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Von John William Nylander.
Es war ein herrlicher Trockentag, blendender Sonnenschein und eine schwache Brise. Meine Wäsche, die ich morgens aufgehängt hatte, war längst trocken, als unsere Wache um Mittag wieder auf Deck kam. Ich konnte sie gleich abnehmen und setzte mich nun im Schatten der Schanzbekleidung, um meine Kleider nachzusehen, ehe ich sie rollte.
Und nötig genug schien es zu sein, hier fehlte ein Knopf, da war ein Knopfloch zu seiner doppelten Größe aufgerissen, und dazu das ewige Strümpfestopfen!
»Zu Hause macht man sich's doch nie recht klar, wie bequem man es da hat,« sagte ich, zu Big Charley gewendet, der mit der Pfeife in der Mundecke neben mir saß und ein großkariertes Wollhemd flickte. »Ich glaube nicht einmal, daß ich mich zu bedanken pflegte, wenn Mutter oder eine der Schwestern mit einem Arm voll frisch gebügelter Wäsche und gestopfter Strümpfe hereinkam.«
»Aber wie man auch alles zerreißt!« sagte Big Charley. »Das merkt man erst so recht, wenn man selbst waschen und flicken muß. Hier, sieh nur dieses Elend an! Das Hemd habe ich erst vor ein paar Monaten in Montevideo gekauft, und nun sind die Ellenbogen schon durchsichtig wie ein Moskitonetz. Da hilft nichts weiter, ich muß einen Flicken aufsetzen. Darf ich deine Schere leihen?«
»Hier in der Nähtasche ist sie,« sagte ich und stieß ihm die Tasche mit dem Fuße hin.
Big Charleys große, plumpe Finger gruben vergeblich nach der Schere.
»Schütte die ganze Tasche auf den Boden aus,« sagte ich, »die Schere muß drin sein.«
Garnrollen, Nähnadelbriefe, Wollknäuel, Band, kleine Säckchen mit Knöpfen und Haken, Wachsstückchen und ein Pfriem fielen zusammen mit der Schere und einem kleinen Buch auf den Boden.
»Nein, aber dies ist wahrhaftig das Vollendetste, was mir jemals in Nähangelegenheiten vorgekommen ist, das reine Nähmuseum!« rief Big Charley. »Wie bist du dran gekommen?«
»Das sage ich nicht,« entgegnete ich scherzend. Die Lache war aber einfach die, daß ich die Tasche bei einer Weihnachtsfeier in Pastor Nickersons Seemannskirche in Boston vor drei Monaten geschenkt bekommen hatte.
»Bildest dir wohl ordentlich was drauf ein,« sagte Big Charley. – »Halt, hier gibt's ja ein schriftliches Dokument. Ja so! ›Madolin Saunders. Andover, Mass.‹ Hohoh! wie alt ist sie?«
»Was redest du für Unsinn,« fuhr ich auf. »Ich sage dir ja, ich bekam die Tasche bei Pastor Nickerson in der Hannover Street.«
»Aber du willst mir doch nicht weismachen, daß der alte Nick selbst die Tasche genäht und all die Sachen hineingelegt und diesen Liebesbrief geschrieben hat?«
»Was für einen Liebesbrief?« fragte ich und sah vom Strumpfstopfen auf.
»Hier diesen, der im Buche lag. Uber es hat wohl keine Gefahr damit, weil er offen drin liegt.« Big Charley saß da und starrte auf das Papier.
»Her damit, Charley! Lag er wirklich im Buche?«
»Sei nicht kindisch,« sagte er, – »als ob unsereins so etwas nicht auch kennte.«
Aufgeregt nahm ich den Brief, ein kleines, dünnes Blättchen, in derselben Größe zusammengefaltet wie das Neue Testament, in dem er lag. Das Buch hatte ich in der Tasche bekommen, und wenigstens zehnmal schon hatte ich es in der Hand gehabt, vielleicht auch geöffnet. Es war doch wirklich ärgerlich, daß der Brief erst heute zutage kommen sollte! Mit großen, kindlichen Buchstaben, ausgestattet mit allerlei Schnörkeln, war da auf dem feinen Papier folgendes geschrieben:
Andover, Mass., 12. Dez.
Mein lieber Seemann!
Ich weiß nicht, wer diese Nähtasche bekommen und diesen Brief lesen wird, aber ich dachte, wenn ich ihn in das Buch legte, so würden Sie ihn vielleicht beantworten. Ich hoffe, daß diese kleine Gabe Ihnen nützlich sein wird, und wünsche, daß Sie, jedesmal wenn Sie etwas von dem Nähzeug brauchen, an diejenige denken, die die Tasche genäht und diesen Brief geschrieben hat. Ich wünsche auch, daß Sie immer schönes Wetter haben mögen, wenn Sie draußen auf der See sind.
Ich verbleibe Ihre ergebene Freundin
Madolin Saunders.
P. S. Schreiben Sie recht bald!
Ich las den Brief zweimal leise für mich und einmal laut für Big Charley, und dann lasen wir ihn noch einmal gemeinsam. In gewisser Weise hatten wir ja beide Teil daran. »Schreiben Sie bald!« wiederholte ich ihr Postskriptum. »Das ist ja hübsch! Der Brief ist bereits vier Monate alt!«
»Ja, jedenfalls bekommt sie eine großartige Meinung von deinem Christentum. Aber wissen möchte ich doch, wer sie ist!« sagte Big Charley.
Joe, der oben im Vortopp gewesen war, um die Gordingen zu überholen, sprang mit einem Satz von der Reling herunter vor uns hin. »Was habt ihr denn eigentlich vor?« fragte er neugierig.
Am liebsten hätte ich den Brief gar nicht gezeigt, denn es gibt ja Dinge, die man lieber für sich behält, aber Big Charley reichte ihn schon an Joe.
»Kannst du's für möglich halten, Joe, daß der Finnländer hier mitten auf dem Atlantique einen Brief von einer Dame bekommen hat?«
Joe setzte sich, zog den Schirm seiner Mütze über die Augen und las nachdenklich. »Hast du geantwortet?« fragte er.
»Ach was, ich sage dir ja, daß er ihn eben bekommen hat,« entgegnete Big Charley und erzählte, wie er den Brief gefunden hatte. »Ich glaube bestimmt, daß er von einer feinen Dame ist,« fügte er hinzu.
»Ja, ist schon möglich,« meinte Joe. »Vielleicht von einem Ladenfräulein. Ich war auch einmal mit einer bekannt in Frisco, die hatte fast die gleiche Handschrift und ganz dieselbe Sorte Papier.«
»Ein ordentliches Mädchen ist's auf alle Fälle,« unterbrach ihn Big Charley. »Andere schicken nicht so etwas für die Seeleute zu Weihnachten. Und Antwort muß sie haben, das ist klar.«
»Hätte ich nur eine bessere Handschrift, so wollte ich dir verteufelt gern dabei helfen,« sagte Joe. »Das Ausdenken könnte ich schon. Bitte doch den Steward, der schreibt wie ein Schulmeister. Ich habe es letzten Sonntag gesehen, wie er am Tische in der Kambüse einen Brief schrieb. Die Feder flog nur so.«
Sobald wir mit unseren Kleidern in Ordnung waren, holte ich meine Schreibutensilien, und gemeinsam verfaßten Big Charley und ich den Brief. Joe war am Steuerruder, so waren wir vor ihm sicher. Der alte Brown saß ein Eckchen von uns entfernt und besohlte, leise vor sich hinsingend, ein Paar Schuhe. Peter schlief, ein aufgeschlagenes Buch über das Gesicht gedeckt, so lang er war auf der Vorluke, und unter der Back saß Göranson und übte sich mit lobenswertem Eifer auf der Harmonika. Aber etwas Unmelodischeres als diese Übungen habe ich im Leben nicht wieder gehört.
»Das beste wird's sein, gleich zu sagen, warum die Antwort so spät kommt,« meinte Big Charley. »Und wenn du willst, kannst du ja bemerken, daß ich es war, der den Brief fand.«
Aufmerksam verfolgte er jedes Wort, das ich schrieb, nickte Beifall und nahm zwischendurch die Pfeife aus dem Munde, um, ebenso wie ich, über die Fortsetzung nachzugrübeln.
»An Bord des Southern Croß,
Süd-Atlantik, 23. April 18–
Liebes Fräulein Saunders!
Erst heute fand ich Ihren freundlichen Brief, eingelegt in das Neue Testament aus der Nähtasche, die ich Weihnachten bei dem Feste in Pastor Nickersons Seamens Chapel erhielt. Big Charley, einer von meinen Schiffskameraden, bat mich, ihm meine Schere zu leihen – es ist eine gute Schere, tausend Dank dafür, wie alles andere in der Tasche – und als er die Tasche ausschüttete, fiel der Brief aus dem Buche heraus. Sie werden gewiß sagen, daß es nicht recht von mir war, das Buch während all dieser Monate nicht zu öffnen. Ich habe auch nichts, was zu meiner Entschuldigung dienen könnte, und Big Charley findet, ebenso wie ich, daß es das beste ist, alles ganz so zu sagen, wie es sich verhält.« –
»Ich finde, du müßtest sie um Verzeihung bitten,« unterbrach mich Big Charley.
»Sie müssen mir nun verzeihen, wenn Sie können. Wir sind sehr neugierig zu erfahren, wer Sie sind,« – »Frag' nur gleich auch nach ihrem Alter,« sagte Big Charley – »und wie alt Sie sind. Eines weiß ich gewiß, daß Sie gut sind wie ein Engel, weil Sie sich die Mühe machten, eine so schöne Tasche für einen unbekannten Seemann zu nähen und alles hineinzulegen, was man braucht.« – »Das mit dem Engel war ein guter Einfall,« meinte Big Charley und tat ein paar tiefe Züge aus seiner Pfeife. – »Gern möchte ich Ihnen einen langen Brief schreiben, aber ich weiß ja nicht, was Sie am liebsten hören wollen. Wir sind auf einem amerikanischen Vollrigger unterwegs nach Neu-Seeland und gingen mit dem Bugsierboot von Boston nach New York. Da haben wir landschaftliche Maschinen für Neu-Seeland geladen. Wir befinden uns jetzt nicht weit von der Insel St. Helena, die Sie wohl aus der Geschichte kennen. Vielleicht bekommen wir sie heute abend in Sicht, meint Mr. Bray, das ist der erste Steuermann.« –
»Ich meine, du solltest etwas vom Wetter und von dem Fahrzeug schreiben,« sagte Big Charley, als wir weiter darüber nachsannen, was sie wohl am liebsten hören würde.
»Und vielleicht von der Frau und Angelica auf der letzten Reise,« schlug ich vor.
»Ja, das wird fein,« versicherte Big Charley. – »Sie wünschten in Ihrem Brief, daß ich immer gutes Wetter auf See haben möchte. Das ist gar zu freundlich von Ihnen« – »Famos, famos!« warf Big Charley ein – »aber auf dem Meere kann man nicht immer das gleiche Wetter und gleichen Wind haben. Hier lebt man unter beständigem Wechsel. Es gilt nur, die Segelführung nach dem Winde zu richten und das Leben von der Sonnenseite zu sehen, so macht sich alles leicht, selbst wenn es zuweilen im Rigg heult.« – »Ja, ja, so ist's recht,« stimmte Big Charley bei und klopfte die Asche aus der Pfeife, ehe er sie von neuem füllte. – »Wir haben eine recht gute Reise gehabt. Nur ein paar Tage war es windstill auf der Linie, und es gab gerade so viel Regen, daß wir unsere Wasserbehälter alle füllen konnten. Nun bekommt jeder von uns am Samstagnachmittag eine Pütze voll Regenwasser, und da wird dann abends oder bei der Wache am Sonntagmorgen richtige große Wäsche gehalten. Jetzt ist es Sonntagnachmittag, und wir waren eben dabei, unser Zeug nachzusehen, als Big Charley Ihren Brief fand.« –
»Schreib' nun lieber etwas von der Frau,« meinte Big Charley. –
»Zusammen mit den Offizieren sind wir siebzehn Mann an Bord, aus verschiedenen Nationen, und wir haben über nichts zu klagen. Von uns im Logis sind sieben schon mit auf der zweiten Reise, das ist eine Seltenheit auf einem Tiefwasserschiff. Das letztemal fuhren wir auch von hier aus, damals hatte der Kapitän seine Frau mit an Bord. Sie war sehr liebenswürdig« – »Du mußt auch sagen, daß sie hübsch war,« sagte Big Charley, – »und sehr hübsch. Sie starb, als wir bei der Ausreise die Linie passierten, und wurde in der See begraben. Sie hatte da ein kleines Mädchen bekommen, das nun die ganze Reise mitmachte. In Sidney wurde es Angelica getauft. Jetzt ist sie bei ihren Großeltern in Dorchester. Sie können sich nicht vorstellen, was für Augen sie hatte. Zuweilen waren sie grau wie das Meer, wenn der Himmel trübe ist, und dann ein anderes Mal wieder klar blau, fast hellblau und glänzend wie der Atlantik an einem Sommertage, wenn sich nicht das kleinste Wölkchen am Himmel findet und die See kaum von der Brise gekräuselt wird. Gradeso könnten Sie es jetzt sehen, wenn Sie hier wären! Und später wieder konnten sie die unergründlich tiefe Farbe haben wie das Wasser unter dem Bug, wenn das Meer glatt wie ein Spiegel daliegt, und die Sonne einem über dem Kopfe glüht, und wenn man in die Tiefe hinabstarrt, so scheint es, als folgten einem die Sonnenstrahlen dahin meilentief, erst durch die schimmernde bläuliche Oberfläche, dann allmählich in das immer dunkler werdende Blau, hinein in die entsetzliche, lockende Tiefe.« – »Hm,« brummte Big Charley und blies den Rauch in die Luft. – »An Bord meinte man, daß sie solche Augen habe, weil sie auf dem Meere geboren war. Das mag nun wahr sein oder nicht, jedenfalls hat kein anderer Mensch solche Augen wie Angelica. Gewiß würden Sie sie gleich erkennen, wenn Sie nach Dorchester kommen und ihr begegnen würden. Sie wird nun bald ein und ein halbes Jahr alt« – »den achtundzwanzigsten,« bemerkte Big Charley.
»Ich möchte wissen, was für Augen Sie eigentlich haben. Sicherlich gute und warme, wie Ihr Herz.« –
»Ob ich das wohl riskieren darf, Charley?« fragte ich.
»Aber selbstredend,« erwiderte Big Charley. »Es ist doch ganz natürlich, daß man nach so etwas fragt, was man auf andere Weise nicht erfahren kann.« –
»Es wird noch ein paar Monate etwa dauern, bis wir in den Hafen kommen, aber ich will Ihren Brief doch gleich beantworten, weil Sie darum bitten. Sie müssen nur entschuldigen, daß die Antwort alt wird. Für den Fall, daß Sie Lust haben sollten, mir noch einmal zu schreiben, füge ich meine Adresse bei, wenn der Brief abgeht. Entweder werden wir Flachs lasten für Nordamerika, oder wir gehen nach Australien und nehmen Kohlen auf für die Westküste. Von da aus geht es nach Europa oder vielleicht nach irgendeinem amerikanischen Hafen mit Salpeter.
Sollten Sie nicht die Absicht haben wieder zu schreiben, so bitte ich Sie, versichert zu sein, daß ich niemals die Nähtasche öffnen werde, ohne an die junge Dame zu denken, die sie mir geschenkt hat. Big Charley vereinigt sich mit mir zu einem ehrerbietigen Gruß.«
Ich unterzeichnete den Brief mit Vor- und Nachnamen, worauf Big Charley und ich ihn noch einmal von Anfang bis zu Ende durchlasen.
»Aber du hast ja vergessen zu sagen, wer wir sind,« sagte Big Charley.
»P. S. Wenn es Sie interessieren sollte zu hören, so ist Big Charley Norweger und ich bin Finnländer. Wir sind beide Matrosen hier an Bord. Ich bin einundzwanzig Jahr alt und seit drei Jahren von Hause fort. Big Charley hat seine Heimat seit mehr als acht Jahren nicht gesehen, er ist fünfzehn Jahre älter als ich.«
Nach etwa sechs Monaten, als wir mit »The Southern Croß« nach Valparaiso kamen, fand ich einen Brief vor mit dem Stempel Andover. Er war von Miß Saunders.
Andover, 15. August.
Mein lieber Freund!
Sie können sich nicht denken, wie groß meine Freude war, als ich neulich auf dem Wege zur Schule in der Post vorging und Ihren Brief erhielt. Ich hatte längst aufgegeben, eine Antwort zu erwarten, und oft, wenn die anderen mich im Scherz fragten, ob ich etwas von meinem Seemann gehört habe,
mußte ich zu meinem Kummer ›nein‹ antworten. Wir haben einen Nähverein, in dem für die Seeleute und die Heiden gearbeitet wird. Jetzt werde ich allen dort Ihren Brief zeigen. Ich bin achtzehn Jahre alt und gehe in die erste Klasse der Schule, um noch Latein, Mathematik, römische Geschichte, Gesang, Zeichnen und Gymnastik zu lernen. Ich habe einen Onkel in Indien, vielleicht haben Sie ihn auf Ihren Reisen schon einmal getroffen. Er heißt Dr. Roß. Mein Vater hat eine Fabrik hier in Andover, aber im Sommer pflegen wir an der Küste zu wohnen. Ich habe drei Schwestern und einen Bruder. Letzterer arbeitet in einer Bank in Boston. Aber wie süß muß das kleine Mädchen gewesen sein! Und die arme Mama, die sterben mußte! Konntet Ihr sie denn nicht an Land bringen, um sie zu begraben? Hu, wie schrecklich, so ins Meer hinabgesenkt zu werden! Wie merkwürdig, daß Sie ganz aus Finnland sind. Früher wußte ich nicht viel von Ihrem Lande, jetzt habe ich aber verschiedenes darüber gelesen. Sollte ich jemals nach Europa kommen, da werde ich auch Finnland sehen. Meine ältere Schwester ist in Norwegen gewesen, da soll es entzückend sein, noch schöner als in Maine, das Schönste, was ich kenne. Meine Lehrerin sagte, um mich zu necken, daß man in Finnland zaubern könne, aber das ist doch wohl nicht wahr?
Von nun an wollen wir einander oft schreiben, nicht wahr, und wenn Sie nach Boston kommen, müssen Sie uns besuchen. Es sind nur zwei Stunden Eisenbahnfahrt. Ich liebe Pferde so sehr, und mit zwei Pferden zu fahren ist mir nichts. Das Allerschönste aber ist, zu segeln. Mein Schwager, Mr. Denton, besitzt eine große Schonerjacht, die »Saguenay« heißt. Zwei Sommer nacheinander habe ich schon meine Ferien darauf zugebracht. Das ist herrlich.
Sie fragen, was ich für Augen habe. Ja, da müssen Sie kommen und selbst nachsehen. Ich fürchte, so schön wie Angelicas Augen sind sie nicht, das kommt wohl, weil ich nur auf dem Lande, noch dazu in einer Fabrikstadt, geboren bin. Nein, jetzt aber muß ich schließen. Isch, die abscheulichen Stunden! Schreiben Sie sofort, und möchten Sie doch nicht nach Europa, sondern lieber hierher reisen!
Ihre sehr ergebene Madolin.
P. S. Erzählen Sie alles, was Sie betrifft. Und falls Sie trinken sollten, wie man das ja allen Seeleuten nachsagt, so möchte ich Sie bitten, das doch aufzugeben. Es ist eine sehr böse und schädliche Angewohnheit. M.
Es ärgerte mich, daß ihr Schreiben nicht den geringsten Gruß für Big Charley enthielt. Ohne ihm etwas davon zu sagen, beantwortete ich den Brief eines Sonntags, als er an Land war.
Erst während einer Nachtwache auf dem Rückwege – wir hatten in Caltal Salpeter geladen und gingen nach Falmouth – kam die Rede auf den Brief in meinem Neuen Testamente, und ich erzählte, daß ich wieder von Miß Saunders gehört hatte.
Am ersten Sonntage holte ich den Brief hervor und zeigte ihn Big Charley.
»Hm,« sagte er, »ich wußte ja gleich, daß es etwas Feines sein müsse, und diese ist noch feiner als Joes Ladenfräulein.« – Joe war in Newcastle in Neu-Süd-Wales, wo wir Kohlen luden, davongegangen und konnte sich also nicht verantworten. – »Ihre Schwester ist also in Norwegen gewesen,« fuhr er fort. »Na, ich will meinen, daß das etwas anderes ist als Maine! Nur schade, daß all diese Touristen so viel unchristliches Wesen ins Land bringen.«
Er bat mich nicht wieder, Miß Saunders zu grüßen, und während der ganzen Zeit, bis wir uns in Antwerpen trennten, vermieden wir, über sie zu sprechen. Big Charley reiste heim nach Sandefjord; ich ließ mich auf einer deutschen Barke heuern, die nach Buenos Aires ging.
Von nun an konnte ich sicher sein, jedesmal bei der Ankunft im Hafen einen Brief von Miß Saunders – Madolin, wie ich sie auf ihren Wunsch jetzt nennen mußte – vorzufinden, und einen großen Teil meiner freien Zeit verwandte ich zu deren Beantwortung. Das Briefschreiben war mir förmlich zum Bedürfnis geworden; ihren nächsten Brief zu erwarten, war meine größte Freude. Sie hatte jetzt die Schule verlassen und war ins Gesellschaftsleben hinausgekommen. Während des Sommers hielt sie sich in einem der fashionabelsten Badeorte auf, im Winter bewegte sie sich in den vornehmen Salons und Klubs von Boston. Die kindliche Handschrift des Schulmädchens war verändert. Ich sah deutlich hinter den Briefen ein junges Weib, das voll Verwunderung das Leben um sich her betrachtete.
Sie teilte mir ihre ersten Eindrücke mit von den glänzenden Bällen, Theatervorstellungen, Opern und Festen, die sie besuchte, und machte mich mit ihrer Familie und ihren Freunden bekannt. Ihr Zimmer, ja, selbst ihre neuen Toiletten beschrieb sie mir.
Oft habe ich darüber nachgedacht, was es im Grunde war, das mich an sie band. Die Sehnsucht nach irgend jemand, dem man alles das mitteilen darf, was man nicht in sich selbst verschließen kann? Ein wahnwitziges Begehren, den herrlichen Schmetterling in seiner Hand zu halten, von dem man doch weiß, daß er seines Weges fliegen wird, sobald man ihn greifen will? Liebe? – Ich weiß es noch heute nicht.
Und welche Freude konnte doch nur sie, eine Weltdame, an diesem Briefwechsel mit einem fremden Matrosen haben? War es noch immer das Mitglied der Seemanns- und Heidenmission, das von der Hoffnung angespornt wurde, einen Verlorenen bekehren zu können? War es die Kokette, die nur Vergnügen daran fand, mit einem Herzen zu spielen? War all dieses für sie nur ein Zeitvertreib, ein Sport?
Sie hatte mir ihre Photographie gesandt, und während der langen Reise verging kein Sonntag, ohne daß ich sie hervorgenommen und betrachtet hätte. Ich kannte jede Linie dieses Gesichtes, und gleichwohl schien es mir jedesmal, wenn ich es ansah, als würde es schöner und schöner, und als entdeckte ich immer neue Züge. War der Mund immer so schelmisch gewesen, und die Augen – lachten sie nicht heute fröhlicher als je zuvor? Und wie sie mich verfolgten, nach welcher Seite ich auch die Photographie drehen mochte. Das Haar, das in wilden Löckchen ihr Gesicht umgab, mußte dunkel sein, vielleicht war es schwarz. Schwarzes Haar und blaue Augen, ja, so mußte es sein. Oft während der einsamen Nachtwachen, wenn ich mit meinen Gedanken ganz allein war, konnte ich fast mit Anbetung von ihr träumen, und zwischendurch war es, als stände sie leibhaftig vor mir.
Und eines Tages fand ich in ihrem Briefe eine Haarlocke, eine dunkelbraune, glänzende Locke. Also dunkelbraunes Haar! – ja, das war auch noch schöner als schwarzes. Ihr Bild wurde also in meiner Einbildung etwas verändert oder, besser gesagt, verschönert.
Der Brief war aus Andover geschrieben, eben bevor ihre Familie für den Sommer nach Bar Harbour übersiedeln wollte. Es war ein langer Brief, der auch eine Beschreibung ihrer neuen Sommertoiletten enthielt. »Sie sind alle im Jachtstil,« schrieb sie, »dunkelblaues Tuch, weiß und blauer oder ganz weißer Flanell. Geradschirmige Mütze aus demselben Stoff, die steht mir ausgezeichnet. Du müßtest mich wirklich einmal damit sehen. Mein Schwager kommt im Sommer mit seiner ›Saguenay‹ von Florida herüber, und ich beabsichtige, dann eine Zeitlang mit auf seiner Jacht zu segeln. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie herrlich das ist. Sobald er mit seinen Geschäften in New York fertig ist, kommt er.«
Diesen Brief erhielt ich am ersten Tage, wo ich wieder in Nordamerika war, nachdem ich zum zweitenmal mit »The Southern Croß« von da ausgefahren war. Den Tag darauf wurde ich auf dem deutschen Konsulat vom »Baldur« abgemustert.
Ich hatte viel von diesen Jachten reden hören, von den Millionenfahrzeugen, die nur zum Vergnügen existieren, und beschloß nun, um Anstellung auf einem solchen nachzusuchen. Es war eben die günstigste Zeit, im April, und wenige Tage später befand ich mich auf einem Zweimastschoner, »Mohican«, einer großen, schönen Lustjacht von hundertdreißig Registertons, mit vierzehn Matrosen im Logis. Das war im Verhältnis zu der Anzahl von Tons die zehnfache Leutezahl wie auf einem Kauffahrteischiff, und die Arbeit erschien mir nur wie Spielerei.
Ich beeilte mich, Miß Saunders von meiner neuen Anstellung zu unterrichten, und bekam schon nach wenigen Tagen Antwort aus Bar Harbour. »Jetzt werden wir uns aber ganz gewiß begegnen, denn hierher kommen fast alle Jachten, und Du ahnst nicht, wie ich mich darauf freue! Aber Du mußt mir sofort deine Photographie schicken, damit ich Dich gleich erkenne, wenn wir uns treffen.«
Ich hatte aber keine Gelegenheit, mich photographieren zu lassen, und es hatte auch den Anschein, als sollte es nicht notwendig sein. Bis zum Juli lagen wir still in der Nähe von New York und Newport und beteiligten uns an dem großen Wettsegeln bei Sandy Hook. Es schien, daß wir nach den Regatten in New York ein leichteres Rigg bekommen sollten, um später einen Kreuzzug die Küste entlang zu unternehmen.
Daher fühlten wir uns alle etwas enttäuscht, als uns eines Tages kundgetan wurde, daß der »Mohican« für den Rest der Saison aufgelegt würde, und wir, die wir mindestens auf drei Monate gerechnet hatten, unsere Abrechnung machen sollten.
Als ich mein Geld in die Tasche steckte und unserem Kapitän die Hand zum Abschied reichte, betrachtete er mich einen Augenblick. »Wenn es Ihnen recht ist, so könnte ich Sie einer anderen Jacht empfehlen. Ich traf den Schiffer gestern, und als er hörte, daß ich abmusterte, bat er mich, ihm einen Mann zu schicken. Es fehlte ihm einer.«
Natürlich wollte ich, und in Eile schrieb der Kapitän einige Worte auf eine Karte. »Nehmen Sie die Wall Street-Fähre und dann die Tram bis zur 28. Straße. Dort liegt die Jacht an der Brücke,« sagte er und reichte mir die Karte. Erst auf der Fähre machte ich mich dran, zu lesen, was er geschrieben hatte:
»Der Überbringer dieses, Matrose Williams, wird von mir empfohlen.
Mit Gruß Dein T. O. Grover.«
Und auf der anderen Seite stand:
Ben Haff, Master.
Schonerjacht Saguenay.
Die Karte fiel mir fast aus der Hand. »Saguenay«, die nach dem, was Madolin in ihrem letzten Briefe gesagt hatte, jetzt nach New York gekommen war und bald in Bar Harbour erwartet wurde und auf der sie selbst fahren wollte!
Kapitän Haff, ein langer, barscher Yankeekapitän, befand sich an Bord. »Es ist gut,« sagte er, nachdem er die Karte gelesen hatte. »Sie können hinaufgehen zu Apples Brothers, Catherine Slip, und sich das Maß für eine Uniform nehmen lassen, auch zugleich Schuhe aussuchen. Sagen Sie nur, daß wir morgen nachmittag absegeln, so werden die Sachen schon rechtzeitig geschickt. Morgen früh können Sie an Bord antreten. Melden Sie sich nur bei dem Steuermann. Im übrigen kennen Sie ja das Reglement. Erste Rüge bedeutet gleich Abschied, sobald Sie im Dienst schlapp sind.«
Ich erklärte, alles zu kennen, meldete mich beim Steuermann und ging zu Apples Brothers, und am nächsten Abend, als wir ausfuhren, war ich schon der Schar eingereiht, die den Namen »Saguenay« in weißer Seide gestickt auf der Brust des dunkelblauen Uniformhemdes und in Goldbuchstaben gedruckt auf dem um die Mütze gelegten Bande trug.
Mein erster Gedanke war gewesen, Miß Saunders sofort von dem eigentümlichen Geschick in Kenntnis zu setzen, das uns vielleicht bald zusammenführen sollte. Ich hatte das Kuvert schon zugeklebt, als mir ein neuer Gedanke kam. Ich zerriß den Brief und schrieb einen anderen, in dem ich gar nicht erwähnte, daß ich den »Mohican« verlassen hatte.
Der Besitzer, Mr. Denton, und seine Gattin waren die einzigen Passagiere, die wir an Bord hatten. Natürlich benutzte ich jede Gelegenheit, die Dame zu betrachten. Das also war Madolins Schwester! Ich glaubte sofort Ähnlichkeit zu finden zwischen ihren Zügen und dem Bilde von Madolin. Ein zitterndes Gefühl ergriff mich, wenn ich daran dachte, daß ich bald ihr gegenüberstehen sollte, die während dieser ganzen Zeit sich mehr und mehr in mein Herz hineingeschlichen hatte. Fast wünschte ich, nie hierhergekommen zu sein, oder daß Mrs. Denton nicht ihre Schwester sein möchte, wünschte sogar, daß ich ihr überhaupt nicht begegnen möchte, wenigstens nicht so bald. Ich bereute, daß ich mich auf der »Saguenay« hatte anwerben lassen, und hätte sich nur irgendeine Gelegenheit geboten, so wäre ich auf der Stelle bereit gewesen, sie zu verlassen. Und doch wieder, wie sehnte ich mich nach dieser Begegnung!
Ein Bugsierboot führte uns aus dem Hafen. Nach Sonnenuntergang wurde der Wind stärker und drehte sich nach Südwest. Wir verließen das Bugsierboot, setzten alle Segel, und mit bewunderungswerter Leichtigkeit glitt die »Saguenay« rasch und elegant durch die Wellen. Ich wünschte im stillen, daß sie es weniger eilig hätte. – Aber im Gegenteil. Als wir nach unserer Wache wieder auf Deck kamen, hatte der Wind aufgefrischt. Die Fahrt war doppelt, und obgleich wir jetzt nur Untersegel führten, flogen wir förmlich dahin.
»Saguenay« war ein tüchtiger Segler und nahm kaum einen Tropfen Wasser an Deck. In vollen Zügen genoß ich diesen nächtlichen Flug über das schimmernde, leuchtende Meer, um die Wette mit den schwarzen Wolken, die dort oben einander jagten und nur hier und da ein Sternlein hervorblinken ließen.
Die hohen Masten bogen sich unter dem starken Druck. Wanten und Pardunen schienen zerspringen zu wollen. Der Schoner glich einem lebendigen Wesen, an dem jede Muskel, jeder Nerv in Spannung ist. »Saguenay« war in dieser Nacht die Verkörperung von dem Märchenschiff meiner Jugendträume, und ich selbst war der Seeräuber, der ausfuhr, um die Prinzessin zu rauben. Ich vergaß all meine Unruhe, vergaß, daß ich nur der Matrose Williams war, einer aus der Herde, und daß ich samt einem halben Dutzend Kameraden auf Jachtmanier ausgestreckt auf Deck lag, den Kopf gegen die kaum fußhohe Luv-Reling gedrückt, um etwas Schutz zu finden, bereit, auf den ersten Laut aus der Pfeife des Bootsmanns aufzuspringen.
Bei Tagesgrauen passierten wir den Leuchtturm von Brenton und ankerten wenige Stunden darauf in Newport. Die im Hafen liegenden Jachten salutierten mit einem donnernden Kanonenschuß, der sofort vom Klubhause beantwortet wurde. In einem Nu waren die Segel festgemacht und mit den Persenningen bedeckt, die Sonnensegel über das ganze Deck ausgespannt, die Fallreepstreppen ausgesetzt und die Boote hinuntergelassen und klar an den Davits, die wie zwei lange Fühlhörner zu beiden Seiten der Fockwanten sich herausstreckten. Jede Spur von der wilden nächtlichen Fahrt war verschwunden. Der Wind, der noch vor wenigen Stunden dieses feste Bauwerk zittern und beben gemacht hatte, vermochte jetzt kaum die sternenbesäte Flagge, die an ihrer schrägen Stange über das Wasser hing, noch die Klubflaggen und die Privatsignale oben am Toppsegel aufzublasen und bewegte nicht einmal das dunkelblaue Stückchen Zeug, das bald unter der Großsahling erschien als ein Zeichen, daß der Eigentümer sich nicht an Bord befand.
Mr. und Mrs. Denton hatten sich sofort an Land begeben. Ich führte eines der vier Ruder seines Gig und hatte auf dem Wege bis zum Klubhaus Auge und Ohr offen. Ob Madolin auch ihrer Schwester Haltung und Figur hatte, diesen klaren Tonfall und das klingende Lachen, ob auch ihr braungelocktes Haar dem der Schwester glich?
An Land benutzte ich die Wartezeit drinnen in der Wache des Klubhauses, um einen Brief an Madolin zu schreiben. Ich schilderte ihr meine Fahrt durch Long Island Sound und erzählte, daß der Besitzer und seine Frau an Bord seien, doch ohne zu sagen, daß diese Frau ihre eigene Schwester war. Wir waren oft mit dem »Mohican« in Newport gewesen, und da sie nicht wußte, daß ich ihn verlassen hatte, konnte mein Brief sie nicht überraschen. Etwas Besonderes hatte ich nicht zu erzählen, aber es weiß wohl jeder, daß das auch nicht nötig ist für einen Verliebten, denn ich fürchte doch, daß ich verliebt war.
Als Mr. Denton und seine Gattin aufs Schiff zurückkehrten, hatten sie zwei fremde Herren mit sich. Nach der Anzahl von Koffern zu urteilen, die sie bei sich führten, wollten sie vermutlich dauernde Gäste auf der »Saguenay« werden. Den ältesten von ihnen schätzte ich auf fünfzig bis sechzig Jahre. Er trug eine Brille und wurde von Mr. Denton Professor angeredet. Weder die Brille noch der Titel war geeignet, ihn näher zu charakterisieren. Der andere, ein fünfundzwanzigjähriger junger Herr, war Doktor. Für beide schien das Segeln etwas völlig Unbekanntes zu sein, und solche Gäste sind an Bord einer Jacht die allerdankbarsten.
»Es wird herrlich, einmal herauszukommen,« sagte der Doktor. »Schon seit meiner Knabenzeit hat mein Sinn nach dem Meere gestanden. Und nun ist es ja außerdem durchaus notwendig, daß ich Übung bekomme. Du sahest doch die Zeichnung, Denton? – Ich bin nämlich jetzt fest entschlossen, mir für die nächste Saison eine Jacht zu bauen,« wandte er sich an Mrs. Denton. »Dies ewige Badeleben macht mich nervös.«
Er sah rotwangig und frisch aus und erschien in seinem hellen Flanellanzuge recht wohlgenährt. Der Professor blinzelte kurzsichtig vor sich hin und putzte seine Brille, sah noch einmal dadurch und schob sie endlich auf die Stirn. – » Ah, Saguenay,« sagte er bedächtig. »Ich habe mich schon lange bemüht, die Inschriften auf den Mützen der Seeleute zu entziffern. Nun sehe ich, daß es Saguenay heißt. So war ja wohl der Name deines Fahrzeuges, George? Übrigens ist das sehr praktisch, zum Beispiel wenn sich einmal einer von den Leuten verspäten sollte.« Ich hörte, wie einer dieser »Seeleute« hinter mir kicherte, und konnte kaum selbst das Lachen unterdrücken. Mrs. Dentons Mund nahm einen schelmischen Ausdruck an, den ich auch von Madolins Bild kannte.
»Ja, das ist ganz allgemeiner Brauch,« sagte Mr. Denton.
Kapitän Haff empfing selbst am Fallreep und wurde unseren neuen Passagieren vorgestellt. Der Professor verbeugte sich steif, während der Doktor dem Kapitän kameradschaftlich die Hand reichte:
»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Kapitän! Mr. Denton hat sich mir gegenüber sehr lobend über Sie ausgesprochen. Sie müssen versprechen, sich meiner etwas anzunehmen, ich möchte die Sache von Grund aus lernen. Im nächsten Jahre hoffe ich nämlich auf eigenem Deck zu stehen, und da ist es ratsam, von allem Bescheid zu wissen.«
»Natürlich, ja,« sagte Kapitän Haff trocken, als hätte das Lob des Doktors nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht.
»Wie lange Zeit, glauben Sie, werde ich brauchen, um einigermaßen gut mit dem Seemannsleben vertraut zu werden?« fuhr der Doktor fort
»Das kommt ganz darauf an,« entgegnete Kapitän Haff. »Will man die Arbeit von Grund aus lernen, da geht es nicht so rasch. Man muß damit anfangen, daß man Besen und Schrubber richtig brauchen lernt und jedes Ding, das man gebraucht hat, wieder an den rechten Platz setzt. Dazu gehören wohl zwei bis drei Jahre, manchmal auch mehr. Später muß man lernen, sich den Verhältnissen zu fügen, und das, denke ich, dauert wohl, solange man lebt.« Er hatte den Steuermann herangewinkt und fing nun ein Gespräch mit ihm an.
»Der richtige Seebär,« hörte ich den Doktor in überlegenem Tone zu Mrs. Denton gewendet sagen, als ich mit den losgeschrobenen Stützen der Fallreepstreppe vorüberging. Es wurde alles klar gemacht, um unter Segel zu gehen.
Der Doktor verspürte aber scheinbar wenig Lust, nach Kapitän Haffs Anweisung die Arbeit von Grund aus zu lernen. Jedenfalls zeigte er sich am nächsten Morgen nicht, als wir das Deck reinigten, und den ganzen Vormittag blieb er unsichtbar.
Die Luft war grau von Regenböen, ein unbehagliches, rauhes Wetter, und eine schwere, kurze Dünung ließ die »Saguenay« rollen und hüpfen wie die Schiffchen aus Baumrinde, wenn man als Kind in einer Wasserpfütze oder im Waschfaß Wellen macht. Wir nahmen Kurs direkt nach Bar Harbour, und in der dicken Luft bestand die ganze Aussicht in der graugrünen See. Natürlich hat man auch an einem solchen Tage Himmel, aber wenn es regnet, so sieht man nicht hinauf.
Nach Tisch kamen Mr. und Mrs. Denton nach oben. Sie waren in Regenmäntel gehüllt und gingen mit raschen Schritten Arm in Arm auf Deck hin und her.
»Wir wandern nach Tisch immer eine Meile,« wandte sich Mr. Denton an den Professor, der auch oben erschien. »Es ist so erfrischend.«
»Jawohl, ich kann verstehen, daß es ausgezeichnet bekommt,« sagte der Professor matt und wankte, in ein großes Plaid gehüllt, zu einem der Sofas, wo er niedersank und sich krampfhaft festhielt.
»John Brown ist von den Toten auferstanden,« flüsterte Sayer mir zu, als ich ihn am Ruder ablöste. Wir hatten den langen Professor John Brown getauft, eine heimliche Anspielung auf den John Brown, der nach dem bekannten Liede:
Nach einer Weile tauchte auch der Doktor in der Kajütenklappe auf.
»Das ist recht, Tucker!« rief Mr. Denton. »Komm herauf und mache auch eine kleine Promenade!«
»Ach, meine Kopfschmerzen plagen mich heute sehr arg. Ich kann kaum die Augenlider heben,« sagte der Doktor und verschwand rasch wieder.
»Er ist ja seekrank wie 'ne Ratte,« sagte der Salonsteward abends. »Aber es geht wohl vorüber.«
Und schon den folgenden Tag, der strahlende Sonne und eine frische Brise brachte, ging es vorüber. Beim Frühstück hielten des Doktors Kopfschmerzen noch vor, vielleicht in Reserve, später am Vormittage aber war er vollständig wohl.
»Kapitän,« wandte er sich an Kapitän Haff, »ich möchte lernen, richtig zu steuern. Wollen Sie die Güte haben, mir eine Lektion darin zu erteilen?«
»Gern,« erwiderte der Kapitän. »Das ist nicht schwierig. Die ganze Sache besteht ja darin, wie Sie sehen, daß man das Rad bald nach dem Steuerbord, bald nach dem Backbord dreht, je nachdem es nötig ist. Merkt man, daß die Schute nach einer oder der anderen Seite gieren will, so stellt man das Rad nach der entgegengesetzten Richtung. Man nimmt gleichsam ab und legt zu. Das ist des Seemanns Addition und Subtraktion mit der ganzen Zahl. – Wilson, überlassen Sie das Ruder dem Herrn Doktor. Sie können solange dabei stehenbleiben.«
Der Doktor stellte sich ans Rad, und Kapitän Haff nahm neben ihm Platz. – »Sehen Sie, nun haben Sie hierher gesteuert. Nein, das Gieren sehen Sie vor sich im Wasser und in der Luft, aber nicht oben im Rigg,« sagte er, als der Doktor andauernd auf die Mastspitzen starrte. »Und den Kurs haben Sie hier auf dem Kompaß. Wir steuern also jetzt NO ¼O. Wenn Sie wünschen, können wir es auch in Graden nehmen. Da wird es genau N 47° 48' 45" O.«
»Nein,« sagte der Doktor, »ich ziehe NO ¼O vor, das lautet mehr seemännisch.«
»Gut, wie Sie wollen. Aber sehen Sie! Jetzt müssen Sie das Rad hierher stellen – nun wieder etwas zurück – noch ein wenig – so, ja – nein, nein – geben Sie acht! – nicht zu viel!«
Der Doktor nahm die Sache ernst. Er hielt das Rad, als gälte es sich vor einer Sturzwelle festzuhalten, als Mr. Denton von der Kajüte heraufkam.
»Nein, sieh da! Du am Steuer, Tucker! Wie geht's denn?«
»Ja, danach mußt du meinen Lehrer fragen,« erwiderte der Doktor, der mit gerunzelter Stirne in den Kompaß starrte.
»Denton,« rief er nach einer Weile. »Hättest du nicht Lust, mich gleich abzuknipsen? Es könnte doch später eine interessante Erinnerung sein. Der Apparat ist bereit. Laß ihn vom Steward aus meiner Kajüte holen.«
Wilson mußte sich zurückziehen, und dasselbe tat der Kapitän, nachdem er die »Saguenay« in richtigen Gang gebracht hatte. Der Doktor stand allein am Ruder und ließ den Blick mit schmachtendem Ausdruck irgendwo am Horizonte weilen.
»Fertig!« rief Mr. Denton in dem Moment, wo die Segel anfingen zu gieren. Rasch erfaßte der Kapitän das Ruder und legte die »Saguenay« wieder in ihren Kurs.
Der Doktor brach die Lektion ab. »Es ist interessant,« sagte er zu Mr. Denton gewendet, »und eigentlich schwierig ist's ja auch nicht.«
Wilson berichtete uns dies alles, als er vom Ruder kam.
Während der ganzen Reise nach Bar Harbour wandte der Doktor seine Steuerkünste nicht wieder an. Das Wetter war meist unbeständig mit Windstille und Regen, und erst am letzten Tage der Reise, als wir uns wieder der Küste näherten und in die weitausgedehnten Schären gekommen waren, die die Küste von Maine schmücken, trocknete die Sonne unsre Segel wieder.
Gleich nach Sonnenuntergang kamen wir in Bar Harbour an. Eine große Anzahl von Jachten in allen Größen lag im Hafen mit brennenden Ankerlaternen. Hier und da sah man Lichtschein aus einem oder dem anderen Fenster in der Stadt, die ganz aus Villen zwischen laubreichen Bäumen zu bestehen schien.
Kaum war der Anker gefallen, als auch schon ein Ruderboot am Fallreep unsres Steuerbords anlegte. Ein junges Mädchen in dunklem Kleide und kurzer Jacke mit blanken Knöpfen über einer luftigen Bluse sprang, ihren Hut in der einen Hand schwingend, die Fallreepstreppe hinauf und fiel Mrs. Denton um den Hals.
»Du lieber, kleiner Wildfang, woher wußtest du denn, daß wir kommen würden?« fragte Mrs. Denton.
»Das habe ich mir gleich Montag, als euer Telegramm von Newport kam, ausgerechnet. Wir erwarten euch alle.« Sie begrüßte Mr. Denton herzlich. »Wann darf ich denn ganz an Bord übersiedeln? Bekomme ich auch meine alte Kajüte wieder?«
»Gern, wenn du willst. Es ist Platz genug da, wir haben nur zwei Gäste. Darf ich vorstellen: Meine Schwägerin, Miß Saunders – Professor Wimmer – Doktor Tucker. Meine Schwägerin wird ein tüchtiger Kamerad für dich werden, Tucker. Sie segelt und rudert wie ein alter Newfoundlandsfischer.«
Gemessen begrüßte Madolin die Herren und flog in der nächsten Minute mit einem Freudenruf auf Kapitän Haff zu. »O mein lieber Kapitän Haff! Da bin ich wieder! Freuen Sie sich nicht?«
Kapitän Haff antwortete zwar kaum, aber zum erstenmal in dieser Woche, seit ich an Bord war, sah ich ihn lächeln.
»Kapitän Haff, ist der alte Hopkins noch immer Küchenchef? Da muß ich ihn gleich begrüßen!«
Wir waren eben dabei, das Rahsegel festzumachen. Ich stand mitten vor der Kajütentreppe, um einen Seising zu befestigen, und sie streifte mich am Arme, als sie heruntersprang. »Ach, entschuldigen Sie!« rief sie und verschwand auf der Treppe. In der nächsten Minute hörte man sie unten mit vernehmlicher Stimme nach Mr. Hopkins rufen.
»Sie ist wirklich reizend, deine kleine Schwägerin,« hörte ich den Doktor zu Mr. Denton sagen.
Kleine Schwägerin! Sie war durchaus nicht klein, und es war auch unnötig, daß er sie reizend fand. Ich ärgerte mich gewaltig. Und dann der Gedanke, daß sie von nun an jeden Tag zusammen sein, zusammen rudern und segeln, zusammen tanzen würden. Es war nicht auszuhalten!
Ich hatte beabsichtigt, Madolin eine Überraschung zu bereiten, indem ich sie erst bei der Ankunft in Bar Harbour wissen lassen wollte, daß ich auf der »Saguenay« war, aber nun sah ich sofort ein, daß dies nichts weniger als leicht war. Wenn ich es ihr vielleicht in einem Briefe erzählen würde? Nein, das war auch ganz unmöglich. Das einzige blieb, irgendeinen glücklichen Zufall abzuwarten, und sollte sich kein Zufall bieten, mein Geheimnis zu wahren, bis ich wieder von der »Saguenay« frei war. Ich bereute aufs neue, daß ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte, mich auf ihres Schwagers Jacht zu melden. Und doch – wie entzückend war der Gedanke, ihr so nahe zu sein!
Ihre Photographie hatte doch nur eine schwache Vorstellung geben können von diesem anziehenden Gesicht, dieser graziösen und zugleich eleganten Figur, diesem Gemisch von Weltdame und Schulmädchen, das in ihrem liebenswürdigen Wesen lag.
Als ich von Newport schrieb, hatte ich Madolin gebeten, ihren Brief dahin zu adressieren, und mit meinem Freunde, dem Wachthabenden im Klubhause, verabredet, daß dieser den Brief neu kuvertiert mir nach Bar Harbour schicken sollte. Wenige Tage nach unserer Ankunft erhielt ich auch wirklich einen Brief von ihr. Sie erzählte, daß sie jetzt an Bord der »Saguenay« sei, und beschrieb mir die Kajüte, einen kleinen Salon in Weiß und Gold, und dahinter eine Schlafkabine. »Es geht mir ausgezeichnet, und ich wünsche nur, Du wärest hier statt dieses Dr. Tucker, mit dem man nicht ein vernünftiges Wort sprechen kann. Er ist noch nie auf See gewesen, weißt Du, er ist aus Kansas; aber im nächsten Jahre bekommt er eine eigene Jacht. Er ist enorm reich, aber, puh, so ungeschickt! Denk Dir, neulich wollte er sich einmal recht wichtig machen und ging ins Boot hinunter, um mir die Hand zu reichen, als ich die Fallreeptreppe hinuntersteigen mußte. Das Boot lag völlig stille, aber willst Du's glauben, pladatsch, da saß er! Es war noch ein Glück für ihn, daß ich nicht über Bord purzelte. Ich hätte es auch unfehlbar getan, wenn nicht einer von den Matrosen mich aufgefangen hätte.«
Ich konnte es nicht lassen, bei dieser Beschreibung laut aufzulachen, denn zufälligerweise war gerade ich es gewesen, der sie aufgefangen und eine Sekunde lang in den Armen gehalten hatte. »Denk' nur, wenn Du hier wärest an Dr. Tuckers Stelle, wie vergnügt wollten wir zusammen sein,« schrieb sie noch einmal am Schlusse ihres Briefes.
Das gerade war es, was ich geahnt hatte. Sie verglich mich mit einem ihr Gleichstehenden. Sie machte es sich nicht klar, daß ich nur einer von diesen Matrosen war, mit denen sie ja kaum ein Wort wechseln durfte.
Ich beantwortete ihren Brief sofort und erzählte, daß wir jetzt eine junge Verwandte des Eigentümers an Bord hätten, eine entzückende junge Dame, die der reinste Sonnenschein sei für alle, die sie sähen. Ganz ausführlich beschrieb ich sie. Den Brief sandte ich in doppeltem Umschlage an den Lloyd des Jachtklubhauses in Newport und bat ihn, denselben dort in den Briefkasten zu stecken.
Wenige Tage später wurde ich mit der Jolle an Land geschickt, um die Post zu besorgen. Unter den Briefen fand sich auch einer für mich, wie gewöhnlich nach Newport adressiert. Ich fühlte mich berechtigt, den Brief zu konfiszieren, und las ihn sofort.
Sie beschrieb unsere letzte Tour mit einer großen Anzahl geladener Gäste und einem Diner, das bei der Rückkehr an Bord gegeben wurde. Es amüsierte mich sehr, da mir ja all dieses so wohl bekannt war. Gegen Schluß dieses Briefes schien sie nicht mehr recht bei Laune gewesen zu sein. »Du freust Dich wohl recht, daß die junge Dame so viel Sonnenschein mit an Bord gebracht hat? Hütet Euch nur, daß Ihr nicht zu sehr sonnenverbrannt werdet! Hat sie auch so wunderbare Augen wie die kleine Angelica in Dorchester? Und ich armes Ding? an mir liegt Dir wohl jetzt gar nichts mehr?«
Nun erwachte der Schelm in mir, und ich schrieb gleich auf der Post einen Brief an sie, in dem ich tat, als hätte ich den ihren noch nicht empfangen. Ich benutzte die Gelegenheit, um von unsrer jungen Dame zu sprechen, und erzählte, daß ich vor einigen Tagen, als ich sie an Land gerudert hatte, erst so recht ihre Augen gesehen habe. »Sie sind fast noch schöner als die der kleinen Angelica, aber dunkelbraun, und das paßt so ausgezeichnet zu ihrem braungelockten Haar.« Weiter sagte ich, daß ich so gern einmal mit ihr sprechen würde, aber sie, Madolin, könne ja wohl einsehen, daß jede Berührung zwischen uns Matrosen und einer jungen Dame unter den Gästen eine Unmöglichkeit sei. Sie möge sich einmal vorstellen, welches Aufsehen es erregen würde, wenn sie auf der »Saguenay« Bekanntschaften unter den Leuten im Roof hätte. – Ich warf den Brief in einen Postkasten, überzeugt, daß sie den Stempel nicht weiter untersuchen würde, so kam er noch an demselben Tage in ihre Hände.
Meine List glückte vollständig. Ihr nächster Brief war wieder so fröhlich wie sonst. »Wenn ich nicht zu gut wüßte, daß es unmöglich ist,« schrieb sie unter anderem, »so würde ich wirklich anfangen zu glauben, daß Ihr Finnländer Euch auf Zauberei versteht. Als ich Deinen letzten Brief las, hätte ich fast denken können, daß Du wußtest, was ich an demselben Tage schrieb, und da wir von Finnländern reden, muß ich Dir doch erzählen, daß wir auch einen hier an Bord haben. Er heißt Williams. Ich fragte ihn eines Tages danach, als er mich an Land ruderte. Aber nun darfst Du Dir keine dumme Vorstellung machen! Es gibt nur einen Finnländer für mich, aber ich sage nicht, wer er ist! Den Doktor, von dem ich Dir erzählte, kann ich nicht leiden, weil er so zudringlich ist. Da habe ich den alten Professor noch lieber. Er ist so komisch mit seiner auf die Stirn geschobenen Brille. Ich will Dir hier eine Zeichnung von ihm liefern.« – Da ich das Original täglich vor Augen hatte, konnte ich mich leicht von der Ähnlichkeit überzeugen.
Sie schloß ihren Brief mit dem Bericht, daß die »Saguenay« jetzt zu einer mehrtägigen Segeltour ausfahren würde, und ich erhielt ihn, als wir eben von dieser Fahrt zurückkehrten.
Es war ein eigentümliches Leben, voller Glück, aber vielleicht ebensosehr voll Angst, Unruhe und Mißgunst, das ich jetzt führte. Natürlich verging kein Tag, ohne daß ich sie sah, und es geschah auch wohl, daß sie mich anredete. Sie war immer ausgelassen heiter und mutig, daß es fast an Übermut grenzte. Kein Wetter hielt sie fern von Deck, wenn wir draußen waren, oder mit unserer Schaluppe davon zu segeln, wenn wir im Hafen lagen. Sie gewann sich aller Herzen durch ihre Frische und Fröhlichkeit und regierte alle. Den barschen Kapitän Haff konnte sie um den Finger wickeln und neckte ihn so lange, bis er um jede Jacht und jeden Küstenfahrer, der in Sicht kam, rundherum segelte. Sie fuhr mit dem Professor aus, um zu fischen, und lehrte ihn das Rudern, nur um den Doktor zu ärgern. Früh und spät war sie in Bewegung, war überall, und ihr klingendes Lachen wurde bald vom Deck, bald aus der Kajüte, bald von der Küche her gehört.
Längst schon hatte ich aus Furcht, den wunderlichen Traum, in dem ich lebte, zu verjagen, den Gedanken aufgegeben, mein Geheimnis vor Madolin zu offenbaren. Eines Tages aber war es nahe dran, daß mich die Versuchung übermannt hätte. Ich hatte sie allein nach einer kleinen Insel an Land gebracht, von wo aus sie eine Skizze von der »Saguenay« aufnehmen wollte, und als sie mit ihrem Farbenkasten von der Jolle herunterhüpfte, glitt eine kleine Porzellanplatte in die See herunter. Blitzschnell streifte ich den Ärmel meines blauen Hemdes auf, und es gelang mir, die rasch sinkende Porzellanscheibe zu ergreifen. Als ich sie ihr reichte, rief sie: »Aber was haben Sie da?« – Ich hatte mir derzeit in Rio mit großen Buchstaben Madolin auf den rechten Arm tätowieren lassen. Es war zu spät den Ärmel herunterzuziehen. Ich fühlte, wie mir das Blut in die Schläfen stieg, und kaum konnte ich die kleine Porzellanplatte, die ich ihr immer noch entgegenstreckte, festhalten. Mit einem jubelnden: Deinen Namen, Madolin! wollte ich mein Geheimnis bekennen, aber etwas – ich weiß nicht was – hielt mich zurück. »Es ist der Name meiner Liebsten,« antwortete ich scherzend und sah ihr in die Augen, »das ist Seemannsbrauch«.
»Ach,« sagte sie langsam, indem sie die Platte nahm und den Strand hinaufging.
Von diesem Begebnis erwähnte sie kein Wort in ihrem Briefe, und es schien mir überhaupt, als schriebe sie nicht mehr so frei über alles wie vordem. Jedenfalls vermied sie jetzt immer, Dr. Tuckers Namen zu nennen, obwohl ich merkte, daß er mehr wie je sie mit seinen Aufmerksamkeiten verfolgte. Der Klatsch, der sich auch an Bord einer Jacht findet, wußte, daß es zwischen ihnen »richtig sei«. »Eine passende Partie,« sagte man. Ich mußte für mich lachen über eine solche Abgeschmacktheit.
Eines Tages, während einer langen Fahrt, kam ich ans Ruder und fand Madolin mit einer Näharbeit im Liegestuhl an der Reling sitzen, während Dr. Tucker mit einem Buch in der Hand ihr Gesellschaft leistete.
»Lawrens,« hörte ich sie sagen – sie nannte ihn nicht mehr Dr. Tucker – »du hast mich schon so oft photographieren wollen. Jetzt will ich versprechen, ganz still zu sitzen, wenn du mir nachher ein so kleines Bild gibst,« – sie zeigte mit der Nadel auf ihren Ärmel, wie groß das Porträt sein durfte – »ich möchte es für ein Medaillon haben.«
Entzückt beeilte sich der Doktor, seine Kamera zu holen, und machte zur Sicherheit gleich ein halbes Dutzend Aufnahmen. »Wenn dir's damit eilt, Madolin, so werde ich sie dir sofort entwickeln, da kannst du morgen schon das Bild in dein Medaillon einsetzen. Aber lieber bliebe ich hier in deiner Gesellschaft.«
»Ja, Lawrens, es wäre schrecklich gut von dir, wenn du das Bild gleich machen wolltest. Ich brauche es so notwendig,« antwortete Madolin.
Der Doktor blieb lange unten in seiner Kajüte. Es interessierte mich in hohem Maße, zu hören, wie es ihm gelungen war, und ich begann schon zu fürchten, daß meine Stunde am Ruder zu Ende gehen würde, ehe er zurückkam, als er sich endlich mit der Platte zeigte. »Ich denke, du wirst zufrieden sein, Madolin, und sicher auch der Glückliche, der das Medaillon bekommt,« sagte er schmachtend. »Du erlaubst wohl, daß ich einen Abzug behalte?«
»Gerne ein Dutzend, wenn du willst,« lachte Madolin. »Das Medaillon wollte ich übermorgen meinem Bruder zum Geburtstage schicken, darum eilt es. – So, nun ist meine Arbeit fertig,« fuhr sie fort und warf dem Doktor eine kleine Tasche aus buntfarbigem Stoff, mit einer Schnur versehen, zu. »Nun rate, was es ist.«
Der Doktor drehte und wendete die Tasche hin und her, konnte aber natürlich nichts raten.
»Eine Nähtasche,« lachte sie, »eine Nähtasche für einen Seemann. Ich lege dann noch Garnrollen, Nähnadeln, Knöpfe, Wollgarn, eine Schere und allerlei sonst hinein, und auf ein kleines Flanelläppchen, das innen an der Öffnung befestigt ist, stecke ich Stopfnadeln. Dann kommt noch ein Neues Testament in die Tasche, und Weihnachten gebe ich sie in die Seemannskirche als Gabe für einen Seemann. Ist das nicht ein guter Gedanke? Ich habe schon einmal der Seemannsmission eine ebensolche Tasche gegeben.«
»Ja, mir fällt ein, daß du davon gesprochen hast,« sagte der Doktor. »Ich meine die Geschichte mit dem Brief, die du erzähltest. Du korrespondierst ja wohl immer noch mit ihm. Was war es doch für einer? Eskimo, meine ich, oder war's ein Samojede?«
Madolin lachte laut auf. »Uf, schäme dich, Lawrens! Du weißt es recht gut.«
Ich merkte, daß sie mich am Ruder sah und darum nicht das Wort Finnländer nennen wollte. Es stieg eine wilde Lust in mir auf, dem Doktor an die Kehle zu fahren. Eskimo oder Samojede! Und sie – sie konnte lachen.
»Willst du denn in diese Tasche auch einen Brief einlegen?« fragte der Doktor.
»Ich denke wohl,« antwortete sie. »Du ahnst gar nicht, wie interessant solch eine Korrespondenz sein kann, man kann sie auch jederzeit abbrechen, wenn es nötig sein sollte. Übrigens glaube ich, daß sie auch ihre große Bedeutung haben kann. Du kannst dir nicht denken, wie mein ›Eskimo‹, wie du sagst, sich während dieser Jahre entwickelt hat.«
Der Doktor lächelte mitleidig, indem er sich eine Zigarre anzündete, und Madolin ging in die Kajüte hinunter.
Ich vermochte mich kaum aufrechtzuerhalten, als ich kurz danach am Ruder abgelöst wurde. Mein Blut kochte wie im Fieber, und die ganze folgende Nacht schlief ich keinen Augenblick. Mein einziger Gedanke war, von der »Saguenay« fortzukommen, aber zu allem Unglück blieben wir einen Tag nach dem anderen im Nebel liegen, in einem Nothafen oben am Tennant River. Die Post wurde an Land geschickt, aber es war mir unmöglich gewesen, zu schreiben.
Als wir nach Bar Harbour zurückkehrten, erhielt ich ein Päckchen und einen Brief von Madolin, wie gewöhnlich von Newport zurückgeschickt. Das Päckchen enthielt ein kleines, goldenes Medaillon in Form eines Buches, und als ich dieses öffnete, fand ich Madolins Bild darin.
»Du mußt mir versprechen,« schrieb sie, »daß Du dieses Buch nicht wie das vorige, das ich Dir sandte, vier Monate ungeöffnet lassen willst. Ich möchte gern, daß Du es immer trügest als Erinnerung an mich, wenn Du Dich nun vermutlich bald auf die langen Reisen begibst. Meine Schwester hat mich überredet, für den Winter mit nach Florida zu kommen, und ich vermute darum, daß wir uns jetzt doch nicht treffen werden. Aber vergiß Andover nicht, wenn Du in unsere Gegend kommen solltest.« – – –
Ich sprach nur die Wahrheit, als ich auf Kapitän Haffs Frage, warum ich die »Saguenay« verlassen wollte, antwortete, daß ich krank sei.
»Das kommt ja sehr ungelegen,« sagte er. »Es soll ein großes Fest geben, die ganze Gesellschaft von Bar Harbour kriegen wir übermorgen an Bord. Eigentlich kann ich keinen Mann entbehren. Da soll es deklariert werden. – Na ja, wenn Sie fort müssen, so läßt sich nichts dabei machen. – Halb verrückt muß sie doch sein, daß sie dieses Heupferd nimmt!« murmelte er vor sich hin, indem er seine Bücher hervorholte.
Er füllte einen Scheck aus auf mein Guthaben, und ich quittierte für die Summe in seinem Kontrabuch.
»Ach so – ich habe Sie Williams genannt,« sagte er, als er sah, daß ich meinen eigentlichen Namen schrieb.
»Ich nannte mich nur der Kürze wegen so,« sagte ich und legte die Feder hin. Der Gedanke daran, daß ich die »Saguenay« verlassen sollte, gab mir die Spannkraft zurück. Ich suchte ein Eckchen, wo ich Madolins Brief ungestört beantworten konnte.
»Liebe Miß Saunders!
Wie Sie vermuten, werde ich mich bald in die Weite begeben. Ihr Bild sowohl wie die Erinnerung an Sie werde ich allezeit mit mir nehmen, wohin auch mein weg mich führen mag. Aber das hübsche Medaillon, das Sie mir schenken wollten, kann ich nicht annehmen. Ich sende es zusammen mit Ihren Briefen, die mir all diese Jahre eine so große Freude gewesen sind, zurück. Es wird mir schwer, mich von diesen teuren Erinnerungen an eine Zeit, die für mich so unaussprechlich glücklich war, zu trennen, und nur der Gedanke, daß die Briefe in Wirklichkeit für eine andere Person als den Matrosen, den Sie kennen gelernt haben, bestimmt sind, macht, daß ich sie nicht behalten kann.« – –
Ich band die Briefe zu einem Päckchen zusammen, das ich an Miß Saunders adressierte.
Wilson sollte mich an Land bringen und wartete schon mit der Jolle, wie gern hätte ich sie noch einmal gesehen und ihre Stimme gehört. Aber das Deck war leer, man speiste unten in der Kajüte zu Mittag. Ich hörte den Laut von klirrenden Gläsern und fröhlichen Stimmen deutlich hier oben, vielleicht wurde gerade aus das Wohl der Neuverlobten getrunken.
Über einen Liegestuhl an der Reling hingeworfen lag ein Schal, den ich als Madolins Schal erkannte. Ich steckte das Briefpäckchen darunter und eilte hinab ins Boot.