich ... Nur daß ein paar Männer abseits sardonisch lächelten und ein Flüstern begannen. Der alte Freiherr wiegte leise den Kopf und begann nach einem Räuspern: »Ihre Worte, Herr Doktor, stehen in so wenig oder in gar keiner Beziehung zum Leben, wie wir es kennen und gewohnt sind, daß sie uns ganz fremd anmuten – –.« Der Dichter blickte schräg auf: »Ja, ja. Und doch –«

»– und wenn man sie recht versteht, wird man ihnen auch oft widersprechen ...« Der Dichter nickte wieder. Er hätte sagen können: ich weiß! schwieg aber. Hatte auch Lust, hinzuzufügen: Hört ihr denn nicht? Ich meine doch die reine Natur, so wie sie Geist zu werden vermag und geworden ist ... Warum versteht ihr nicht – den Geist ... Er schwieg aber.

Ingeborg hatte eine feine Röte auf ihrem Gesicht – aber sie sah immer geradeaus. Der Dichter sah keine der Damen an. Er hatte das Gefühl, irgendwelches Empfinden für seine schönsten Gedanken müßte da in ihnen sein ... in einigen ... Und Charlotte und Inge und Anna mußten ihn wohl ganz verstehen; er sah aber niemanden an. Auch Magdalena und Else, fügte er in Gedanken hinzu. Aber es war die Bangigkeit in ihnen ... die Furcht ... er mußte auch wohl davon noch reden. Es würde doch wohl niemand zu ihm stehn, wenn es sich darum handelte, einmal Ernstes sachlich vor den Menschen auszusprechen. Angesicht zu Angesicht.

Magdalene und Charlotte saßen nebeneinander, neigten ihre Gesichter einander zu, und Charlotte flüsterte: »Sie fühlen's hier doch nur wie Provokation von ihm, und er packt doch nur seine Dichterideen aus. Es ist nur peinlich; er ist nicht für sie, und sie sind nichts für ihn.« – Magdalena antwortete ganz leise: »Warten wir ab, was draus wird. Er läßt sich nicht kurzerhand abmurksen.« –

»Aber, Gott, es wird doch nur unerquicklich werden ...«

»Was heißt unerquicklich? Es ist wenigstens nicht langweilig.« Der Freiherr sprach: »Robuste Gemüter könnten Ihre Worte gefährlich deuten, weil sie nicht wissen, an welche Realitäten sie sie binden sollen ...« »Ich spreche nicht für robuste Gemüter, Herr Baron.« »Ich weiß, ich weiß, und doch – es kommt darauf an, letzten Endes, was Sie im Leben, in der Realität wollen ...«

»Ich bin kein Sozialreformer, kein Gesellschaftsreformer. Ob man mich einen Ethiker nennen will? Es steht in jedermanns Belieben. Ich fühle mich aber außerhalb all dieser Kategorien. Ich bin – eine Stimme ... Eine Stimme ...« Er brach ab und dachte: »Ah, ich werde den Wund nicht mehr auftun ... Ah, scheußlich, dies Gefühl ...«

Der Assessor begann, ganz gelassen und mit einer Trockenheit in der Stimme; auf seinem Gesicht stand eine ungeheure Korrektheit ... Der Dichter hatte Gefallen an ihm und dachte: Er ist ein Symbol! Wan muß mit ihm rechnen. Symbole sind eben da, ob im Guten, ob im Schlechten. Der Assessor nickte leicht nach dem Freiherrn hinüber: »Wenn wir eingehen wollen auf das, was der Herr Doktor sagte (er legt, wenn ich recht verstehe, Wert darauf, Probleme, Zukunftsträume, Zukunftsspiegelungen mit derselben Offenheit in allem Umfang auszusprechen, wie es die Dichter sonst nur in ihren Werken tun), ich sage, es kommt darauf an, was gewollt wird! Herr Baron sagte es schon – was soll realisiert werden? Und da lassen die Worte von eben, so poetisch sie erfühlt sein mögen (der Dichter schmunzelte in sich hinein), nur eine Deutung zu ... (in der Kunstpause hielten alle Damen den Atem ein wenig an, obwohl sie genau wußten, was folgen würde) die Worte können in der Praxis nur bedeuten: Auflösung des Zellgewebes unserer gesellschaftlichen und staatlichen Bindung, auch wenn sie nicht so gemeint sind. Die Menschen werden aber in der Praxis aus solchen Worten das machen ... Denn so schön die Worte über die Liebe gemeint sein werden – man weiß doch nicht recht, meint der Dichter mit seiner großen Liebesverbrüderung nur eine Art Freundschaftsbund oder begreift er die Geschlechterliebe mit ein. Vielleicht ist er so gütig, uns noch einiges Nähere – (und er schloß mit einem liebenswürdigen Blick zu den Damen hin), wir werden gern hören – –«

Der Dichter dachte: Daß dich das Mäuslein beißt. Dich kitzelt nicht nur deine Neugierde, mich über ein schweres Thema auszuholen. Du willst mehr. Einer, der, scheint's, immer aufs Ganze geht. –

Aber er lächelte seinem Widersacher freundlich zu. Wollen sehen, was Sachlichkeit vermag, dachte er, und begann.

»Ich gestehe, wenn unsereins solche Dinge anschlägt, so meinen wir erstmal den Ton! Meine Worte hatten zunächst gar nichts Reales, noch keine klar umrissene Gestaltung im Auge ...«

Der Assessor strahlte. »Wir können Ihnen zubilligen, daß da ein Problem liegt in Ihren Worten. Aber Probleme, die bloß erfühlt, nicht aber auch durchdacht sind, sollten vielleicht doch besser erst ein noli me tangere sein ...« Jetzt strahlte der Dichter. Die Leutseligkeit des Gegenüber verdroß ihn gar nicht. Er sprach (mit aller Bescheidenheit, deren er fähig war): » Das Geschlecht der Dichter, das da über die sogenannte rauhe Wirklichkeit den schönen Schein log (die Dichter lügen zuviel, sagte Nietzsche), dies Geschlecht der Dichter ist ausgestorben; sie sind alle dahin gegangen, daher sie waren und dahin sie gehörten, Erde zu Erde, Staub zu Staub. Des Geistes blieb von ihnen kein Fünkchen ... Verzeihen Sie gütigst, daß ich ein wenig aushole. Jetzt sind die Dichter an der Reihe, die nur wahr sein wollen. Aufgetan ist schon das Tor des Zeitalters, wo die Menschen sich gewöhnen, in »die Augen des Wirklichen« zu sehen ... ohne Angst. Über die Angst werde ich noch einiges sagen ... so notwendig ist das. Aber erst vom Problem. Was gewinnt Stimme im Dichter? Das Leid der Welt und die Sehnsucht. Und was meint die Sehnsucht? Die Schönheit. Aber nicht die, so da Lüge ist, nicht den »schönen Schein« und »Schleier« über alles Lebens Ungestaltete und Ungeformte und Ungeschlachte hingebreitet – sondern die Schönheit, die in des Lebens Höherbildung besteht. Die aber wird nicht erdacht, sondern erlebt und erfühlt. Das Erleben schließt alles Geistige in sich. Auch das Denken und Anschauen; wo bloß gedacht wird, vollzieht sich eine untergeordnete Beschäftigung von Menschen, die vielleicht etwas Besseres tun sollten.« – Hier erlaubte sich auch der Dichter eine kleine Kunstpause, obwohl er sonst gegen solche Künstlichkeiten war. Er wußte, daß jetzt alles auf ihn einstürzen würde. – Er fühlte richtiges Entzücken ...

Drei, vier der Herren sprachen zu ihm herüber ... Er hörte zu und sagte dann gelassen: »Bleiben wir bei dem Haupteinwand. Sie führen mir die Philosophen an. Bleiben wir bei Kant. Es ist ein Irrtum, wenn Sie meinen, der sei bloß denkendes Gehirn gewesen. Was Kant gestaltete, waren große Erlebnisse und Erschütterungen seines Innern. Er, wie jeder Philosoph, war so gut Dichter wie Denker. Er war die große Einheit. Keine Rechenmaschine, die rein logisch des Lebens Sinn ausrechnet ... Er hatte in sich die große Tragik derer, die ein Allumfassendes wollen, finden wollen, zur Erlösung der Menschheit und ihrer selbst.« –

»Das gibt es auch – das Allumfassende?« wurde ihm zugerufen.

»Gewiß«, antwortete der Dichter. »Nur ist es und kann es nicht sein ein »System der Philosophie« – denn wir wissen, wie das Leben souverän über alle Systeme hinwegschreitet. Das Einigende ist immer nur eins: Das Leben selber und die Liebe ... Und damit komme ich zum Anfang zurück ... Wir dürfen, wenn wir an der Zukunft bauen, nicht, niemals, genau, real, sagen (und können es auch gar nicht): so und so möge von nun fortan das Leben aussehen ... Wir sind doch keine Diktatoren, die das Leben kurzerhand umgestalten wollen! Wir vermöchten es dann auch nicht, wenn wir so wären. Sondern wir geben den Ton, auf den des Menschen Fühlen eingestimmt sein muß, an, uns zu gewährleisten, daß Schönheit des Seins wachse ...«

»Zu verschwommen«, tönte es ihm entgegen ...

Er lächelte. »Wie denn? Das Schmerzendste ist jedem Menschen die Einsamkeit. Ich meine nicht die Einsamkeit, die er immer wieder braucht, um zu sich selbst zu finden und in der er weiter wächst. Sondern die, in der er mit seinem besten Empfinden verlassen ist. Die schöne große Gemeinschaft braucht jeder Schaffende. Und jeder ist reicher, als er selber weiß. So viele Wurzeln sind ihm nun noch abgeschnitten, da er nicht herauskommen darf mit dem, was er meint, sehnt und möchte ... sei es im Guten oder im Schlimmen – – Wüßten wir doch erst einmal, was jeder möchte. Was wissen wir von der Geschlechterliebe? Vielleicht ist sie noch nicht so bald an der Reihe wie anderes. Vielleicht auch gerade sie. Aber das kann ja auf sich beruhen. Es gibt Menschen, die einsam sind von Natur und an einem Genüge haben. Ein Mann an einer Frau. Und umgekehrt. Aber es gibt die andern, die anders fühlen. Es gibt aber vor allem die, welche vor allem seelisch lieben, mit Einschluß der Erotik oder ohne Einschluß der Erotik ... Erst aber muß man doch einmal sehen, was alles da ist! Im übrigen denke ich, bleibt es dabei, daß dem viel vergeben werde, der viel geliebt hat.«

Plötzlich senkte er sein Haupt und sprach zu einem Herrn mit goldenem Kneifer hinüber: »Nein, das ist keine Blasphemie ... Nein! Nein! Wir wissen nur, so wir ehrlich sind: daß das Leben heute, wie es ist, so oft die Untreue bedingt. Während wir das Leben so denken möchten, daß es nur die Treue bedingt ... Wann?«

»Wenn Liebe und Schönheit frei werden?«

Das fragte eine helle Stimme aus der Ecke des Zimmers. »Eben dann,« sagte der Dichter, »nur meine ich die Freiheit, die sich gebunden fühlt bei einem jeden in ihm selbst: an die Güte des Herzens, an ein heiliges Mitfühlen, an das Bedürfnis, behutsam mit dem Herzen des andern zu sein. Jeder behutsam mit dem Herzen von einem jeden, auf daß keiner keinem wehe tue ... Ich rede mit Bewußtsein nicht von Pflicht, denn wie oft dies Wort der Vorwand gewesen ist, heiligste Rechte abseits fühlender Herzen zu erdrosseln, davon will ich auch nicht reden.«

*

Aber es kam, wie er's doch im Tiefsten geahnt hatte: das Gespräch verlief im Unfruchtbaren. In einer großen Wirrnis von Worten verknäuelte sich alles, was er klar und gut gefühlt hatte. So blieb bei den meisten eine Wildnis von guten und mißlichen Empfindungen ... Bis Charlotte die Rettung fand, an den Flügel ging und zu spielen begann, Chopin, ein paar Nocturnos, und dann Beethoven ... und da war alles hinweggespült, und es blieb nur das Erschauern.

So war der Dichter doch nicht mehr dazu gekommen, von der Angst zu sprechen. Als er aber hernach im Abend unter den Platanen stand, auf dem Kiesweg, gleich unter der Terrasse, im Kreis derer, die seinem Herzen schon etwas nähergekommen waren, fragte Inge auf einmal: »Sind Sie traurig?« Er sah sie an und wiegte das Haupt: »Traurig – kaum! Aber die Schwermut hat immer durch mein Leben geweht, doch ist sie eine Grundstimmung und folgt nicht aus dem einzelnen, zeitlichen Begebnis ... Freilich, wäre mein Leben anders gelaufen, von allem Anfang an, d. h. hätte ich früher vermocht, mich zu geben, wie ich war, hätten Menschen früher geglaubt an mich, hätte auch ich früher an mich geglaubt ... Aber mein Leben lief eben so, wie es lief ...«

Else sagte: »Wir hätten Ihnen wohl beistehen sollen ... Es ist wohl alles im unklaren geblieben.«

Er aber sprach: »Dies sagt mir ja, daß ihr mich gehört habt.« – Sein Blick glitt suchend über die weichen Frauengestalten hin. »Für die Männer bin ich – Narr, vielleicht ein weichlicher. Aber meine Stärke weiß – ich! – Vielleicht der junge Fabrikant und der Student wären imstande, mich zu finden, aber sie getrauen sich noch nicht. – Nicht wahr, es gab einmal die Klassik und gab Weimar ...? Das ist lange her ... Sehr lange. Aber was macht's? Und was war Weimar? Nichts, danach zu sehnen lohnte. War doch da auch ein jeder allein. Und zumal die Besten. Herder vor allen und Jean Paul ... Suchte doch jeder nur das Seine. Nein, es war kein Bund. Und so war letztlich auch keine Schönheit. Wir wollen kein neues Weimar ersehnen und auch keinen Jenaer Kreis. Hölderlin und Brentano gingen von da aus und endeten beide letztlich namenlos einsam. – Was wir ersehnen dürften, ist etwas Zarteres, aber auch Wirklicheres, etwas Schöneres, aber auch Stärkeres – –« Charlotte sagte: »Zeigen Sie es uns ... damit wir wissen, was Sie meinen.« Und Inge faßte leise seine Hand: »Ja, zeigen Sie es!« Und Gertrud, ihm gegenüberstehend, sagte auch: »Ja, sag alles; du quälst dich damit herum, bis in den Traum deiner Nächte, wenn ich dich manchmal belausche ...« »Tust du das?« fragte er sinnend. –

Und fuhr fort: »Aber ich kann nichts dazu, daß der Zweifel in mir ist. Könnten die Menschen, könntet ihr Armut der Seele und Verfremdung und Weltschwere auf euch nehmen? Ach, wer sagt, daß nicht immer wieder die Angst aufsteht? Angst vor den Menschen und dem Leben! Was nützt es euch, daß ich sage, alle Angst habe es nur mit Phantomen zu tun? Daß sie ein Nichts ist? Daß dort, wenn ihr hinübergetreten wäret, der große Frieden und die große Schönheit sein würden, und keine Angst dort mehr hinüberlangt ...? Was nützt es euch?« Inge sagte leise: »Ja, wenn wir glaubten ...«

Er neigte sein Gesicht. – »Ich bin müde und will viel Dunkel der Nacht auf mich decken, warm zu ruhen ...« Und wandte sich und ging. Seine Geliebte folgte ihm. Die andern blieben schweigend stehn. –

 

Gertrud faßte auf dem Heimweg seinen Arm und sagte: »Du verschwendest dich! Es ist alles zwecklos. Auch wissen sie vielleicht nicht, wohin du willst.« – »Ja, du hast ja ein Recht, so zu sprechen. Du bist anders als ich. Und magst vielleicht recht haben. Aber warum ertrag ich die Einsamkeit so schwer? Man ist ja auch zu zweien einsam. Man ist auch zu zweien noch viel uneins mit sich selbst.«

»Du bist es!«

»Ja, ich weiß, du weniger. Weil du um des Glückes willen mit mir alles andere, alles Leiden und alles In-sich-selbst-uneins-sein leicht erträgst. Warum brenn' ich denn nach Leben, nach der Musik des Reigens auf grünender Wiese?«

»Ich rate, mach das tot in dir – wirf deine Werke hinaus ins Namenlose und warte des übrigen.« –

»Ich hab mir das selber schon geraten. Wie oft! Wenn du aber es rätst, hör' ich doch nicht meine Stimme.« –

»Oh, nun wirst du bitter!« sagte sie und wandte sich ab.

»O nicht, nicht, es ist nur die Trauer«, sagte er und faßte ihre Hand. Sie kamen schweigend nach Haus.

*

Er hatte auf einen Abend den Studenten, den Fabrikanten, Ingeborg, Else, Charlotte, Magdalene, Thekla und Erika geladen; er wollte vorm Haus, unter den Birken, vorlesen. Aber es wurde nichts draus. Bis auf Thekla, Charlotte und den Studenten (der bat, jemand mitbringen zu dürfen) schrieben alle ab. Er wußte, daß er zu spät geladen hatte, daß das Abschreiben nicht Laune war; trotzdem blieb eine starke Bitterkeit in ihm. Gegen Abend des Tages kam noch ein Gewitter, das die beiden Damen auch noch verhinderte, zu kommen. Nur der Student kam mit einer bekannten Dame halb durchnäßt an. So ward es ein stiller Abend. Sie saßen im Zimmer, da es draußen noch zu naß war vom Regen. Die Bäume dufteten herein. Erst ging die Zeit mit Reden dahin; hinter seinen Worten gingen die Gedanken dem Unlösbaren nach: warum das Nichtstimmende und Trennende immer unter den Menschen sei ... Das Gespräch, dem Zusammenhang der Künste nachgehend, interessierte ihn nun zuletzt nur wenig, er fühlte ja unerschütterlich in sich, in der Einheit seiner Seele, wie dort aller Schönheit Urkeim sei – ob es nun die Töne seien oder der Bildausdruck – oder beides geeint in der Sprache, in der Dichtung – was also war noch zu sagen? Als aber der Student dann schön treuherzig und gleichwohl schüchtern ihn bat, doch etwas zu lesen – war ihm die eigene Stimmung unrecht, und er ging hin und holte die Verse, die mit einer großen Schwermut, aber auch in Frieden enden. – – –

 

Das Suchen blieb doch – die Nächte waren immer noch das Schwerste. Er mußte sich immer selbst beschwichtigen. Ein anderer hätte es doch schwer vermocht. Er fragte sich, ob es Herrschsucht sei, daß er die Menschen zu einem Rhythmus bringen oder zwingen wollte ... Und er glaubte doch zu finden, daß es tiefstes Sehnen in ihm sei. Und dann fragte Es in ihm: Willst du nur das Deine?! Und antwortete sich selbst: Das Meine und nicht das Meine! Das Meine, soweit es auch das der andern ist. Das ist meine Selbstsucht – ich will die höhere, vergeistigte Lebensform. Ich will den Geistmenschen, die intensivere Liebe, die verfeinerte Erotik. Ich will die Vertiefung des Glücks und die Erweiterung der Glücksmöglichkeiten des Menschen. Muß ich darum wie ein Bettler durchs Leben gehn? Und wenn ich das alles will, muß ich nicht selbst beginnen? – Und bin doch einer der Ausgeschlossensten – trotz aller Liebe, die ich oft nicht sah, und manchmal sah, und vor der ich hilflos stehe wie mit leeren Händen ... Warum das alles? Warum bin ich ungeschickt? Warum muß ich gleichwohl wollen? – Obwohl es Selbstsucht ist, will ich auch selbstsüchtig sein ... auf diese Weise, ja! –

 

Dann wieder ärgerte ihn alles Grübeln und Fragen und die schlaflosen Stunden der Nacht. Ich bin ein Idiot, sagte er zu sich; alles so wichtig zu nehmen, zu denken, anstatt bloß zu leben ... Und fand, daß alles Nachdenken zu nichts führe als nur zur Melancholie. Immer bloß leben und tun und schaffen! Aber die leeren Stunden kamen doch; und da versuchte er's, am Tag zu schlafen in solchen Stunden. Und das gelang. Aber es war nur eine halbe Erlösung.

An einem regengrauen Nachmittag lag er auch so; und in der Kühle dieses Tages war es süß zu schlafen. Gertrud war draußen im Wald; er hatte nicht mitgehen mögen, da er wirklich müde war von einer schlechten Nacht. Wäre ihm zu dieser Zeit in seinem Schaffen ein Neues, Großes gelungen, nach dem er suchte, etwa die monumentale epische Darstellung, so hätte es ihn ablenken können. Denn seine Arbeitsleistung litt unter dem Grübeln nur wenig. Aber dann fragte er schon wieder, wenn die Arbeit stockte: ist da ein Zusammenhang? zwischen dem Nichtfinden in der Kunst und dem Leben? – Aber dann sah er an, was er geleistet hatte, wie er die Sprache gemacht hatte zu dem, was sie in Urzeiten gewesen war: die Einheit von Plastik und Melodie, wußte, daß er, mit ganz wenigen andern, die Sprache aus der Versumpfung rettete. Noch war's nicht offenbar, aber dies mußte so offenbar und klar werden, wie der Tag unfehlbar kommt hinter der Nacht. Auch fand er manchmal, es möchte das Finden des Epos und danach des Dramas nur ruhig langsam angehn ... Denn da er metaphysisch so tief das Werden fühlte, mußte sein innerer Glaube sich ja von Zeit zu Zeit sozusagen automatisch wiederherstellen.

Er lag also und schlief und wurde durch heftiges Klopfen aufgestört. Er hörte Stimmen, ging schlaftrunken auf den Korridor hinaus und stand Gertrud und Ingeborg gegenüber; die lachte ihn, fast schien's, ein wenig ängstlich an; hinter ihr schaute das Gesicht ihrer ganz jungen Schwester hervor, die er ein paarmal schon gesehen hatte. Er lächelte und verschwand im Schlafzimmer und kam bald frisch mit hellen Augen wieder.

Die beiden Schwestern standen noch im Zimmer; Gertrud verschwand in der Küche. So standen die drei.

»Also da seid ihr«, sagte er ... und sah sie an. Trat dann auf das junge Mädchen zu und sagte: »Wie alt bist du?«

»Achtzehn!«

Er wandte sich an Ingeborg: »Jung! Wie? Selig jung? Aber klug, paß mal auf, ich tu eine Frage an sie ...«

»Hilde, du heißt doch Hilde –: ich glaube, du bist ein kluges Mädchen. Also hör', findest du's sonderbar, wenn ein Dichter lieben will, was schön ist in der Welt?«

Er hatte den Arm leicht auf ihre Schulter gelegt. Sie lächelte ihn schön und jung an. »Ich finde nichts selbstverständlicher als das!«

Er sah Ingeborg an, die wartete. –

»Und weiter, Kleines, daß ein Dichter manchmal wohl möchte, etwas Schönem auf die Hand oder die Wange oder aufs Haar küssen, auch auf den Wund –?« »Warum soll er nicht dürfen. – Ich denk mir, oder man könnte sich's so denken, dass der Künstler einen starken Verbrauch von Leben und Erinnerung in seinen Werken hat, daß er darum soviel suchen und sehen und lieben muß!«

Der Dichter antwortete nicht; er küßte das Mädchen ganz einfach auf Haar, Stirn und Mund ... Dann sagte er und lächelte: »Ich wußte, daß du ein kluges Kind bist. Aber bei der Ingeborg darf ich das nicht machen.«

»Davon weist ich nichts«, rief Hilde ... »Ich kenne zwar keine andern Dichter, aber ich glaube, sie sind alle so.«

Sie nahm sanft seinen Arm von ihrer Schulter, sprang aus dem Zimmer und war fort – in die Küche hinüber.

Der Dichter stand vor Ingeborg; sie hatte ein wenig die Hände gehoben, war's zur Abwehr, war's, um sie darzureichen?

»Ich wollte die indischen Sprüche mitbringen, die ich aus meinem Buch für Sie abschreiben wollte, aber ich habe vergessen ...«

»Ein andermal«, sagte er und kam noch einen Schritt näher. »Ist Kleinchen nicht lieb und klug?«

»Wenn ich Papier und Tinte und Feder bekäme, schrieb ich's gleich auf,« sagte Ingeborg eifrig, »ich weiß die Sprüche auswendig ...«

»Kannst du haben.« Er wendete kurz ab, an den Tisch, brachte Papier, Tinte und Feder und rückte einen Stuhl zurecht. Sie fing an zu schreiben; er schaute zu. Auf einmal warf sie die Feder hin: Ich kann die Verse doch nicht«, rief sie und lachte. »Er hatte gerade den Arm um ihren Hals gelegt, sie bog den Kopf zurück, sah ihn an – – da war das Meer, das Meer – Blick in Blick und 6esicht an Gesicht. – Wie ein Stürzen, Sinken und Sichhalten ... an ihrem Mund, Hals und Ruhen der Stirn auf atmender Brust ...

Bis er, wie von kühlem Regen aufwachend, fühlte: sie weinte. Leise glitt die Hand übers Haar. Aber sie schob ihn weg ... Stand auf und wollte gehen. – – – Und ging ...


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