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Von Charlotte Niese.
Lena Suhr machte Sonntag morgen ihr Häuschen rein. Das war keine Sonntagsbeschäftigung; wenn man aber die ganze Woche bei anderen Leuten putzt und scheuert, dann muß man Sonntag früh ein wenig an die eigene Reinlichkeit denken.
Nebenbei war es herrliches warmes Wetter, und die paar Stühle, der Tisch und der Tassenschrank, die Lena zuerst mit einem nassen Tuch abwischte und dann in ihr Gärtchen zum Lüften und Trocknen stellte, die brauchten den Leuten, die eine Sonntagstour machten, die Freude nicht zu verderben. – Der erste Stader Dampfer war nämlich schon von Hamburg nach Blankenese gekommen, und eine ganze Schar von großen und kleinen Leuten spazierte die engen und hügeligen Straßen Blankeneses hinauf. Auch bei Lene Suhrs Haus gingen die Sonntagsausflügler vorüber; niemand aber sah viel nach ihr hin, noch nach ihrem Hausgerät. Denn sie war eine ältliche Person mit verarbeiteten Zügen, und ihre Möbel waren gleichfalls alt und viel gebraucht.
Nur Isidor Loeb vom alten Steinweg blieb vor ihrem Gärtchen stehen, wischte sich die Stirn und richtete seine runden Augen auf die blaue Spülkumme, die in Lenas offenem Fenster stand. Sie hatte eben ihren Kaffee daraus getrunken, und ein Rest war noch darin. Isidor Loeb war der Sohn vom alten Simon und ebenso klug wie sein Vater.
»Was kostet der Tassenschrank?« fragte er wohlwollend.
Lena Suhr sah überrascht in die Höhe. Sie stand gerade vor ihrem Tassenschrank, dessen eines Bein lose geworden war, und hatte entdeckt, daß der Holzwurm ein großes Loch in die Tür gebohrt hatte. Der ganze kleine Schrank, der ein Bort über der Tür und eins darunter hatte, war morsch und wacklig.
Herr Loeb trat zu ihr in das kleine Vordergärtchen, starrte noch einmal ins Fenster und strich mit dem Finger über die aufgesprungene Politur des Schränkchens.
»Ich will Ihnen bezahlen fünf Mark für den Schrank, und die kleine Schale, die im Fenster steht, die geben Sie auf zu!«
Langsam schüttelte Lena den Kopf. Nicht darum, weil sie nein sagen wollte, sondern weil sie sich so sehr wunderte. Aber Herr Isidor verstand diese Bewegung falsch. Er wollte noch auf dem Bismarckstein auf dem Süllberg Kaffee trinken und dann langsam nach Schulau gehen. Also hatte er Eile.
»Nu, da sage ich zehn Mark für den Tassenschrank, und wenn ich heute abend wieder vorbei komme, dann hole ich ihn mir ab, die kleine Schale setzen wir hinein in das Schränkchen!«
Er grüßte kurz und ging weiter.
Lena Suhr sagte nichts, und ihre Gedanken waren verworren. Mit dem Reinmachen war sie fertig; sie setzte ihre Möbel wieder ins Haus, zog sich zur Kirche an und saß schon im Gotteshaus, als die Glocken anfingen zu läuten. Das war so ihre Gewohnheit, und sie wich auch heute nicht davon ab, obgleich sie sich erschrocken hatte.
Neben ihr nahm Anna Habermann Platz, die ein wenig übernächtig aussah. Was ganz natürlich war, denn im Krögerschen Gasthof war am Abend vorher Ball gewesen, und Anna hatte bis sieben Uhr morgens Teller und Gläser aufgewaschen.
Als sie ruhig in der Kirche war, schlief sie auch gleich fest ein, und Lena mußte allein singen und nachher auf die Predigt hören. Aber sie tat es nicht so andächtig wie sonst. Sie mußte an ihren Tassenschrank und daran denken, daß ihre Mutter ihn von den alten Lorenzens geschenkt erhalten hatte. Damals, als Lorenzens in das neue Haus zogen und ihre alten Möbel verschenkten oder verkauften. Mutter Suhr hatte sich niemals viel aus dem alten Schrank gemacht. »Das is man Bodenrummel,« hatte sie oft gesagt. »Abers Feuer anmachen kann man ja noch immer mit ihm!«
Als sie starb und Lena und ihre beiden Brüder Krischan und Friedrich zur Erbteilung schritten, da behielt Lena den Tassenschrank. Gerade so, wie sie auch in der alten Kate weiter wohnen durfte, obgleich sie Krischan und Friedrich ebenfalls gehörte. Aber Krischan hatte sich ja in die kleine Bauernstelle nach Othmarschen eingeheiratet, und Friedrich hatte einen Grünkeller in Hamburg. Das Häuschen in Blankenese durfte Lena weiter bewohnen, und sie zahlte jedem Bruder ein paar Mark Miete. Und der Tassenschrank –
Da brauste die Orgel durch die Kirche, und die Kirchgänger erhoben sich alle. Der Gottesdienst war beendet, und Lena Suhr schämte sich nicht wenig, weil sie fast gar nichts von ihm gehört hatte.
»Allens von wegen dem Tassenschrank,« klagte sie Anna Habermann, die natürlich auch wach geworden war, und nun mit ihr zusammen die Kirchenstraße entlang ging. »Da will mich ein Jude zehn Mark for geben, und ich weiß nich, was es bedeuten soll!« Anna Habermann blieb stehen und war hell wach geworden.
»Zehn Mark für den Tassenschrank? Lena, Lena, lat di nich ansmeeren!«
»Wo so denn?« Und Lena blieb stehen.
»Mein besten Deern,« Anna klopfte sie auf den Rücken. »Da verstehst du natürliche Weise nix von; abersten wo ich in Krögers Gasthof verkehr, ich weiß es genau. All die feinen Herrschaften wollen alte Möbelns kaufen, und denn wollen sie uns ansmieren. Dein Tassenschrank is natürliche Weise an die fünfhunnert Mark wert. Is nich so, Herr Braasch?«
Und Anna Habermann wandte sich an Peter Braasch, der früher Omnibuskutscher gewesen war, und der niemals mit der Eisenbahn fuhr, weil er sie nicht ausstehen konnte. Peter Braasch war ein alter Mann und sehr unzufrieden mit der Welt. Besonders mit den Leuten, die aus seinem stillen Blankenese einen feinen, teuren Ort mit einer Elektrischen und einer Eisenbahn gemacht hatten. Als er von dem Tassenschrank und von dem Herrn hörte, der zehn Mark dafür geboten hatte, hob er warnend den Finger und sagte dasselbe wie Anna Habermann:
»Deern, Deern, lat di nich ansmeeren! Fifhunnert Mark is dat wenigste! Ick würd seggen achhunnert. All die feinen Lüd, de sind Bedrögers!«
Es dauerte wohl zwei Stunden, ehe Lena wieder nach Haus kam, denn Anna hatte jedem Begegnenden von ihrem Tassenschrank und davon erzählt, daß einer aus Hamburg sie anschmieren wollte, und alle, die diese Geschichte gehört hatten, waren einstimmig in ihrem Rat gewesen: Unter tausend Mark dürfte Lena den Tassenschrank nicht hergeben.
Lena war schwindelig, als sie in ihr Stübchen trat, und es war gut, daß sie im Tassenschrank ihre Baldriantropfen verwahrte. Sie nahm gleich eine tüchtige Portion, fühlte sich wohler, kochte sich ihre Suppe und konnte, als Herr Isidor Loeb am späten Nachmittag bei ihr eintrat, das sagen, was sie sagen mußte.
»Meine besten Herren, unter tausend Mark kann ich den Tassenschrank wahrhaftigen Gott nich hergeben. Was Herr Peter Braasch is, der sehr viel davon versteht, der sagt, ich kann da noch viel mehr for kriegen. Weil daß er so gräsig alt is, und denn ein Erbstück von die Familie Lorenzen. Sie kriegen ihm billig, werter Herr!«
Aber Herr Loeb, der mit weit aufgerissenen Augen vor Lena gestanden hatte, lachte nur kurz auf und ging aus der Tür, ohne ein Wort zu erwidern. »Was'n Kerl!« Lena ärgerte sich über ihn. Wo sie so billig hatte sein wollen. Aber so waren die feinen Leute! Die wollen immer einen greulichen Profit haben und den Armen nichts lassen. Aber es war ja einerlei; die tausend Mark für den Tassenschrank waren ihr sicher.
Lena schlief schlecht in dieser Nacht. Ihr Haustürschloß war in Unordnung, und es kam ihr immer vor, als kämen die Diebe zu ihr, um den Tassenschrank zu stehlen. Sonst hatte sie niemals an Diebe gedacht; aber sie wußte ja auch nicht, wieviel der Schrank wert war. Fünfmal stand sie auf, um im Wohnzimmer nachzusehen, und als sie am andern Morgen verwacht und müde auf die Arbeit ging, da machte sie einen Umweg, um beim feinsten Schlosser ein neues Haustürschloß zu bestellen.
»Patentschloß?« fragte der Mann.
»Nu, natürlicherweise,« lautete die ärgerliche Erwiderung, und sie ging davon, ohne nach dem Preise zu fragen. Sie war überhaupt schon spät zu Gange, und die Frau vom Krämer, bei der sie den Laden rein machen sollte, empfing sie mit einem Verweis. Lena wurde böse.
»Wenn ich es nich zu Dank mach, Madamm, dann können Sie sich ja nach einer andern Scheuerfrau umsehen. Ich brauch mir nix gefallen zu lassen!«
Die Frau lenkte ein; Lena war gut und arbeitsam gewesen; sie wollte nicht gleich wechseln; aber nachdem Lena noch ihren Mittag eingenommen hatte, kündigte sie doch die Arbeit.
»Ich muß mir um mein eigen Angelegenheiten bekümmern, Madamm, ich kann nich viel von zu Haus weg!«
Ihr war nämlich eingefallen, daß die Diebe noch leichter am Tage in ihr leeres Haus eindringen und den Tassenschrank stehlen konnten, als des Nachts, wenn sie doch darin war.
So also saß Lena Suhr diesen und den andern Tag fest zu Haus. Sie verdiente ja nichts, aber was schadete das? Zweitausend Mark mußte sie haben; Anna Habermann, die sie täglich besuchte, bestärkte sie in dieser Forderung, und zwei Herren aus Blankenese waren auch schon an ihrer Tür gewesen, weil sie von dem Tassenschrank gehört hatten und ihn besehen wollten.
Aber Anna, die gerade da war, ließ sie nicht ins Haus, »weil sie dir sicherlich auch ansmieren wollen!« sagte sie zu Lena, die mit ausgebreiteten Armen vor ihrem Schränkchen stand. »Ich kenn sowas von Kröger her. Die wollen dir im Preis drücken. Ne, laß es dich nich gefallen!«
So also saß Lena meistens allein mit ihrem Tassenschrank, dachte darüber nach, ob sie ihn für tausend oder vielleicht fünfzehnhundert Mark hergeben müßte, und freute sich, als der Schlosser das Patentschloß an ihre Tür legte. Es kostete zwanzig Mark, und sie erschrak beinahe, aber dann nahm sie sich vor, die zwanzig Mark auf den Schrank zuzuschlagen.
Das passierte am Montag und Dienstag; Mittwoch trat Krischan Suhr, ihr Bruder aus Othmarschen, bei ihr ein, und hinter ihm her kam seine Frau Christel. Sie hatte die kleine Landstelle gehabt, und deshalb hatte sie das Wort in der Ehe. Um Lene bekümmerte sie sich sonst wenig; aber bei der Schlächterei erhielt die Schwägerin immer eine Blutwurst und ein Stück Preßkopf.
»Tag, Lena,« sagte sie jetzt. »Wir wollten den Tassenschrank abholen. Nich, Krischan?«
Krischan, der nie viel sagte und nur Sonntags manchmal einen über den Durst trank, nickte.
»Den Tassenschrank?« Lena sah ungläubig von Krischan zu Christel. »Den hab ich geerbt!«
»Nee, mein Beste!« Christel lachte und setzte sich fest auf einen Holzstuhl. »Den hat Krischan geerbt. Mutter hat noch gesagt: Krischan, was hat sie noch gesagt?«
Der also Angerufene räusperte sich. »Ehe Mutter tot blieb, hat sie noch gesagt« – er hielt inne, und seine Frau vollendete den Satz.
»Krischan soll den Schrank haben!«
»Damit hat sie den Leinenschrank gemeint!« rief Lena. »Und den hat Krischan gekriegt!«
»Is nich wahr! Den Tassenschrank hat sie gemeint, weil Krischan der Älteste is und das Beste haben mußt. Nich, Krischan?«
Aber Lena schlug auf den Tisch. »Mich gehört der Schrank, und ich geb' ihm nich her!«
»Was? Und willst ganz alleinig fünftausend Mark for den Schrank einnehmen?« Frau Suhrs Stimme zitterte vor Erregung. »Du? So'n alte Jumfer mit kein Kind und nix? Und denn noch unrecht Gut, was dein Bruder Krischan gehört?«
»Fünftausend Mark is mich noch nich geboten!« entgegnete Lena. Auch ihre Stimme zitterte, und ihre Glieder flogen. »Und wenn ich auch ein alte Jumfer bin, so hätt ich mehr als einen Mann kriegen können, bloß daß ich es nich wollte. Und ein von die Männers war dein leibhaftigen Vaterbruder!«
»Nich an zu denken!« schrie Christel.
Dann schalten sich die beiden Frauen und gaben sich die bösesten Worte, während Krischan ganz still in der Ecke saß und sich den Kopf kratzte.
Aber wenn Frau Christel eine schrille Stimme hatte, so war Lena noch schärfer. Nach einer halben Stunde saß sie allein vor ihrem Tassenschrank, während Krischan und Christel zum Rechtsanwalt nach Altona fuhren, weil ihnen der Tassenschrank gehörte und sie ihn ganz gewiß haben wollten.
Also ein Prozeß? Lena nickte trotzig. Sie hatte sich immer einen kleinen Prozeß gewünscht, nun konnte es ja losgehen. Die Blutwurst und den Preßkopf bekam sie wohl niemals wieder, aber dafür hatte sie denn fünftausend Mark. Dafür konnte man viel kaufen. Und ehrfurchtsvoll sah Lena den kleinen braunen, zittrigen Tassenschrank an, der so viel Geld wert war, und dem sie viele Jahre hindurch beim Reinmachen manchen Stoß versetzt hatte.
Am andern Morgen ging Lena auf die Sparkasse. Dort hatte sie ein paar Mark stehen, und sie war sparsam mit dem Gelde umgegangen, weil die Krankheit ja einmal kommen konnte und niemand wußte, wie es dann würde.
Nun nahm Lena ohne weiteres zwölf Mark von der kleinen ersparten Summe. Sie mußte doch leben, und das im Tagelohnarbeiten konnte sie doch nicht mehr.
Als sie wieder nach Haus kam, stand ihr Bruder Friedrich vor der ängstlich verschlossenen Haustür. Derselbe, der den Grünkeller in Hamburg und fünf Kinder hatte. Er war ein ruhiger Mann, und Lena hatte ihn immer recht lieb gehabt; aber heute ärgerte sie sich über seinen Anblick.
»Was willst hier?« fuhr sie ihn an. »Dem Tassenschrank? Du kriegst ihm nich! Der gehört mich ganzen allein, und wenn Krischan und Christel da einen Prozeß um führen wollen, so kann ich beschwören –«
»Gott, Lena, reg dir man nich auf!« sagte Friedrich gemütlich.
Seine Schwester hatte die Tür mit dem Patentschlüssel geöffnet; er trat in das kleine Wohnzimmer und warf einen neugierigen Blick auf den Tassenschrank.
»Reg dir man nich auf!« wiederholte er, während er sich setzte. »Ich will dem Tassenschrank nicht; der gehört dich und kann dich bleiben. Und wenn du da hunnerttausend Mark for kriegst, so soll es mich recht sein.«
»Was willst denn?« fragte Lena mißtrauisch. Ihr Bruder Friedrich zog sein blaues Taschentuch heraus und putzte sich umständlich die Nase.
»Mensch, bedenke das Ende!« sagte er mit feierlicher Betonung.
»Wo so denn?«
Über Lena kam ein unheimliches Gefühl; aber Friedrich sah sie ernsthaft an.
»Du bist all immer fledig gewesen, mein Lena, und Mutter hat ümmer gesagt, Lena, die kriegen wir nich groß. Und wenn sie groß wird, dann wird sie doch immer man kümmerlich bleiben und mit einmal kann sie tot sein. Das hat Mutter gesagt, Lena, und darum mein ich man bloß, daß du dein Testament bedenken sollst. Denn wenn du erst auf'n Totenbett liegst, denn is es nix mit'n Schreiben, und dein Unnerschrift mußt du doch geben. Und daß du bei meinen ältesten Jungen Gevatter gestanden hast, das weißt doch noch. Er wird nu Ostern verkonfermiert, und ich denk, daß Blohm und Voß ihm nehmen. Und mein zweiten Jungen soll gern zum Krämer, und die kleen Deern, die dann kommt –«
Lena unterbrach ihn, obgleich sie kaum vor Weinen sprechen konnte.
»Ich will ihnen bedenken, Friedrich, bloß daß ich noch ein büschen warten möcht. Weil daß ich wirklich ganzen gut bin und ich ja auch noch nich das Geld for den Schrank hab. Wenn ich das krieg –« sie holte tief Atem, und ihr Bruder klopfte sie auf die Schulter.
»Nu ja, nu ja! Drängen mag ich nich, und wenn du auch furchtbar slecht aussiehst, so kann es ja doch sein, daß du es noch bis Weihnachten machst. Abersten wenn du erst liegst, dann is es ein büschen spät, und ich wollt es man bloß sagen.«
Dann sprach er von andern Dingen und war wirklich so freundlich, daß Lena ihm Kaffee gab und einen Augenblick vergnügt wurde. Als er aber gegangen war und beim Abschied noch ein ernstes Wort über Sterben und Erben gesagt hatte, da war es mit Lenas Kraft zu Ende. Sie kroch in ihr Bett, fühlte Stiche im ganzen Körper und war so krank, daß sie sich wunderte, noch zu leben. Friedrich hatte ganz recht. Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie könnte nicht alt werden. Und nun war sie zweiundfünfzig; nun kam das Ende, Tod und Begräbnis.
Sie setzte sich aufrecht hin und starrte zu dem Tassenschrank hinüber, der regungslos in seiner Ecke stand. Wenn sie nur gewußt hätte, wieviel sie dafür bekäme, ob fünf- oder zehntausend, dann würde sie ruhiger sterben.
Aber niemand sagte es ihr, und am andern Morgen lebte sie noch, versuchte aufzustehen, und der Kaffee aus ihrer blauen Kumme schmeckte nicht allzu schlecht. Am liebsten wäre sie zu ihrer Krämerfrau gegangen, hätte den Laden gescheuert und ein bißchen Neues gehört. Aber den Dienst hatte sie ja aufgesagt, und wenn man einen Tassenschrank hat, der viele Tausende wert ist, dann darf man nicht fremde Fußböden scheuern.
Also ging Lena ein wenig im Hirschpark spazieren, atmete die schöne, frische Luft, betrachtete die Bäume und die vielen Blumen und weinte von neuem. Denn sie wurde wieder schwach und mußte an ihren Tod und ihr Testament denken.
Mühsam ging sie heim, und als sie vor ihrem Haus anlangte, blieb sie erstarrt stehen. Die Tür mit dem Patentschloß war verschlossen, aber aus dem eingedrückten Fenster blickte Christel, ihre Schwägerin. »Krischan is mit den Tassenschrank weg, weil daß er ihm gehört,« sagte sie mit ihrer schrillen Stimme; »un wir haben ihn aus die Hoftür gekriegt. Ich abers bin hier geblieben, weil ich es dich sagen wollt. Denn wir sind for Gerechtigkeit und for allens, wie es sich gehört.«
Lena sagte nichts. Sie schloß die Tür auf, ließ Christel hinausgehen und saß dann allein in ihrem Wohnzimmer. Die Ecke, wo der Tassenschrank gestanden hatte, war leer, nur eine Kreuzspinne saß an der Wand und begann ein Netz zu arbeiten. In der Ferne tuteten die Dampfschiffe, ein Sonnenstrahl stahl sich in das zerbrochene Fenster, und die offene Haustür knarrte leise. Lena wollte aufstehen und sie schließen. Da fiel ihr Blick auf die leere Ecke, wo der Tassenschrank gestanden hatte, und sie setzte sich wieder fest hin.
»Zum wenigsten brauch ich kein Patentschloß mehr!« sagte sie mit einem erleichterten Seufzer, der auch dem Gefühl galt, daß sie plötzlich keine Stiche mehr in der Brust fühlte.
Es war vierzehn Tage später, und Herr Isidor Loeb machte wieder eine Fahrt nach Blankenese. Dieses Mal an einem Sonnabendnachmittag, und als er an Lena Suhrs Hause vorüber kam, blieb er stehen und sah in ihren Garten. Lena saß vorm Haus und trank Kaffee aus ihrer blauen Schale. Sie hatte ein frisches Ansehen und konnte weder über Appetitlosigkeit noch über schlaflose Nächte klagen. Mit der Krämersfrau hatte sie sich wieder ausgesöhnt, und weil sie doch etwas berühmt wegen ihres Tassenschranks geworden war, so hatte sie zwei neue Reinmachstellen erhalten.
»Guten Tag, liebe Frau!« sagte Herr Isidor. Aber Lena warf ihm einen unfreundlichen Blick zu.
»Bleiben Sie mich man vom Leib! Dem Tassenschrank hab ich nich mehr; is mich genommen worden. Gehn Sie man weg!«
»Wo is er geblieben?« fragte Isidor, dennoch in den Garten tretend.
»Wo er geblieben is? Ja, das möchten Sie auch woll wissen. Erstens hat ihm mein Bruder Krischan aus Othmarschen genommen, weil er sagte, er hörte ihn zu, was nich wahr war. Abersten er hatt ihm geholt und hatt ihm auf'n schottsche Karre nach Altna gefahren zu'n Museum.«
»Nun?« fragte Herr Loeb, als Lena einen Schluck Kaffee nahm.
»Ja, was die Leute da sind, die verstehn da woll garnix von. Als Krischan da fünftausend Mark for haben will, da haben sie so gräsig gelacht, daß es reinemang arg gewesen is. Und da is er denn mit'n Schrank nach Hamburg gefahren, was er man gleich hätt tun sollen, weil daß die Hamborgers doch mehr Geld haben als die Altnaers. Abers wie er nu sagt, er wollt zehntausend haben, denn die Hamborgers müssen doch mehr geben, als die Altnaers, da haben die ins Maseum auch das Grienen gekriegt. Und weil Krischan nu allmählich duhn geworden is, und auch natürlich doll; denn das is ein bannig langen Weg bis in das Maseum, da hat er ja woll Streit gekriegt. Ich glaub mit ein paar Jungens von die Gewerbeschule, die den Tassenschrank auf die schottische Karre gesehen und über ihm was gesagt haben. Er hat ihnen geprügelt, und sie haben ihm geslagen. Und denn is die Karre umgekippt und der Tassenschrank in tausend Stücken. Und denn is der Pollerzei gekommen, und weil von die Jungens Krischan mit'n Bein von den Tassenschrank an den Kopp gehauen hat, so hat der Doktor ihm verbinden müssen, und er liegt noch im Bett. Und ich bin hin nach Othmarschen gewesen von wegen die christliche Vergebung, und Christel und ich sind nu wieder gut!«
»Dann ist der Tassenschrank verschwunden?« fragte Herr Loeb, der aufmerksam zugehört hatte.
Lena nickte. »Der is weg. In tausend Stücke und die Jungens an den Steintor haben da Feuer mit angemacht. Fünftausend Mark war er wert; abers kein ein hat da was vor geben wollen. Und ich muß noch mein Patentschloß bezahlen, und zwölf Mark hab ich von die Sparkasse genommen, und allens, weil Sie hier vorbeigekommen sind. Sonsten hätt ich mein Tassenschrank noch.«
Herr Isidor räusperte sich teilnehmend. »Ich bedaure aufrichtig, werte Frau, wahrhaftig, es tut mir herzlich leid! Denn böse hab ich's nicht gemeint, und wenn Sie wollen nehmen zwanzig Mark für die blaue Kaffeeschale, so will ich sie herzlich gern geben!«
Zweifelnd sah Lena in seine runden Augen. Aus der blauen Schale hatte sie Kaffee getrunken, solange sie denken konnte. Schon um die Tasse mit dem Goldrand zu schonen, auf der »Ich gratuliere« stand, und die auf ihrer Kommode prunkte.
Aber Herr Isidor legte ihr wahrlich zwanzig Mark auf den Tisch, ließ sich die blaue Schale spülen und in Zeitungspapier wickeln und ging mit so freundlichem Gruß davon, daß Lena ihm gerührt nachsah. Nun konnte sie doch ihr Patentschloß bezahlen, das sie allerdings nicht mehr brauchte.
»Denn hev ick ansmeert!« sagte sie am nächsten Abend zu Anna Habermann, mit der sie zusammen bei Kröger die Bierseidel spülte. Dann berichtete sie, wieviel sie für ihre Schale erhalten hatte, und Anna hörte ihr etwas neidisch zu. Aber sie gönnte Lena doch etwas Gutes nach dem Erlebnis mit dem Tassenschrank und meinte endlich:
»Ja, ja, ansmeeren is ümmer dat best, un ick gönn dat de ohl Hamburgers!«
Vom Tassenschrank wird nicht mehr gesprochen. Lena hat sich mit Krischan und Christel versöhnt, und zum Herbst wird sie wohl Blutwurst und Preßkopf erhalten, während Bruder Friedrich sich freut, daß er »da gar nicht mit zwischen« gewesen ist. Nur Peter Braasch erzählt den Fremden in Blankenese eine Geschichte von einem Tassenschrank, der hunderttausend Mark gekostet haben soll. Aber er weiß sie nicht ganz genau, und der Tassenschrank ist ja auch nirgends zu finden.
Aber Lenas blaue Kaffeeschale aus ganz altem englischen Porzellan ist vorige Woche für achthundert Mark nach Antwerpen verkauft worden. Ich bitte aber sehr, daß niemand es Lena Suhr erzählt.