Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von Walther Siegfried.
Schlag dreiviertel sieben Uhr trat Gritli Brunnenmeister, eine bescheidene Hausnähterin, aus der Tür ihres Hauses in die klare Frische des Montagmorgens hinaus. Es war ein dunkles, weitläufiges Gebäude, das sie verließ, zum Junkernstift genannt und im ältesten Teil der Stadt Altachen gelegen. Vor Zeiten der Wintersitz eines adeligen Geschlechtes aus dem Gau, war es im Laufe der Jahrhunderte zum Mietshaus für ärmere Leute geworden, und Gritli hatte seit Jahren da eine kleine Wohnung inne, im hintern Bau, drei Treppen hoch.
Rein und kühl wehte der Dahinschreitenden die Frühluft durch die Gasse entgegen. In kristallener Bläue wölbte sich der Himmel über den hohen Häusern, und ein frohgeschäftiges Eilen zum Tagewerk in jeglicher Richtung und ein munteres Grüßen unter den Vorübergehenden ließ ordentlich spüren, wie jeder, an Leib und Seele ausgeruht, heute mit verjüngter Kraft an seine Pflichten ging. Das war aber auch gestern wieder ein Maisonntag gewesen nach der Menschen Sinn, und was irgend in Altachen sich rühren konnte, hatte sich draußen ergangen in der jungen Wunderfülle des ergrünten Geländes. So viele frohe Gesichter mochten die grauen Gassen wohl in langer Zeit nicht haben heimkehren sehen wie am Abend, da das Volk in singenden Scharen wieder stadteinwärts zog. Dankbar waren die Guten zur Ruhe gegangen, ein Gefühl von Verpflichtung im Herzen, nach diesem vollkommenen Erdengenusse; aber auch der Böse selbst mochte sich des besseren Teils in seinem Wesen wieder einmal bewußt geworden sein inmitten der überwältigenden Schönheit, mit der dieser Feiertag das Vaterland verklärt hatte.
Das Gritli schien ebenso neu belebt wie seine Mitbürger, als es in all seiner Schüchternheit jetzt so hurtig und leichtfüßig zur Stadt hinaus glitt und dann längs den Gartenmauern und grünen Hecken die Landstraße dahin eilte, wo sich zu beiden Seiten alte und neuere Landsitze, unterbrochen von schattigen Obstgärten, ins Tal hinauszogen. Es trug sein immer gleiches Werktagskleid aus grauem Lüster, um den Hals ein blendend weißes, selbst gehäkeltes Spitzentüchlein, und seinen unbedeckten Scheitel schützte ein dünnstieliges Sonnenschirmchen, mit altmodisch braun karierter Seide bezogen.
Vor einem hohen, eisernen Gittertore machte Gritli halt. Zwischen stattlichen Sandsteinpfeilern stand das Portal da, mitten in einer hohen, steif verschnittenen Tuyahecke, und kündete mit seiner, noch der Napoleonszeit entstammenden Schmiedearbeit und Wappenzier ein ansehnliches Besitztum an. Gritli zog behutsam die Glocke; eine dienstbare Person, die dort hinten die steinerne Vortreppe gekehrt hatte, kam heran und ließ die Nähterin mit vertraulichem Gruße ein. Es war eine gar seltsam vierschrötige Magd, und man wäre weniger erstaunt gewesen, sie um etliche Gärten weiter im Kuhstall des dortigen Milchbauern anzutreffen, als hinter diesem herrschaftlichen Gittertore. Ein gutes Grinsen ging über ihr rotes Scheibengesicht, als sie Gritli die Hand drückte und ihm dienstfertig sein kleines Päckchen abnahm.
»Haben Sie guten Sonntag gehalten, Marei?«
»Der Plagegeist ist wenigstens über Land gewesen!« erwiderte die Magd. Aber Gritli wehrte ihr alsbald mit einem ängstlichen »bscht!« und eilte, nichts weiteres dieser Art zu hören, durch den Garten voraus.
An den beiden Seiten des saubern Kiesweges, auf dem sie dem niedern, weißen Landhause mit den hellgrünen Läden zuschritten, blühten in leuchtenden Büscheln herrliche Aurikeln und Narzissen, und aus den jung-grünen Gebüschen und Baumkronen erschallte schmetternd der Gesang der Vögel. Bewundernd blieb Gritli einen Augenblick oben auf der Vortreppe stehen, sich noch einmal umzusehen in dem tauigen Silberglanz dieser Frühe und noch einen tiefen Zug zu nehmen von der würzigen Luft des weiten, wohlgepflegten Gartens, ehe es sich hinein begab, einen ganzen Tag an der Näharbeit zu sitzen.
Aber ein barscher Laut der Ungeduld hinter seinem Rücken riß es aus seiner seligen Betrachtung, und als es zur Seite wich, schritt der Herr des Hauses, dem es im Wege gestanden hatte, unwirsch an ihm vorüber, die Treppe hinab. Fast war Gritli nicht imstande, hörbar guten Morgen zu wünschen, so war ihm der Schreck in die Kehle gefahren. Mit der gewohnten derben Jacke bekleidet, den grauen Kopf von einem verwitterten Strohhute bedeckt, ein Bündel Bast unterm Arm und die Baumschere in der Hand, verschwand Herr Cornelius Rych im nächsten Augenblick hinter den Büschen.
Hatte die Magd ihren Gebieter den Plagegeist genannt, so war er für Gritli geradezu der schwarze Mann, und in den nahezu zwanzig Jahren, in denen es in dieses Haus kam, hatte es noch nie die Schwelle ohne ein leises Grauen überschritten. Um so herzlicher tönte jetzt der Gruß der Haushälterin, der Jungfer Magdalene Biberach. Denn diese vielgeplagte gute Haut freute sich jeweilen die ganze Woche auf den einen, regelmäßigen Nähtag Gritlis, als auf die einzige Gelegenheit, sich einer teilnehmenden Seele auszuschütten und ein treu gemeintes Wort dagegen zu hören. Ja, Gritlis friedvolles, in sich stilles Wesen schien in die unbehaglichen Mauern dieses verödeten Witwerhauses allwöchentlich herein wie ein verirrter, freundlicher Sonnenstrahl.
»Daß ich es Ihnen nur gleich sage,« begann Jungfer Magdalene, während sie den Kaffee herbeitrug, »der Herr hat am Samstag befohlen, Sie mit Ihrer Näherei diesen Sommer über in den Keller auszuquartieren, in unser früheres Badezimmer; denn die obere Glaslaube brauche er für seine neuen Pflanzen.«
»Nun, ich werde auch dort Licht genug haben,« begütigte Gritli, ein paarmal die Lider über seinen ruhigen, hellen Augen hebend und senkend, wie es seine Gewohnheit war, wenn es sich etwas zurechtlegte. Die Alte zuckte die Achseln. »Werden wohl hell genug haben müssen, mit dem vergitterten Fensterloch hoch oben, dazu noch nach hinten hinaus!«
Aber Gritli beruhigte sie. »Es geht doch auf den Garten, und wenn es jetzt auch vielleicht noch etwas kühl ist, später, bei der Sommerhitze, wird es da drunten nur um so köstlicher sein.«
»Ei ja freilich! Den Tod kann sich einer holen!« wehrte Jungfer Biberach ab. »Ich hab' es ihm vorgestellt, aber was ficht das den an! Was er im Kopf hat, bleibt stehn wie eine Mauer.«
Gritli wußte die Eifernde mit seinem Herausfinden der guten Seite an allen Dingen schließlich doch zu trösten und stieg dann in ungetrübter Laune in sein neues Quartier hinab, wo es seine gewohnten Siebensachen bereits aufgestellt fand. Es richtete sich alsbald nach seinem Bedürfnis ein, und als es hierbei in der Ferne die gefürchtete Stimme des Herrn Cornelius hörte, wie er im Garten den Taglöhner belehrte und die Magd anschnauzte, da empfand es eine Geborgenheit hier unten, wie es sie in den oberen Räumen nie genossen hatte und war mit der Veränderung von Herzen zufrieden.
Still und flink glitt seine Nadel durch die Leinwand, und das leise Ziehen des Fadens und das zeitweilige Klingen der Schere war lange das einzige Geräusch in dem einsamen, kühlen Gelaß.
Hm, nun war es doch von Herrn Rych nächstens durch sämtliche Räume des Hauses gestoßen worden! Ehedem hatte ein sonniges Parterrezimmer als ständige Nähstube gedient. Das war, als noch die Schwester des Hausherrn lebte, das unvergessene Fräulein Charlotte, das mit seiner warmherzigen Fürsorglichkeit des Bruders gehässiges Wesen so viel wie möglich ausglich. Doch schon seit sechs Jahren war sie tot. Eines Tages im ersten Frühling starb diese gütige Seele nach kurzem Kränkeln plötzlich weg, und es bedurfte der ganzen Treue Gritlis und seiner seltenen Begriffe von Gewissenhaftigkeit und Dankespflicht, daß es seitdem immer noch hierher zurückkehrte. Denn allbereits waren sie nur noch ihrer drei, die vor dem unleidlichen Alten nicht die Flucht ergriffen. Etliche Dutzend andere hatten in den sechs Jahren nach kurzer Zeit stets wieder Reißaus genommen. Bei Magdalene war es teils gleich starke Pietät für die Abgeschiedene, wie bei Gritli, was sie festhielt, teils schon eine dumpfe Resignation, als könnte es nicht mehr anders sein. Und ängstlich dankte sie dem Geschick, daß ihr in jener plumpen Bauernmagd Marei endlich eine Gehilfin erhalten blieb, die vermöge endloser Gutmütigkeit das Unerträglichste ertrug.
Eine ruhelose, mißtrauische Geschäftigkeit trieb den Herrn von früh bis spät in allen Winkeln umher und hielt seine Umgebung auf die ungemütlichste Weise in Atem. Seit seinem fünfzigsten Jahre, da Herr Cornelius Rych seine städtischen Ehrenämter abgegeben, befaßte er sich nur noch mit der Verwaltung seines durch vielfache Erbschaften zu einem großen Vermögen aufgelaufenen Geldes und mit der Regierung von Haus und Garten. Aber er betrieb das ohne den mindesten Frohgenuß seiner begünstigten Lebensumstände. Seine peinliche, bis ins geringfügigste nachrechnende Genauigkeit verhinderte ihn daran und ließ ihn in keiner seiner Beschäftigungen den Reiz finden, der darin hätte liegen können. Seine Baumkultur, seine Blumenzucht mit ihren stillen Freuden und Überraschungen im Wechsel der Jahreszeiten, seine Liebhaberei, an dem alten Hause herumzubauen, indem er dabei die billigsten Kalkulationen herausklügelte und zu verwirklichen wußte – alles für andere Gelegenheit zu Unterhaltung und angeregter Laune – bot ihm, eines wie das andere, nur Anlaß sich zu ärgern.
Eben ging er murrend um jene Beete seltener Aurikeln und Narzissen herum, die vorhin Gritlis Auge und Herz so innig erfreut hatten, und deutete geringschätzig mit dem Finger darauf hin, als machte er der prangenden Pflanzung Vorwürfe. Ihm blühten diese zarten Gebilde keineswegs nach Wunsch, vielmehr war seine Liebhabereitelkeit durch sie dies Jahr empfindlich verletzt. Standen sie doch volle anderthalb Wochen zu spät im Flor. Es waren neue Freilandsorten, und seit dem Februar hatte er sich nun um ihr möglichst frühzeitiges Erblühen geplagt.
»Seht!« rief er dem Gärtnerburschen zornig zu, »da sind sie nun endlich alle offen, die Sakermenter! Und in vier andern Gärten blühen sie seit sechs, in einem gar schon seit zehn Tagen! Nur wir bringen es nie zu den ersten! Ich bleibe dabei, daran ist der alte Nußbaum dort an der Ostseite schuld; der läßt morgens die Sonne nicht früh genug herzu. Aber er trägt zu gut; ich mag ihn nicht umhauen. Das soll der Henker holen, daß immer eins dem andern im Wege stehen muß!« Und mit dem Bastbündel fuchtelnd, drehte er den unschuldigen Blumen stracks den Rücken, um sich allsogleich an etwas Neuem zu erbosen.
»Gsch! gsch!« hörte ihn Gritli zischen und heftig in die Hände klatschen, worauf endlich der Angstruf einer Amsel, den es schon längst mit Kummer angehört, verstummte, während sich gleich nachher der große, rote Kater am Fenster vorüber ins Haus schlich.
Herrn Cornelius sangen auch die Vögel nicht zu Dank. Hätten sie lieber den guten Instinkt gehabt, in entfernteren Gärten zu nisten, statt vorzugsweise just im Dickicht des seinigen. Denn da es keine Menschen lange um Herrn Rych aushielten, mußte ihm eine Schar verschiedenfarbiger Katzen Gesellschaft leisten, und die stellten beständig den Vögeln nach. Die Vögel aber wollte er um ihrer Nützlichkeit willen doch auch nicht fressen lassen, und so war es ein ewiges Aufpassen und Hüten von Katzenvolk und Vogelstand, und von beiden erwuchs ihm auch nur wieder mehr Verdruß als Vergnügen.
Noch mehrere Male, während der Gestrenge draußen an seinen Rosenstöcken Bänder erneuerte und dürre Zweiglein ausschnitt, ertönte sein »Gsch« und sein Klatschen.
Derweil zog Gritli in seinem Verließchen friedlich seine Nädlinge durch das Leinen. Mit vollendeter Flickkunst wußte es den Webmustern der alten, damaszierten Tischtücher fast unbemerkbar seine Stiche anzupassen. Zeitweise mußte es seine ganze Aufmerksamkeit dem schwierigen Erwägen der zweckdienstlichsten Stichart widmen, dann wieder flocht sich unvermerkt in die Ziergewinde des Leinwebers ein kleines Rankenwerk von Gritlis eigenen, lebendigen, guten Gedanken.
Ihm war nie einsam zumut, wenn es auch noch so allein war. So dürftig es äußerlich um sein Leben bestellt sein mochte, im Innern ging ihm der Reichtum selten aus. Denn es besaß die warme Gemütskraft, sich für das Viele, was es entbehren mußte oder was die andern in ihrer Trägheit des Herzens ihm zu bieten vergaßen, dadurch zu entschädigen, daß es das Wenige, was ihm erreichbar war oder im stillen Laufe seines Lebens Freundliches begegnete, mit um so größerer Innigkeit umfaßte. So war seinem Herzen zu dieser Stunde das Rauschen der Bäume draußen und der sanfte Duft, der von den blühenden Sträuchern in das Kellerloch herabwehte, Geschenk und Wohltat, und mit Entzücken horchte es dem Locken der Finken und Meisen zu. Die Natur war seine köstlichste Freude, und ihr Offenstehen für arm wie reich gab seinem Gemüt Anlaß zu tiefer Dankbarkeit. Es genoß das Wandern durch die Schöpfung wie einen ewig sich erneuenden Rundgang durch ein herrliches Panorama, in welchem es mit kindlicher Glückseligkeit bald die Eisblumen und weihnachtlichen Schneelandschaften, bald die Frühlingswunder für das allerschönste von allem hielt, worauf die sommerliche Pracht der Felder und die Feierlichkeit im hohen Schattendom des dunkeln Laubwaldes seinen Augen wieder so lange eine neue, höchste Entzückung brachte, bis es im Frieden goldiger Septemberherrlichkeit meinte, das sei doch dem einstigen Himmelsprangen wohl am nächsten verwandt. Sich den Himmel auszumalen aber bildete vollends seine Lieblingsbeschäftigung, mit der es sich für die Dürftigkeit seines vorläufigen Loses auf Erden entschädigte. Und hierzu stand ihm eine in seinem Stande seltene Hilfskraft zu Gebote.
Denn der stiefmütterlichen Fee, die einst an seiner Wiege gar zu emsig bemüht gewesen war, jene Falten ihres Gewandes zuzuhalten, in denen sie die Gaben irdischer Glücksgüter beisammen hielt, war ein anderes Geschenk entrollt und dem schlichten Menschenkinde in den Schoß gefallen: Phantasie. So verstand es hinfort, die armen, nackten Meilensteine seiner Erdenpilgerschaft mit freundlichen Flittern und Ranken zu umkränzen, solche von einem zum andern fortzuspinnen und dazwischen hinzuwallen als ein gottgesegnetes Genie der Liebe im kleinen, das sich an hundert kostenlosen Genüssen erbaute, welche andern ewig verschlossen blieben.
Mit achtzehn Jahren hatte Gritli als Waise begonnen, seinen Unterhalt durch Nähen zu verdienen, und bei seinen sanften Sitten und der strengen Verlässigkeit in Arbeit wie Charakter schnell einen sichern Kundenkreis erlangt, der dann in regelmäßigem Umgang seine Wochen füllte. Doch war es ihm in den zwei Jahrzehnten seit damals nicht immer so wie jetzt vergönnt gewesen, das beiseite zu legen, was es erübrigte; sondern es hatte lange Zeit hindurch seinen ganzen Verdienst freudig dazu hergegeben, seine einzige Schwester bei sich zu erhalten, die, an schweren Zufällen leidend, erwerbsunfähig war. Erst nach ihrem Tode, durch den es freilich auch des letzten Angehörigen beraubt worden, sah es langsam den Lohn seines Fleißes zu einem Häufchen anwachsen, und das bescheidene Sicherheitsgefühl darüber ward ein neuer, schöner Grundton in der friedlichen Harmonie seines Wesens. Wohl keiner seiner reichen Kunden konnte durch den größten eisernen Geldschrank voller Staatspapiere und Gültbriefe so beglückt sein, wie Gritli durch diesen kleinen Besitz, und wenn es alle paar Monate wieder ein Beutelein Erspartes zum Aufheben beisammen sah, abermals gnädig verschont von Krankheit und Unvorhergesehenem, was dieses über die tägliche Notdurft Hinausreichende hätte verzehren können, dann war Gritli so dankbar bewegt, daß ihm selbst der Gang damit zu dem bösen Herrn Rych nicht bitter vorkam. Denn niemand anders als der Schreckliche verwaltete ihm seine Ersparnisse. So war es seinerzeit auf die gütige Verwendung des seligen Fräuleins Charlotte eingerichtet worden, und als einmal ein kleines Sümmchen beisammen lag, hätte Herr Cornelius selber die Sache nicht mehr aus der Hand gegeben, sondern betrieb die Verwaltung, weil sie seinem Wesen zusagte, sogar mit einer Art eifersüchtigen Interesses und rechenschaftfordernder Bevogtung bis auf den heutigen Tag.
»So schauen Sie doch nur einmal auf, Gritli, und nehmen einen Bissen!« rief Jungfer Magdalene, als sie gegen zehn Uhr mit einem kleinen Imbiß wieder in dem Kerkerchen erschien und Gritli ganz versunken über seinem Damasttuche fand. »Da! – ich habe gestern dem Herrn diese Pastetchen gebacken und Ihnen eins aufgehoben.«
Gritli erhob den Kopf und dehnte ein wenig seine gedrückte Brust.
»Und nun lassen Sie auch hören, wo Sie gestern waren?«
»Ausgesonnt hab' ich mich, wie alle Leute!« lachte Gritli und nahm einen Schluck Wein. »Durch die Rebberge sind wir hinaufgestiegen und den ganzen Stadtwald entlang gegangen bis zum Sennhof. Dort kehrten wir ein. Nachher hab' ich die andern noch bis auf den Hochrücken geschleppt, um droben von der Lichtung aus den Sonnenuntergang zu betrachten. Ach, Jungfer Magdalene, wie Sie nur immer daheim bleiben mögen! So schön haben die Schneeberge lange nicht verglüht!«
Die Haushälterin nickte, »'s ist wahr! Aber sehn Sie, wenn ich mich einmal allein daheim weiß, wie gestern, dann wünsch' ich mir nichts Besseres, als in einem sonnigen Winkel still zu sitzen und ungescholten über einem Buch ein wenig einzunicken. Wen haben Sie denn bei sich gehabt?«
»Meine Zimmernachbarinnen Tulliker.«
»O jeh!« spöttelte Magdalene, »daß Sie mit diesen beiden dürren Sektiererinnen spazieren gehn mögen!«
»Es hat sie halt gefreut, sich jemand anzuschließen, und da wollt' ich es nicht abschlagen; es ist ja ein Wunder, wenn sie überhaupt einmal richtig ins Weite gehen.«
»Und die haben Sie in ein Wirtshaus hineingebracht?« zweifelte Jungfer Biberach. »Haben sie denn auch was getrunken? O, in diese zwei Gerippe hätt' ich einen braven Waadtländer hineinschütten mögen, bis sie zu hopsen angefangen. Aber Jesses! – ich muß hinauf, mein Gemüse brennt an!«
Gritli lächelte vor sich hin. Es mußte schon ein braver Waadtländer gewesen sein, im Sennhof. Denn er hatte etwas Unerhörtes gezeitigt, und Gritlis Gedanken waren seitdem unablässig davon gefangen genommen.
Als die drei ältlichen Mädchen so miteinander die Herrlichkeit des Schneegebirges im Abendrot betrachtet und die Augen über das Vorland hinweg allerlei Reisen hatten tun lassen, zu fernen Seen und duftigen Höhenzügen, da äußerte die ältere der Jungfrauen Tulliker plötzlich den an ihr fast unfaßlichen Gedanken: sie drei Nachbarinnen könnten sich doch eigentlich am nächstkommenden Sonntag auch der ausgeschriebenen Vergnügungsfahrt an den Vierwaldstättersee und auf das Rütli anschließen, an der so viele Bekannte aus der Stadt teilnähmen.
Zu anderer Zeit hätte Gritli sich ob solch einem Vorschlage baß entsetzt. Aber sei es, daß hier ein völlig unverhoffter, kühner Wurf seine mitreißende Wirkung tat, sei es, daß auch Gritlis Blut von Wein und Wonne des Maientages lebendiger strömte, es hatte die Idee nicht nur ohne Schrecken angehört, sondern sie sogar nach einigem Staunen und Erwägen aufgegriffen und sich das Unerhörte einer solchen Beteiligung wahrhaftig gleichfalls zugetraut. Ja, noch mehr: selbst heute, da es in aller Nüchternheit des Werktages an seiner Arbeit saß, ließ es die Vorstellung nicht wieder fahren, daß es dieses unbeschreiblichen Glückes teilhaftig werden könnte. Denn aller Träume Erfüllung, alles jahrelangen Sehnens Gewährung schien ihm urplötzlich nahegerückt durch den kühnen Anstoß der weinseligen Nachbarin. Warum auch – wagte Gritli bereits zu denken – sollte es denn gar so eine Überhebung sein, wenn auch seinesgleichen nach vielen Jahren bescheidenen Sparens einmal das Glück einer kleinen Reise genösse? Wenn das die ernsten Plätterinnen nebenan verantworteten, dann durfte sicher auch das Nähgritli dabei sein!
Ach, sein Herz faßte es ja kaum, und die Phantasie, seine sonst immer flügge Phantasie ließ es plötzlich im Stiche. Es vermochte sich auf einmal gar keine Bilder mehr von dem zu machen, was seiner Göttliches harren würde. Solange alles ein unerfüllbarer Traum geblieben war, hatte es sich deutlich die geheiligten Stätten des Vaterlandes vorstellen können: die Landschaft von Uri in ruhevoller Weihe, himmelhohe Berge, und in ihrem Schutze das Rütli, »das stille Gelände am See«. Jetzt, wo es Wahrheit werden sollte, daß es diese Orte beträte, jetzt verschwommen ihm die so oft im Geist erschauten Bilder zu einem unbestimmten und unfaßbaren Nebelglanz, vor dem es zum voraus überwältigt die Augen schloß.
Das gute Wesen hatte zu nähen aufgehört und stichelte einen Augenblick zerstreut mit der Nadel in das abgeblichene, gestickte Nähkissen. Es schwebte nur noch ein großes, bedenkliches Fragezeichen über dem leuchtenden Plan. Gritli mochte aber niemand davon reden; es hatte auch den Schwestern Tulliker gestern nur geantwortet, es sei ihm vor dem Samstagabend unmöglich, ihnen etwas Gewisses über sein Mitgehen zu sagen, und sie sollten sich vollständig unabhängig von seinem Anschluß auf ihre Reise vorbereiten.
Es handelte sich um die leidige Geldfrage. Denn ungeschickter als just eben hätte es sich in Jahr und Tag nie treffen können. Gerade vor wenigen Tagen hatte es wieder ein ordentliches zusammengespartes Sümmchen in seinen Schatz eingeliefert und nur einen ganz unbedeutenden Barbetrag daheim behalten, eben recht bemessen für die laufenden Ausgaben der nächsten Zeit. Wenn es also die Reise mitmachen wollte, konnte es nur geschehen, falls es den rückständigen Lohn von fünf Tagen der letzten Woche und denjenigen von fünfen der eben angetretenen am nächsten Samstag hinzubekam. Darüber hätte zu keiner andern Zeit ein Zweifel bestanden. Aber wie fatal es der Zufall nur fügen kann! Es hatte eine einzige Kundschaft, die ihm den Lohn unregelmäßig auszahlte und dies manchmal über Wochen hinweg vergaß. Das war die junge Frau Stadtschreiber Gebnauer im Hause zum Steinbock. Und während Gritli sonst fast jeden Tag anderswo nähte, gehörten in dieser und der vergangenen Woche zehn volle Tage gerade diesem gleichen einen Hause. Das junge Ehepaar hatte sich ein hundertjähriges Winzerhüttchen im Gebnauerschen Rebberge hinter der Stadt zu einer luftigen, kleinen Sommerwohnung ausbauen lassen, und die Frau wünschte es auf den nahe bevorstehenden Geburtstag ihres Mannes zu beziehen und mit einem Feste einzuweihen. Da hieß es nun über Hals und Kopf die Ausstattung an Tisch- und Bettwäsche vollenden, und die Frau Stadtschreiberin hatte von Gritlis Gefälligkeit verlangt, daß es alle andern Kunden so lange warten lasse, bis diese ausnahmsweise, eilige Arbeit erledigt sei. So war es denn vor vierzehn Tagen von Haus zu Haus gelaufen, bittend und entschuldigend, um so viele Tage frei zu bekommen, und hatte nur den Montag bei Herrn Rych bestehen lassen. Denn diesen, seit achtzehn Jahren nie verrückten Nähtag hätte es um keinen Preis anzutasten gewagt.
Noch viel weniger war daran zu denken, das, was es zur Reise benötigte, von dem bereits an den Gestrengen ausgelieferten Gelde etwa wieder zurückzufordern. Potztausend jawohl! Der würde das arme Gritli mit seinen Rollaugen nicht übel durchbohrt haben! Wozu? Zu einer kostspieligen Ausfahrt? Das hatte er bloß noch erleben wollen, daß jetzt bereits auch die Leute solchen Schlages ihre Sonntagslustbarkeit bis an den Vierwaldstättersee auszudehnen verlangten!
Gritli schauderte die Haut beim bloßen Drandenken.
Aber ebenso unmöglich wäre es dem verschämten Jüngferchen gewesen, irgend jemand seine Verlegenheit anzuvertrauen. Gritli hatte zeitlebens Geldangelegenheiten mit äußerster Genauigkeit und Zartheit erledigt, jedesmal wie eine unerfreuliche, sein Gefühl ein wenig demütigende Notwendigkeit, von der man am besten möglichst wenig spricht. Auszuleihen und wieder zurückzuempfangen, oder gar selber Geld zu entlehnen, das waren Dinge, die es floh und fürchtete, im richtigen Instinkt, daß sie, ob noch so viele andere umher derartiges ohne Anstoß trieben, seiner besonderen Natur viel mehr Verletzendes bringen müßten, als sie ihm in irgendeiner Lage zu nützen vermöchten.
Nein, nein! Gritli machte sich, wie um sich vom bloßen Aufzucken solcher Hilfsgedanken zu reinigen, jetzt mit verdoppelter Emsigkeit wieder ans Nähen.
Übrigens wäre jetzt gar niemand mehr da gewesen von jenen, die vordem liebevoll an seinem Wohl und Weh Anteil genommen hatten und denen es, wo es allein nicht fertig wurde, im Vertrauen ein Wort sagen, eine Bitte um Rat vortragen durfte. Einst hatte eine ganze Generation Frauen in seinem Arbeitskreise gelebt, die sämtlich die Liebe besaßen, sich in die Verhältnisse und Lebensbedingungen der kleinen Leute um sie her hineinzudenken. Fräulein Charlotte Rych voran, dann die alte Frau Gebnauer, des Stadtschreibers Mutter, nicht zuletzt auch die liebliche Frau Oberrichter Degerfeld, die so früh hatte sterben müssen, aber Gritli in ihrem Knaben Paul auf Jahre noch ein inniges Bindeglied zum Hause zurückgelassen hatte.
War das nun bloß ungünstiger Zufall, oder war es ein Merkmal des neuen Geschlechtes überhaupt, daß sich für alle jene verschwundenen Sorglichen kein Ersatz mehr einstellte? Seltsam genug nahm sich der Widerspruch schon aus zwischen den Schlagwörtern, die aus den vielen Vereinen zur Besserung sozialer Zustände durch die Luft schwirrten, und dem gleichzeitig doch unleugbaren Niedergang jener frühern gütigen Fürsorge von Person zu Person.
Freilich, Gritli gestand sich als Entschuldigung selber ein, daß die Arbeitsleute und Dienstboten von heutzutage ihrerseits auch danach seien, um es selbst den Wohlwollendsten schließlich zu verleiden. Aber persönlich litt es unter dieser kälter gewordenen Luft und vermißte auch besonders schmerzlich, daß in keinem seiner jetzigen Kundenhäuser mehr Kinder heranwuchsen. Wenn ehedem kleines Volk stundenlang mit Arbeit oder Spiel in seine gute Hut gegeben wurde, wie manches Fädchen der Anhänglichkeit spann sich da an! Gritlis schöne Geschichten fesselten jedes, und seine Kunst, alles zum Frieden zu lenken, übte einen wohltätigen Einfluß, wo immer es auf widerborstige kleine Köpfe einwirkte. Doch mit den Jahren waren seine Kleinen alle groß geworden, manche Verhältnisse hatten sich von Grund aus verschoben, und seit drei Jahren entbehrte Gritli auch die persönliche Nähe des letzten und teuersten seiner Pfleglinge, Paul Degerfelds, mit dem es durch fünfzehn Jahre jeden Samstag und wie manchen Sonntag nachmittag zusammengekommen und in inniger Kameradschaft verwachsen war.
Diesem mutterlosen Knaben hatte es in den Jahren, als er noch so unendlich viel fragte, mit geringem Wissen, aber viel richtigem Gefühl über hundert Dinge die ersten Aufschlüsse gegeben. Dann hatte es ihm seine Märchen und alle wahren Geschichten, die es wußte, so lange erzählt, bis Paul ihm über den Kopf wuchs und die Zeit begann, wo es mit seinen kleinen Eigentümlichkeiten den Jungen zu allerlei Späßen und Nachahmungskünsten anzureizen begann und diese dann voll unendlicher Langmut ertrug. Ja, es hatte sich Paul schließlich rückhaltlos zum Studienobjekt ergeben. Mein Gott! was hätte der Junge an dem simpeln, zaghaften, früh ältlichen Jungferwesen Verfängliches zu entdecken gefunden! Er kannte bald alles, alles aus Gritlis uninteressantem Leben. Aber dem warmherzigen Burschen war das ein ganzes Reich, und die Betätigung all seiner Phantasterei und Zärtlichkeit ging auf sein Verhältnis zu Gritli über, das er »Sonnenschein« taufte und in zahllosen Gedichten verherrlichte. Dieser Ehrenname aus dem Degerfeldschen Hause war dem guten Wesen seitdem verblieben, und es wurde bis heute da und dort scherzhaft so genannt. Briefe waren jetzt die einzigen Lichtstrahlen, die aus jener Freundschaft noch in sein vereinsamtes Dasein fielen. Denn Paul war seit drei Jahren auf der Universität und sein Vater aus der Stadt fortgezogen. Auch gab es schon immer längere Pausen zwischen den einzelnen Episteln. Aber Gritli begriff dies wohl. So ein junger Herr und Student! Wäre es nicht sein Paul gewesen, so hätte das treue Gedenken überhaupt nicht so lange vorgehalten! Wenn einmal gar zu lange kein neuer Brief eintraf, holte es die alten hervor und die sorgfältig aufgehobenen Gedichte und stillte an ihnen seine Sehnsucht nach dem fernen Freund.
Gritli fühlte sich auch in diesem Augenblick wieder ganz aufgeheitert durch die Gedanken an ihn. Wenngleich solche beglückende Umstände nie wiederkehren konnten, so hatte es doch Schönes genug erleben dürfen, das gestand es sich oft, und noch ging es ihm ja auch in dem weniger freundlich gewordenen Lebenskreise ganz gut. Es hatte seinem Gotte nur zu danken. Man konnte Schlimmeres sehen allenthalben in der Welt umher als solche Vereinsamung.
Ein leises Knistern, Rascheln und Schwirren weckte es aus seinem Sinnen auf.
Oben, dem Sockel des Hauses entlang, wuchs eine Laubhecke, von einem feinen Drahtgitter zusammengehalten, und ließ nur die Ausschnitte der Kellerfenster frei. An diesem vor den Katzen geschützten Ort entdeckte Gritli jetzt, gleich zunächst seinem Fenster dicht am Boden, ein schönes Vogelnest, aus dem eben vorsichtig ein Rotkehlchen entflatterte.
Das Herz bebte Gritli vor glücklicher Erregung. Rasch und behutsam rückte es seinen Stuhl unter das Fenster und stellte sich einen Augenblick forschend darauf. Da erblickte es fünf strohgelbe Eier in dem Neste, mit braunen Tupfen aufs zierlichste übersprengt. Ach, welch eine holde Gesellschaft hatte es da unverhofft in seinem Verließ gefunden! Alsbald sah seine Phantasie das Werden und Gedeihen einer ganzen auszubrütenden Familie als Erlebnis dieses Sommers vor sich stehen, und damit hatte es auch schon die neuen Nachbarn mit seiner ganzen Liebe umschlossen. Indem Gritli, noch so auf dem Stuhle stehend, sich einen Augenblick der Vorstellung überließ, wie sich dies Schauspiel der heranwachsenden Vogelfamilie von einem der Nähtage zum andern lieblicher entwickeln mußte, und dabei zerstreut in die Wipfel der großen Kastanienbäume hinausschaute, erschien vor dem Fenstergitter urplötzlich Herr Rych und sah die Arglose aus nächster Nähe dastehen und faulenzen.
Ein pfiffiges Lächeln ging über das ungute alte Gesicht, grad' als hätte er nun endlich wunder was längst Erlauertes ertappt.
»Mich dünkt,« sprach er boshaft, »Ihr werdet zu dem, was Ihr da tut, wohl noch Licht genug behalten!« und ließ mit barschem Wink einen Pflanzenkübel, den der Gärtnerbursche hinter ihm daherschleppte, just mitten vor Gritlis Fenster hinsetzen. Der blattarme Oleanderbusch schien hier einen geschützten Standort bekommen zu sollen.
Dunkelrot übergossen, war Gritli vom Stuhl herabgestiegen und nahm in unbeschreiblicher Aufregung seine unterbrochene Arbeit wieder auf.
»Es war doch ein böser, böser Mann, der Herr Rych!« – es vermochte kaum die Nadel einzufädeln, so war es verstört. Alle schlimmen Dinge, die es in diesem Hause schon erlebt hatte, tauchten vor seiner Seele auf, und es empfand trotz all seiner Sanftmut jetzt einen heiligen Zorn darüber, daß diesem Alten nie jemand ins Gesicht sagte, was für ein abscheulicher Kujon er sei! Solch ungerechten Spott und solch einen häßlichen falschen Schein, wie er durch das unglückliche Zusammentreffen da entstanden war, verwand es nicht, und dennoch fühlte es auch nicht den Mut, sich bei dem Unhold nachträglich zu verteidigen.
Mit zornigem Ruck zog es den endlich erwischten Faden durchs Nadelöhr, doch zum Nähen kam es nicht. Es stichelte mit unsichern Fingern nur an seiner Leinwand herum und traf kaum die Stelle, wo es hineinstechen wollte. Schließlich rollte ihm eine Träne der Hilflosigkeit auf die Hand.
Was hatte Herr Rych sich vor Gritlis Augen nicht schon alles erlaubt! Wenn es allein an den empörenden Streich dachte, den es am letzten Neujahrsmorgen machtlos hatte mitansehen müssen, einen Streich, so recht von Geiz und Bosheit ersonnen!
In Altachen bestand noch die Sitte, daß die Kinder, auch die aus bessern Bürgershäusern, am Vormittage des ersten Jahrestages in kleinen Scharen in die Häuser gingen und einen uralten, mehrstimmigen Neujahrsspruch sangen, worauf sie mit Backwerk beschenkt und mit den Glückwünschen an ihre Eltern beauftragt wurden. Das war für die Kleinen ein Fest und spielte sich immer in der besten Manierlichkeit ab. Was tat aber Herr Cornelius Rych, der sich an nichts Harmlosem freuen konnte und überdies in seiner Knickerigkeit seit Jahren ärgerte, daß Magdalene jedesmal für dieses Kinderpack einen besonderen Vorrat Gebäck anfertigte, – was tat er dies Jahr, um die Kleinen ein für allemal los zu werden?
Er veranlaßte jedes dieser Grüppchen Kinder, ins Vorzimmer einzutreten, hieß sie warten und fuhr damit fort, bis eine ansehnliche Zahl beisammen war, die ihm die Altachener Jugend genügend zu vertreten schien. Und wie sie nun alle gespannt und beklommen mit großen, erwartungsvollen Augen der Gabe harrten, die da kommen mochte, schloß er laut und beängstigend die Türe mit Schlüssel und Riegel hinter ihnen ab. Dann holte er aus dem Ofen einen ungeheuern Hafen mit Kamillentee und zwang jedes einzelne Kind, eine mächtig große Tasse voll von der lauwarmen Brühe ohne Zucker hinunterzutrinken, ehe es aus der verschlossenen Stube wieder entkam. Was hatten Gritli und Magdalene in ihrer machtlosen Empörung ausgestanden, nebenan in der Küche das Geheul und die Angstrufe der Kleinen mit anzuhören, die nicht wußten, welchem Kindlifresser sie da plötzlich in die Hände gefallen seien und was alles er noch mit ihnen vorhabe!
Wenn Gritli jetzt daran zurückdachte und an manche andere Ränke, so hätte es fast das Herz gefaßt, dem reichen Bösewicht auf Grund der heutigen Beleidigung endlich seine Dienste zu kündigen.
Allein der Gedanke an Magdalene, die dann vollends niemand mehr hatte, ließ es wieder davon abstehen. Denn die – o, die fand nimmermehr den Mut, ein Gleiches zu tun. Dazu war sie schon zu mürbe und hatte längst die gebotenen Stunden versäumt, wo sie den Herrn zur Strafe für seine Bosheit kurzweg hätte stehen lassen sollen, ohne Bedienung, allein wie er war, im leeren Hause. Jetzt befürchtete Herr Rych nichts dergleichen mehr und ließ drum seine Lust am Kränken nach Belieben an ihnen allen aus. »Natürlich!« sagte sich Gritli, »wie sollte er nicht?« Und eine Ahnung ging ihm auf, daß die Mißhandelten und Übervorteilten sich selber mitschuldig machen an der großen Ungerechtigkeit der Welt, wenn sie durch Unterlassung oder schwächliche Unzulänglichkeit der Gegenwehr einen Übeltäter in seiner Schlechtigkeit bestärken und sicher machen. Denn auf diese Weise schlägt ihm sein Unrecht ja in der Tat zum Vorteil aus, und er fühlt sich ermutigt, das gleiche bei erster Gelegenheit aufs neue zu versuchen.
Gedrückt und zerquält, beinah in seine Arbeit sich verkriechend, sehnte Gritli das Ende dieses Tages herbei und hob erst wieder ein wenig den Kopf, als endlich die Sonne von Westen über die Baumkronen zu ihm herabdrang und die nahe Feierabendstunde ankündigte.
Es schüttelte sich förmlich, als es diesmal das Gittertor des Rychschen Gartens wieder für eine Woche hinter sich hatte und schritt, noch wie von einer Last beschwert, von dannen.
Auf Weg und Stegen traf es Menschen, die sich nach des Tages Mühe in dem schönen Abend ergingen. Aus nahen Gärten tönte Musik, noch sangen die Amseln, man hörte kräftiges Kegelschieben und allerlei lustige Rufe. Da atmete Gritli mit einem Male tief auf. Warum ging es denn eigentlich so bedrückt einher? Was war geschehen? Einmal ein schlimmerer Tag zwischen manchen guten, ohne seine Schuld, war das nicht alles?
Wo es vorüberkam, ward ihm von Frauen und Herren ein freundlicher Gruß. Das tat ihm wieder wohl in seinem bescheidenen Herzen, fast wie eine sichtbare Herstellung seiner verletzten Ehre. Wenn es auch nur das Nähgritli war, so durfte es sich doch in der Öffentlichkeit geachtet sehen. Da raffte es sich denn auf und suchte den heutigen schlimmen Werktagsstaub von seiner Seele zu schütteln. Es drehte das Näschen nach dem Winde, der ihm so wonnigen Fliederduft entgegenbrachte, und schlug einen frischeren Schritt an. Das kleine Päckchen, das ihm Magdalene mitgegeben hatte, mit umzutauschenden Leinenbändern und Knöpfen, ließ es plötzlich unter seine schwarze Schürze gleiten, fast verschämt, als wollte es, da über sein eigenes Gemüt endlich die Feierabendstimmung kam, nun auch diejenige der andern selbst nicht mit dem Anblick eines Arbeitsbündels mehr stören.
Im kühlen Baumschatten der Stadtpromenade nahm es noch ein Weilchen auf einer Ruhebank Platz und schaute stillatmend übers Land hinaus. Fern in einem schleierhaften Dunste zeichneten sich die Alpen, gerade wie man es in dieser Jahreszeit als Zeichen für lang andauerndes schönes Wetter gern sah. Da kamen Gritlis Gedanken endlich wieder zu seinem großen Vorhaben zurück, und eine heftige Unruhe fuhr in seine Glieder, daß es sich erheben mußte und in seiner bangenden Vorfreude jetzt eilig der dämmerigen Stadt und seiner hochgelegenen Wohnung zuschritt.
»Weiß Trost! schon wieder gelbe Rüben und Hammelfleisch!« dachte Gritli, als im Laufe des nächsten Vormittages der kräftige Geruch dieser zwei Gerichte aus der Gebnauerschen Küche in alle Räume des Hauses drang.
Den Menschenkindern, die ihren Verdienst während der sechs Wochentage in verschiedenen Häusern suchen und jeden Mittag ihre Füße unter einen andern Tisch strecken müssen, spielt der Zufall manchmal mit der Kost wunderliche Streiche. Ein alter Schneider in Altachen, der zu seiner Zeit, wie es damals noch ortsüblich war, zum Anfertigen von Knabenkleidern von Haus zu Haus auf Arbeit ging, erzählte oft genug von den schönen gelben Nebelbohnen, welche die Altachener Köchinnen besonders meisterlich in ihren Gemüsegärten zu ziehen und auf dem richtigen Punkte, nach den ersten Nebelnächten abgenommen, zu kochen verstanden. Durchschnittlich jeden zweiten Tag im Herbste habe er dieses Gemüse mit magerem Speck vorgesetzt erhalten; in einem gewissen Jahre aber, als diese Bohnen besonders gut gerieten, sei das durch drei Wochen ohne Unterbrechung an achtzehn Werktagen nacheinander vorgekommen.
Ähnliches hätte auch Gritli Brunnenmeister in all seiner lauteren Wahrhaftigkeit von Rüben und Hammelfleisch beteuern können; doch blieb ihm heute wenig Muße, den vertrauten Duft zu beachten. Denn auf seinem Zuschneidetische hatte es Arbeit in einem Maße für die übrigen fünf Wochentage zugeteilt gefunden, daß der ganze Unverstand der jungen Frau Stadtschreiberin sich in diesem Leinwandberg ein Monument gesetzt zu haben schien, und das gute Wesen, das sich keine Einsprache zu erheben getraute, nicht wußte, wie es das alles auf den Samstag bewältigen sollte. Es lag dieser Zumutung keineswegs Härte zugrunde, oder die Absicht, unverhältnismäßige Leistungen um den geringen Taglohn herauszupressen, sondern lediglich die grasgrüne, lieblose Gedanken- und Herzensträgheit einer leichtfertigen Frau Parvenue.
Auf einer Schlittenpartie hatte sich der junge Herr Gebnauer vor etlichen Jahren in die schönen braunen, nur ein wenig hart dreinblickenden Augen des Fräuleins Hedwig Bläuler verlugt, der einzigen Tochter eines Bauunternehmers, der ehedem Maurermeister gewesen, aber durch geschickte Spekulationen in der Zeit der Umgestaltung Altachens zu einem Vermögen gekommen war und nun breitspurig draußen residierte, eine halbe Stunde vor der Stadt, auf dem Landgut eines verarmten Patriziergeschlechts. Trotz der resoluten Vorstellungen seiner Mutter war der Stadtschreiber von den Fesseln nicht wieder losgekommen, in die ihn das frische und stattliche Mädchen geschlagen hatte, und es war der würdigen Herrin des Hauses »zum Steinbock« ein rechter Kummer gewesen, zur Nachfolgerin in den patriarchalischen Besitz ein weibliches Wesen erwählt zu sehen, dem nach ihrer Ansicht für diese Stellung aller Untergrund einer richtigen Erziehung fehlte. Im Hause der Eltern Bläuler lebte man hoch erhobenen Kopfes in den Tag hinein, als wäre der Genuß des Lebens, zu dem man sich so gewaltsam mit den Ellbogen emporgebracht hatte, das einzige Erstrebenswerte, während jene Treue im Kleinen dort etwas völlig Unbekanntes blieb, die als Merkmal guter Bürgerart im »Steinbock« von jeher Brauch gewesen war.
Aber nichts von alledem hatte der Sohn in den braunen Augen gelesen. Nun war der erste Rausch verflogen, und schon wechselten in der jungen Ehe Zeiten launenhafter Liebesbezeugungen mit solchen spöttischer Kälte und aufgeregter Unbefriedigtheit, wie die Wolken am Aprilhimmel. Ein Glück, daß die ehrenfeste Matrone hatte sterben können, ehe die neue Zeit in ihrem Hause Einzug gehalten. Als eine ihrer letzten freundlichen Taten ließ sie noch die getäfelte Nähstube in lichter Farbe neu streichen, weil Gritlis Augen, wie sie sagte, allmählich die jahrelange feine Arbeit spüren müßten und daher mit einer helleren Stube eine Nachhilfe brauchten. Darin war freilich ein anderes Wohnen als im Kellerloch bei Herrn Rych. Licht und Luft kamen durch stattliche Fenster herein, wenn sie gleich nur auf eine Hintergasse gingen. Aber auf was für eine trauliche! Es war die letzte am obern Ende der Stadt, und über die Nachbargiebel grüßten schon die grünen Wipfel der Stadtpromenade herein.
Alles aber, was da vom Nähplatz aus zu sehen war, Gass' auf und Gass' ab, kannte Gritli seit Jahren so genau, als wäre es hier zu Hause. Zumal ein einstöckiges Häuschen gegenüber war ihm lieb und vertraut. Das hatte ein steiles Hohlziegeldach mit absonderlichen Schloten und Wetterfahnen, zwischen denen ein Ausblick auf die bewaldeten Höhenzüge im Süden freiblieb und an hellen Abenden sogar ein paar ferne, höchste Schneegipfelchen sichtbar wurden. Eine freundliche, greise Appenzellerin hauste da, und es bot einen heitern Anblick, wie im Gegensatz zu dem grauen Gemäuer und verwitterten Dach ihres Witwenhäuschens alles übrige in der sprichwörtlichen appenzellischen Reinlichkeit erglänzte. Wenn drüben die Fenster offen standen, konnte Gritli bis ganz in die Räume hinein die spiegelnde Sauberkeit bewundern, besonders in der tiefer gelegenen Schlafstube der Nachbarin, wo der großblumige Teppich immer gleich exakt zurecht gezupft dalag, der mächtige Ohrenlehnstuhl nie von seinem Platze verrückt schien, und an den Türen der Wandschränke die vielen Scheibchen blitzblank herüber funkelten, wenn sie gegen Abend vom lustigen Widerschein der sonnenbeglänzten Nachbarsfenster getroffen wurden.
Jetzt aber schnitt Gritli emsig seine Kissenbezüge zurecht, einen um den andern, damit sie am Nachmittage von den Mägden genäht werden könnten. Die Uhr im Gange draußen schlug eben halb zehn. Da kam endlich auch die Frau Stadtschreiberin zum Vorschein. Ihr dunkelblondes Haar war zwar noch nicht ordentlich aufgesteckt, als sie in die Nähstube trat, guten Morgen zu wünschen, aber in der reich bebänderten Morgenjacke stellte sie mit ihrer hohen Figur auf den ersten Anblick doch unleugbar etwas vor.
»Diese Woche, Gritli, muß also sämtliches neue Bettzeug für das Rebhäuschen fertig werden!« schnäbelte sie. »Nicht wahr, Sie lassen mich nicht im Stiche?« Dabei streichelte sie flüchtig mit der Hand über das glatte Leinwandbällchen, das so appetitlich aus seinen gelösten blauen Umschlagbändern quoll.
»Es wird wohl gehen,« lispelte Gritli gehorsam, dachte aber dabei, wie so gar keinen Begriff diese junge Frau doch haben müsse von den einzelnen Arbeiten, die sie zuteile. Für leichte Dinge, die bloß recht groß aussahen, wie meterlange Nähte und Säume an Leintüchern, setzte sie manchmal einen ganzen Tag an; derweil bewältigte Gritli alles in ein paar Morgenstunden. Und umgekehrt nahm sie an, Knopflöcher, weil sie klein seien, mache man im Handumdrehen beim Dutzend.
»Was aber das Tischzeug anbelangt,« verfügte die junge Herrin weiter, »so kann das aus dem Vorrat meiner Schwiegermutter im großen Schrank auf der Laube genommen werden. Für den Gebrauch draußen im Rebberg ist das alte Zeug ja eben recht!«
Durch Gritlis schmale Figur lief bei diesen Worten ein Beben, als hätte sein frommes Gemüt eine Blasphemie angehört.
»Suchen Sie mir gleich bis Mittag achtzehn Servietten von den besten heraus! Soviel werden wir schon noch zusammenbringen!« meinte die Frau Stadtschreiberin. »Dann will ich sehen, was für Tischtücher ich dazu finde. Es sind so vielerlei verschieden gemusterte unter dem altmodischen Haufen!«
Sie war, indem sie so redete, ans offene Fenster getreten, von der wehenden Kühle gelockt, die aus der schattigen Gasse hereinströmte, und während sie ihr rosig verschlafenes Gesicht in dem frischen Luftzug vollends wach badete, reckte sie neugierig den Hals, um über die stille Häuserreihe in die morgendlich belebte Hauptstraße hinaus zu spähen.
»Seh' ich recht?« rief sie plötzlich, »dort drüben geht ja schon Ida? Ida! Ida! guten Morgen! Komm' doch schnell herauf!« Gleich darauf schallte an der Treppe eine laute Begrüßung und Frau Gebnauers Entschuldigung, daß sie noch im Negligé stecke. Dann verklang das geräuschvolle Gespräch der beiden Damen hinter der zufallenden Türe des Salons überm Gang.
Noch etliche Stück Bezüge schnitt Gritli zurecht, dann knabberte es, obwohl mutterseelenallein, mit der ganzen verschämten Andacht, mit der alle Hausnähterinnen essen, an dem bereitstehenden Frühstückchen. »Achtzehn gleiche Servietten von den besten?« seufzte es dabei. Wo sollten die noch herkommen, nachdem seit zwei Jahren in den kostbaren Vorräten so gottlos gehaust wurde! Hatte Gritli doch bald nach der alten Frau Gebnauer Tod, als die Gipser und Maler im Hause wirtschafteten, ganz tadellose Tischtücher zum Zudecken von Schränken und Treppengeländern verwendet gefunden, und das feinste Weißzeug der Verstorbenen wurde jetzt, nachdem es ohnehin in den mörderischen Alltagsgebrauch gegeben worden war, nur unachtsam von den eigenen Mägden gewaschen und geplättet. Die Aussteuer der jungen Frau dagegen mußte von den Jungfrauen Tulliker besorgt werden, unter der persönlichen Überwachung der Schwiegermutter Bläuler, die zu diesem wichtigen Behuf immer den ganzen betreffenden Tag hier im Hause zubrachte.
Einmal, am Anfang, hatte Gritli sich ein Herz gefaßt und ihre altvertrauten Güter bescheiden verteidigt, um ihnen Schonung zu erlangen. Aber die junge Frau war sichtlich der Meinung, der ganze Hausschatz, den sie angetroffen habe, sei nichts, womit man vor Freundinnen und Gevatterinnen Ehre einlegen könne, und blieb über der üppigen modernen Aussteuer, die sie selber gebracht hatte, mit den hochgestickten auffälligen Namenszügen und dem übertriebenen Ausputz, erbarmungslos blind für die stillere Köstlichkeit des Alten. Richtig fand denn Gritli von den Staatsservietten auch kein ganzes Dutzend mehr brauchbar vor; der Rest stellte eine ganze Anklageakte von Lieblosigkeit und Unverstand dar.
Draußen war jetzt wieder umständlicher Abschied auf der Treppe, und eine Einladung der Freundin Ida für Donnerstag nachmittag wurde mit entzücktem Wortschwall angenommen. Heute um drei Uhr traf man sich ohnehin bei Agnes Wirth. »Also auf Wiedersehen denn! Adieu! Adieu!«
Eine flüchtige Minute erschien Frau Hedwig, nun ganz belebt, bei Gritli wieder. Die Serviettenfrage wurde mit einem Achselzucken erledigt. Die gelben Rüben und das Schaffleisch begannen zudringlicher über den langen Gang zu duften und mahnten die Hausfrau, daß auch noch in der Küche Nachschau zu halten sei. Trällernd war sie im nächsten Augenblicke der Nähstube für den heutigen Tag entschwunden.
So ein Dutzend junger Frauen, wie sie zur Zeit das Städtchen aufwies, alle wo nicht verwandt, so doch Schulgenossinnen oder Institutsfreundinnen, wußten sich in diesen ersten Ehejahren, besonders so lange einzelne noch keine Kinder zu hüten hatten, gar tapfer über die langen Nachmittage wegzuhelfen, in denen ihre lieben Männer im Geschäft oder Amte steckten. Heute war es ein Lesekränzchen, das sie zusammenführte, morgen nahmen sie an einem Verein teil, in dem für Arme, übermorgen an einem, wo für taubstumme Kinder gearbeitet wurde. Am vierten halfen sie Verdienstarbeit für bedürftige Frauen herrichten und ausgeben oder die Verwaltungsgeschäfte einer Kostanstalt für auswärtige Schulkinder und Arbeiter besorgen, kurz, Anlaß sich zu belustigen oder zu betätigen, fand sich jeden Tag in der regsamen Stadt. Und wenn Frau Hedwig Gebnauers hohlem Köpfchen und trägem Wesen die Beteiligung an alledem nichts weiter als eine Gelegenheit bedeutete, dem Alleinsein mit der leeren eigenen Person zu entrinnen, so stellte diese Drohne in der Tat eine Ausnahme dar unter den bienenfleißigen Altachenerinnen, die mit ihren warmen Herzen, hellen Köpfen und rührigen Armen ein besonderes Ansehen im Lande genossen und der staatlichen Fürsorge auf allen geeigneten Gebieten als intelligente, wackere Hilfsschar dienten. Die Tage, an denen man unvermeidlich mit angreifen mußte, waren der hübschen Stadtschreiberin auch insgeheim die unliebsten; die Lesetage behagten ihr gleichfalls nicht sonderlich; nach ihrem Sinne war eigentlich nur der Dienstag oder der Donnerstag. Die standen frei für jene Einladungen reiheum, bei denen man ausschließlich plauderte, prunkvolle Handarbeiten den Genossinnen ausbreitete und einander die neuesten Fortschritte im Gebiete der Backkunft und eingemachten Früchte vorführte. Und während bei diesem betriebsamen Leben jede andere der Frauen und Fräulein sich die nötigen Tage und Stunden für ihre häuslichen Pflichten freihielt, sah man Frau Hedwig sozusagen jeden Nachmittag auf solch einem Zweckausgang. Was unterdessen daheim im Steinbock zustande kam, wo die Dienstboten sich selbst überlassen blieben, bedachte manche gute Hausfrau mit Kopfschütteln. Da mochte auch Gritli sich an diesen ersten Wochentagen abplagen, soviel es wollte, die beiden zu seiner Hilfe befohlenen Mägde machten sich das Flatterwesen ihrer Herrin nach Möglichkeit zunutze, erschienen spät und blieben faul.
So wurde es Donnerstag, ehe man sich's versah, und über dem verdoppelten eigenen Fleiß fand Gritli kaum je einen Augenblick Zeit, seinem großen Reiseplan ein wenig nachzuhängen. Heute hatte die Einladung der Freundin Ida die Hausfrau wieder entführt, der Berg von Arbeit, der aus dem kleinen Leinwandbällchen erstanden war, lag noch immer gleich hochgeschichtet da, und wieder überließen sich die Mägde, ihr Weißzeug im Schoß, in dieser Nachmittagsstunde ganz ungescheut einem Schläfchen. Da empfand Gritli plötzlich bittere Sorge. Wie wollten die das alles bis zum Samstag bewältigen?
Mutlos ließ es einen Augenblick seine fleißigen Hände sinken. Hatte sich denn alles wider sein Glück verschworen? So fahrig und gedankenlos wie in diesen Tagen, schien ihm, sei Frau Hedwig sonst doch nicht gewesen; solche Zumutungen hatte sie noch nie gestellt. Und nun diese schlechte Hilfe!
Allein Gritli selber wollte zu dieser Stunde ein müdes Gefühl über die Augen schleichen. Draußen lag die erste große Wärme über den Gassen und webte still und träumerisch herein. Die Fliegen summten schlaftrunken umher, setzten sich einem so schwer auf die Hände, aufs Gesicht. Dazu sang und schnurrte eintönig eine Kreissäge aus der Ferne, ab und zu holperte irgendwo schwerfällig ein Lastwagen vorüber, während drunten kaum ein Mensch ging und am Häuschen der Appenzellerin alle Läden zugestellt waren, so daß selbst das vertraute Gegenüber mit geschlossenen Augen zu ruhen schien. Eine verhexte Schläfrigkeit um und um.
Es brauchte Gritlis ganze Gewissenhaftigkeit, um nicht nachzugeben. »Wie,« sagte es plötzlich, »du siehest den Splitter in deines Bruders Augen und gewahrst nicht den Balken in deinem eigenen?« Gewaltsam rüttelte es sich empor, daß ihm die Schere vom Schoß herabglitt und mit ihrem Rasseln die Schlafenden einen Augenblick aufschreckte. Aber erst der Duft des Vieruhrkaffees aus der Nachbarschaft vermochte die Faulenzerinnen munter zu zu machen. Und jetzt wußte Gritli mit Güte und bittendem Zuspruch von den beiden für den Rest des Tages endlich ergiebigen Beistand zu erlangen und sie durch eine in der Verzweiflung ausgeheckte Wette auch zur Erledigung des Quantums zu verpflichten, das ihnen für die folgenden Tage noch zufiel.
Derweil im Steinbock so über Hals und Kopf gearbeitet wurde, saß Frau Gebnauer bei der Freundin Ida vor einer wunderschönen, dreistöckigen Mandeltorte, sprach fleißig den in Kirschwasser eingemachten Pfirsichen zu und spann zwischen dem Löffeln und Beloben der Bewirtung leise einen neuen Schicksalsfaden, der nichts Gutes für Gritli verhieß. Dem munter schmausenden Frauenvolke war die Idee gekommen, zur Einweihung des Rebhäuschens eine kleine Aufführung auszudenken, und Frida Braunholzer, die derlei vortrefflich machte, sollte sie in Verse bringen.
Die Poetin hatte denn auch allsogleich, noch beim Kaffee, den Kuß der Muse verspürt und das Festspielchen so entworfen, daß sich Szenen aus der Vergangenheit und Gegenwart des ehrwürdigen Rebhäuschens abzuspielen hätten, Liebesszenen natürlich, wie eine ledige Dichterin es sich nicht anders denken kann. Zuerst: wie vor hundert Jahren geliebt worden sei. Darstellende: Ida und ihr Vetter. Das gab ein schäferhaftes Idyll aus der Zeit Marie Antoinettens. Wie eine Generation später die Herzen sich fanden und wie damals die Zeitläufte waren, dies vorzuführen, konnte höchst erwünschterweise einem stillverschämten Liebespaar aus der Bekanntschaft übertragen werden, das schon längst nach einer derartigen Gelegenheit schmachtete, um endlich das große Wort unter sich zu tauschen. Überdies war zu diesem Bilde die reiche, im Steinbock vorhandene Garderobe aus dem Anfang des Jahrhunderts prächtig zu verwenden. Wie aber aus dem alten Winzerhäuschen ein wohnliches Nest für zwei Liebende von heutzutage geworden war und wie diese sich gesehnt hatten, mit ihrem jungen Glück aus dem Maschinenlärm der modernen Stadt und dem Bauch der Fabrikschlote zu entfliehen, hinaus an den reinen Busen der Natur, – dies Bild mußte das Ganze krönen, und aus diesem Schlußtableau sollte der Hausherr selber mit der Hausfrau, die es zu spielen hatten, zuletzt heraustreten und die Zuschauer nunmehr als Gäste in das so besungene Haus geleiten.
Großer Jubel herrschte über diese herrliche Eingebung, und weil keine Zeit zu verlieren war, wenn das Einstudieren in der knappen Frist noch möglich werden sollte, so versprach die Dichterin, heute nacht gleich die Sache zu Papier zu bringen und morgen auszuarbeiten, damit bis übermorgen nachmittag die erste Leseprobe gehalten werden könne.
Frau Hedwig, entzückt, mit so viel Glanz ihr Häuschen zu beziehen, bot, damit nichts vorher unter die Leute komme, das Landgut ihrer Eltern zur Probe an, und es wurde festgesetzt, den Samstagabend hindurch eifrig an der Sache zu bleiben. Dem Stadtschreiber jedoch, der sich von jeher nur mit Widerstreben zum Mitspielen in Hauskomödien herbeigelassen hatte, gedachte seine Frau gar nichts von dem Vorhaben zu sagen, bis sie ihn am Samstagabend ahnungslos mitten ins volle Unternehmen hineinrufen ließe, wo er dann angesichts so vieler Mühe, die man sich für das Festchen gab, nicht mehr anders könnte, als seinen Part zu übernehmen.
Lange nach der gewöhnlichen Feierabendstunde erst legte Gritli heute die Arbeit aus der Hand, und auf dem Heimwege zählte es aus dem Gedächtnis immerzu das Beiseitegebrachte wieder her und überschlug den Rest. Ein bißchen mehr Zuversicht keimte nun doch wieder, daß die Aufgabe bis zum Wochenende zu bewältigen sei. Eine Hauptarbeit fiel noch auf morgen, – aber immerhin!
Befriedigter als die vorigen Abende erstieg es seinen dritten Stock, wo am Ende eines langen, steinernen Ganges die drei letzten Türen zu seinen Räumen führten.
»Guten Abend, Jungfer Gritli!« wurde es angerufen, als es an der offenen Türe der Plätterinnen vorüberhuschte. »Wie steht es denn bei Ihnen mit dem Sonntag? Noch immer nichts Gewisses?«
»Leider nicht!« erwiderte es, »doch hoffe ich schon, es werde sich machen lassen.«
»Könnten wir nicht ein wenig den Tagesplan beraten, wenn Sie es nicht eilig haben?« schlug die ältere Schwester Tulliker vor.
»Gleich lege ich ab!« stimmte Gritli bei, »und komme dann mit Verlaub ein Augenblickchen herüber!«
Die Türe zur Linken führte in seine geräumige Stube nach dem Hofe, gegenüber lag die winzige Küche und das Vorratskämmerchen, beide mit dem Blick auf dunkle Nachbarsmauern. Hurtig sperrte es überall die Fenster auf, die Abendluft hereinzulassen, goß, solange die Dämmerhelle noch vorhielt, seine Blumen und stellte sich dann bei den Schwestern ein.
Diese waren Gritlis einzige Wohnungsgenossinnen auf dem Gange, und da im ganzen Stockwerke keine Kinder wohnten, so viele deren sonst im Hause lebten, so herrschte in diesem Winkel des alten Baues eine fast klösterliche Stille, und die drei ledigen Nachbarinnen hausten da so ungestört wie in einem abgeschlossenen Eigentum. Doch welche grundverschiedenen Welten Wand an Wand! Bei Gritli warme Frömmigkeit und kindlicher Frohsinn innen und außen, hier drüben harte, trockene Sektiererei, die bis in die Wohnung der Schwestern ihren Ausdruck fand. Die Mauern des Zimmers starrten in freudlos grauer Tünche, kaum da und dort mit einem eingerahmten Bibelspruche behängt, und außer an den tadellos weißgewaschenen Deckchen auf Kommode, Tisch und Sofa, war kaum irgendwo die sorgliche Hand weiblicher Insassen zu spüren. Es hätte ebensogut die erste beste Mietsstube eines Reisepredigers ihrer Sekte sein können.
Den einzigen Stolz der Bewohnerinnen bildete ein poliertes Bücherbrett aus schwarzem Holz, mit einer Reihe frommer Schriften drauf, und ein Photographiegestell, das Hanna, die Jüngere, sofort vorsorglich vom Tisch entfernte, als Gritli herantrat. In schwarz und silbernen Rähmchen, wie in kostspieligen Särgen, waren da zwei Köpfe verwahrt, die ebenso seltsam fanatisch als beschränkt in die Welt schauten. Das war die beiden Männer, denen Lydia und Hanna Tulliker ihre Erweckung und das neue, geheiligte Leben verdankten, das mit seiner gesteigerten geistlichen Betätigung Ersatz für die nichtigen Erdenfreuden bieten sollte. Obwohl von den zwei Schwestern auch wieder nur als dürre Pflichtsache behandelt, war es doch das, was sie brauchten, wenn auch aus einem gänzlich unreligiösen Grunde. Denn es bot ihnen die Möglichkeit, sich an ihrem geringen Orte, den sie immer betonten, gleichwohl als etwas Besonderes zu fühlen. Und das war von jeher den beiden brennendes Bedürfnis gewesen. Indem sie sich dieser erwählten Gemeinde angeschlossen hatten, waren sie mit einem Male innerhalb eines bestimmten Kreises zwei Beachtete geworden. Hier konnten sie sich vergleichen, auszeichnen, konnten andern vorlaufen und solche, die in der Heiligung noch nicht gleich weit gediehen waren, nach sich ziehen, eines belobigenden Beifalls von oben gewiß. Und das taten sie mit unverdrossenem Heilseifer, zugleich aber mit genau derselben befehlshaberischen Strenge, wie sie für sich selber das Frommsein betrieben.
Auch die schüchterne Nachbarin hatten sie in den ersten Jahren nach ihrer Erweckung zu gewinnen versucht. Doch an Gritlis warm und friedlich in sich beruhender Religiosität war nichts zu erschüttern, noch zu steigern gewesen. In seinem innig frommen und fröhlichen Gemüt hatte es sich reich genug gefühlt, um ohne Anschluß an eine besonders strenge und anspruchsvolle Genossenschaft jene Erhebung über den Staub des irdischen Werktags zu finden, die es bedurfte. Die hoch herabgekommenen Erleuchtungen und Bekehrungsversuche beantwortete es mild und gütig, immer überzeugt, daß auch die Jungfrauen Tulliker, wie alle, die eifrig Gottes Wege suchen, es auf ihre Weise gewiß recht und aufrichtig im Sinne hätten. Mit seiner guten Stimme, die noch wärmer klang, sobald es zur Seltenheit einmal von seinen innerlichen Angelegenheiten sprach, hielt es ihren Anpreisungen standhaft den Frieden und die segensvolle Leitung entgegen, die es aus seiner eigenen, schlichten Religionsübung ziehe, und über sein Gesicht war dabei jedesmal ein so schönes Leuchten gekommen, halb sehnsüchtig noch, halb schon beseligt, daß die Einreden der Schwestern schließlich verstummten. Seitdem gedieh es mit seinem siegreichen Instinkt für das, was ihm gut und zukömmlich war, im erprobten Alten unangefochten weiter.
»Nun?« fragte Lydia, als sie alle drei mit Förmlichkeit um den Tisch herum saßen, »ich denke also, wir machen heute den Plan zu unsrer Fahrt genau zurecht. Ich war am Morgen am Bahnhofe und habe mir mit Hilfe des Stationsdieners aus den aufgeklebten, gelben Allerweltszetteln das Nötige zusammengesucht. Der Vergnügungszug geht morgens um 4 Uhr hier ab, der letzte kommt nachts gegen elf Uhr zurück. Es ist freilich widerwärtig und betrübend, daß man so spät an einem Sonntage befürchten muß, betrunkene Mitmenschen zu sehen und gar mit ihnen im gleichen Wagen zu fahren. Aber wenn man so viel Geld ausgibt, muß man den Tag nach Möglichkeit strecken, und wir bringen so neunzehn Stunden heraus. Von Luzern können wir dann entweder gleich mit dem Dampfschiff weiterfahren oder einige Stunden dort verweilen, was mir das Bessere dünken will. Denn das berühmte Löwendenkmal ist da zu sehen, das ein Sinnbild der Schweizertreue bedeutet, und ferner das Diorama vom Rigi und Pilatus, auf welchem genau abgebildet sein soll, was auf den beiden Bergen zu sehen wäre. Somit spart man sich viel Geld, wenn man es besucht, weil man dann selber nicht mehr dort hinauf zu steigen oder gar zu fahren braucht.«
Gritli erklärte sich mit allem einverstanden, was die Nachbarinnen anordneten, doch des gemalten Rigi und Pilatus wegen begehre es nicht extra in Luzern zu bleiben, und das Löwendenkmal, fügte es bescheiden hinzu, habe es aus Alabaster als Briefbeschwerer drüben.
»Auch müssen wir sehr zeitig aufstehen!« fuhr Jungfer Lydia, allmählich in Vergnügungseifer geratend, fort. »Ich will bei den Allerersten vor dem Zuge bereitstehen; denn ich will an einen Fensterplatz und Hanna mir gegenüber haben. Anders tue ich es nicht. Mag dann geschehen, was Gott gefällt. Man liest genug davon, was mit dem Reisen für unverhoffte Unfälle und Verbrechen vorkommen. Sie aber, Jungfer Gritli, springen schnell an ein nächstes Fenster und setzen sich da auch gleich fest, ohne Komplimente! Auf der Eisenbahn muß jeder nur für sich selber sorgen!«
»He,« meinte Gritli, dem solch ein Rennen ums beste Teil ein ungewohnter Gedanke war, »sollte ich dann nicht auch noch gerade zu einem Fenster gelangen, so würden mich die andern Leute gewiß schon hier und da einmal hinausschauen lassen, wenn etwas besonders Schönes zu sehen wäre.«
»Das glaub' ich nicht,« entgegnete Lydia hastig, als ob sie ihrerseits derartige Ansinnen von vornherein ablehnen wollte. »Wie man es trifft, so trifft man's! Drum rat' ich Ihnen beizeiten: wehren Sie sich! – Leider führt uns nun aber das frühe Dampfschiff nur bis Brunnen und hält nicht am Rütli, so daß wir uns einen Kahn bis dorthin bezahlen müssen.«
»Wird das recht kostspielig sein?« fragte Gritli ängstlich. Doch als der dürre Reisemarschall, der sich danach schon erkundigt hatte, beruhigenden Aufschluß gab, gönnte es unverweilt seinen seligsten Vorstellungen freien Lauf und seine Phantasie kam plötzlich wieder zu Kräften.
In einem Kahne sollte es fahren? In einem Kahn, wie die Urväter dort getan, – auf dem Urnersee! Wenn es nur diesen Namen nannte, durchzog ein Schauer des Geheiligten, Erhabenen sein Herz. Und dem Rütli zusteuern – im Morgenwind, – in der großen feierlichen Stille, – durch eine hehre Welt voll Sonntagmorgenglanz, – und an geweihter Stätte landen! Ein Bild ums andere breitete sich vor Gritli aus in unerhörter Herrlichkeit, bis es ganz verträumt dasaß, während die Tullikerinnen ganz nüchtern fortfuhren, an den materiellen Punkten ihres Vorhabens zu kleben.
Ihr ungeduldiges Fragen erst riß Gritli wieder aus seinem Sinnen empor. Das Essen und Trinken schien ihnen großes Kopfzerbrechen zu machen. Mit Vorräten wollten sie sich keinesfalls schleppen. Andrerseits komme freilich Leuten in ihrer Stellung unterwegs nur der bescheidenste Aufwand zu, meinten sie. Wie war da das Richtige zu treffen? Endlos redeten sie hin und her, und schließlich war deutlich zu merken, daß all dies Erwägen in Wirklichkeit nur der Frage galt, wie sie sich möglichst gütlich täten, ohne den Schein zu haben.
Gritli hätte gewünscht, daß dieses von ihm bisher noch nicht einmal bedachte leibliche Bedürfnis möglichst wenig Geld verschlänge. Für das Unentbehrliche mußte ja gesorgt werden, und an solch einem Ausnahmstage war es auch, bei seiner gesunden Freude an allen guten Dingen dieser Welt, einverstanden, sich fröhlich etwas Besonderes zu gönnen. Aber das hätte es für seinen eigenen Bedarf am liebsten selber beschafft, mit aller Vorfreude daheim hergerichtet und dann in seinem Deckelkörbchen mitgeführt, in welchem es so oft in alter Zeit die Tageszehrung für Paul Degerfeld und sich auf ihre glücklichen Ausflüge mitgetragen hatte.
Es konnte sich nicht genug wundern, daß die frommen Plätterinnen immer noch nicht aufhörten, aus dieser Nebensache ein solches Hauptanliegen zu machen. Wie wenig schien sich ihm das zu reimen mit dem sonstigen, weltverachtenden Wesen der beiden!
Schließlich machte es der Sache dadurch ein Ende, daß es mit feinem Erraten den wahren Wünschen der zwei Selbstsüchtlerinnen entgegenkam und sich erbot, denjenigen Proviant in seinem eigenen Körbchen mit unterzubringen, den die Tullikerinnen für ihren ersten Imbiß im Zuge für nötig hielten, das Weitere aber unterwegs nach Belieben zu halten bat.
»Fast könnte man die reichen Leute beneiden,« fügte es hinzu, »die an alle solche Sorgen gar nicht zu denken brauchen, wenn sie reisen wollen. Da heißt es einfach fortgefahren, dahin, dorthin, und ein Hotel ist dann überall vorhanden, wenn der Hunger kommt. Ach! – und vielleicht gar jedes Jahr solch eine Reise zu erleben!«
Doch Jungfer Hanna schüttelte mißbilligend den Kopf. »Dafür ist es den Reichen auch nur eitle Lust,« bemerkte sie spitzig, »und so aufgefaßt, verfehlt die schönste Reise ihren Zweck.«
»Du nimmst es mir von den Lippen,« unterstützte sie die Ältere. »Ich denke doch, Jungfer Gritli, wir ziehen mit andern Gedanken aus? Um leerer Zerstreuung oder Befriedigung der Neugier willen möcht' ich mich niemals an dieser Fahrt beteiligen. Einer wahrhaft erweckten Seele darf ein derartiges Erlebnis einzig eine besondere Art von Erbauung bedeuten, indem sie im Anschauen jedes neuen Gegenstandes, als eines noch nicht gekannten Schöpfungsteiles, Gottes Macht und Größe noch lauter preisen lernt.«
»Das schon, ich meine es gewiß auch nicht anders,« beruhigte sie Gritli, von dem frommen Überfalle sich erholend.
Doch Jungfer Lydia war jetzt in ihr Element geraten, und indem sie endlich aufhörte, mit ihren unbeschäftigten Fingern die gesteiften Fransen der Tischdecke zurecht zu strählen, hub sie im höheren Tone derer an, die gewohnt sind, zu Versammlungen zu reden. »Wenn schon im täglichen Leben und sichern, gewohnten Geleise von uns Menschen an den Tod und das Gericht gedacht werden soll, wie viel weniger möchte ich das einen Augenblick vergessen, wenn ich mich in Ungewohntes und Gefahr begebe! Der Eisenbahnzug kann verunglücken, noch ehe wir nur Luzern erreichen. So ein Dampfschiff ist schon untergegangen oder in die Luft geflogen am hellichten Tage. Wie! wenn ich dabei nun mitten aus eitlem Sinnen an irdische Lustbarkeit weggerissen würde? Nein, nein, das sei ferne, Jungfer Gritli! Da gestalte ich in meinen Gedanken unsere Reise so, daß, sollte uns etwas zustoßen, ich nur abberufen werden kann aus einer Veranstaltung, die ich zu meines inneren Menschen Förderung unternommen habe.«
Gritli verschluckte, was es dachte. Allerdings, das war nicht zu leugnen, spürte es in seinem Innern auch ein Teilchen rein weltlicher Vorfreude; doch die hielt es frohgemut für berechtigt: so ein klein bißchen Neugier auf allerlei unbestimmte Überraschungen, lustige Zufälle, freundliche Menschen, und was alles es sich nun einmal als erlaubte Bestandteile des Reiseglückes vorstellte. Im ganzen aber mußte seine Auffassung gewiß ziemlich nach Gottes Absichten sein, und was die Erbauung der Seele durch die Herrlichkeit der Schöpfung betraf, so war es sicher, neben den Nachbarinnen kecklich zu bestehen. Es hatte am letzten Sonntag genug staunen müssen, ja, sich zuletzt ganz erkältet gefühlt durch die Wahrnehmung, wie sich die beiden vor dem Schauspiel jenes göttlichen Sonnenunterganges in der Waldlichtung so gar keines begeisterten Anteils, keiner wahren Gemütsbewegung fähig gezeigt hatten.
Wie trocken und vorschriftsmäßig hatten sie einen Augenblick des Allmächtigen Werk gelobt, dann alsbald die Farben zu zählen begonnen, die sie zu unterscheiden vermochten, und sich schließlich rechthaberisch über die Ähnlichkeit einzelner Wolken mit bekannten Menschengesichtern gestritten. Und was für Antworten gaben sie, als Gritli am Nachmittag ein paarmal seltene Kräuter und Moose gepflückt und ihnen vorgewiesen hatte! Nein, nein! Die besaßen gar kein Herz für die Natur! Gritli mochte lieber nicht länger Vorschriften über Dinge anhören, die doch des einzelnen Herzenssache blieben. Drum suchte es jetzt mit Anstand die Beratung zu schließen, versprach, wenn alles sich bei ihm ordne, wie es hoffe, am Sonntag so früh gerüstet dazustehen, als die Nachbarinnen nur irgend verlangten, und wünschte gute Nacht.
Aber seine Gedanken waren viel zu angeregt, als daß es sich gleich zur Ruhe begeben konnte. Auch tönte, als es in sein Zimmer trat, noch so viel munteres Geräusch herauf aus den vielen offenen Fenstern, die von vier Seiten auf den Hof des Junkerstiftes sahen, daß es beschloß, seine Lampe anzuzünden und noch ein Stündchen wach zu sitzen. Es glaubte jetzt kühner an das Gelingen der Reise; das schrittweise Feststellen der Einzelheiten hatte ihm eine merkwürdige Zuversicht gebracht.
Sinnend schritt es durch die Stube, schaute eine Weile nach dem Stückchen Nachthimmel, das sternfunkelnd über den Dächern und Schloten sichtbar war, und dann eine Weile hinab in die verschiedenen erleuchteten Stuben der tieferen Stockwerke, wo Mütter am Flickzeug saßen, Männer ein Zeitungsblättchen lasen, und beim Buchbinder zu ebener Erde noch eifrig gearbeitet wurde. Der war immer im ganzen Hofe der letzte, weil er so viel eilige Bestellungen bekam. Dazu sangen die Gesellen oft bis in die tiefe Nacht, und auch jetzt ertönten ihre Lieder.
Da ließ Gritli das Fenster offen stehen, ging an sein Bücherbrett und holte die Schweizergeschichte herunter, seine liebe Schweizergeschichte, die ihm Paul Degerfeld mitsamt seinem zerlesenen alten Wilhelm Tell zum Andenken vermacht hatte, als er von Altachen abzog. Aus beiden Büchern hatte er ihm durch Jahre an zahllosen Samstagnachmittagen erzählt. Nun wollte Gritli wieder einmal selber darin nachlesen und sich so recht vergegenwärtigen, wie alle die ruhmvollen Dinge der alten Zeit sich an den historischen Stätten zugetragen hatten, damit es diese am Sonntag vollkommen vorbereitet beträte.
Es suchte herum in den mürben Blättern mit dem großen Drucke, der ihm so erwünscht war, und begann dort zu lesen, wo die Erzählung der Zustände anhob, die das Zusammentreten der ersten Eidgenossen herbeigeführt haben: die fürstlichen Frevel an der uralten Freiheit des Landes, die Gewalttaten der Vögte, das verhöhnte Manneswort der Vorväter. Es las, wie der Landvogt über Unterwalden, Beringer von Landenberg, dem greisen Landmann Heinrich an der Halden, weil er dessen Sohn nicht zu fassen bekam, die Augen ausstechen ließ; wie dem edeln Werner Stauffacher, als er vor seinem schönen Hause nahe bei Schwyz stand, der tyrannische Geßler frech zu sagen wagte: er wolle als Landvogt nicht, daß die Bauern ferner Häuser bauten ohne seinen Willen und lebten, als wären sie noch die Herren im Lande.
Schmerzlicher, je weiter es kam, empörte sich Gritlis rechtliches Herz, und kaum mochte es erwarten, bis, Seite um Seite, diese schändlichen Gewalttaten endlich zum Rütlibunde führten. Als es so weit gekommen war und auch dies beschrieben gefunden hatte, stand es auf und holte sich vom Bücherbrette noch den Tell. Daraus wollte es vollends vernehmen, wie alles geschah. Es hörte jetzt nichts, sah nichts mehr von allem Wirklichen umher, wurde nicht gewahr, daß die Gesellen längst zu singen aufgehört hatten, daß sich zuweilen draußen ein Fenster schloß, ein Laden knarrte, es beachtete nicht, wie der späte Mond hereinzuleuchten begann. Es hatte sein heiliges Büchlein aufgeschlagen und schauerte, alles miterlebend, und Tränen wollten ihm kommen, als Walther Fürst aus Uri klagt, wie man im eigenen Lande nur noch in verstohlener Nacht zusammenschleichen könne, Rat zu pflegen. Dann sprach es laut vor sich hinaus, damit es ihm recht eindrücklich werde, was Stauffacher redet, und legte voll inbrünstigen Eifers Nachdruck auf beinahe jedes Wort:
Unser ist durch tausendjährigen Besitz
Der Boden – und der fremde Herrenknecht
Soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden;
Uns Schmach antun auf unsrer eignen Erde?
Ist keine Hilfe gegen solchen Drang?
Nein! eine Grenze hat Tyrannenmacht.
Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last – greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.
»Ja! ja!« schrie es in Gritlis Herzen. Und erhoben, feierlich, als schwöre es mit, sprach es zuletzt die Worte beim Sonnenaufgang:
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen!
Gritli war so heilig ernst zumut wie in einer Kirche, und als es nach langem, stummem Verweilen in dieser Sammlung die stützende Hand von der Stirne nahm, konnte es sich zuerst kaum erinnern, wo es war. Uhren schlugen irgendwoher. Es hatte sich bis in die tiefe Nacht verlesen. Und nur halb fand es sich wieder zurecht, ehe es auf sein Lager sank, erfüllt und schwer in Kopf und Herzen, als hätte es schon heute die größten Dinge erlebt.
Im Steinbock war am andern Tage gewitterhafte Stimmung. Als der Herr früh aus dem Hause ging, bekundete das Zuschlagen der Haustüre, daß er im Zorne schied. Die verweinten Augen der jungen Frau aber und ihr gekränkter, eigensinniger Ausdruck verrieten auch ohne das Getuschel der Mägde, daß sie wieder die Ursache gewesen war. Besuch von auswärts, den es mit besonderem Aufwande zu bewirten galt, wurde zu Mittag erwartet, und über der Vergeßlichkeit der Frau, die ihres Mannes Aufträge oft genug auszuführen versäumte, war wieder Ärger und Zank entstanden.
Wenn Gritli sich auch kein Urteil über die Verhältnisse der Nebenmenschen erlaubte, so sah es doch in diesem Hauswesen deutlich: wie materieller Wohlstand allein nicht vermag, Behagen zu schaffen. Hier war nun alles vorhanden, was ein junges Paar äußerlich besitzen konnte, und doch hielt das weder die Frau zu Hause, noch gewährte es dem Manne auch nur einen traulichen Herd. Die vielen Schmausereien und leeren Wichtigkeiten waren sichtlich nur nötig, um die innere Leere der beiden auszufüllen. Den häufigsten Anlaß zu Verdrießlichkeiten gab Frau Gebnauers Art, mit den Leuten umzugehen. Heute hochfahrend aus Unsicherheit der Emporgekommenen, tat sie morgen wieder vertraulich mit Dienstboten und Arbeitsleuten, aus lauter unbändiger Neugier, von jeglichem Stadtklatsch unterrichtet zu sein. Drum mochte sie auch Gritli mit seiner unverbrüchlichen Verschwiegenheit nicht so recht leiden. Von ihm erfuhr man keine Silbe aus andern Häusern, noch auch fanden je die Mägde mit Klagen über die Herrschaft Gehör. Seine Gewissenhaftigkeit ging so weit, daß, wo irgend seine Ohren unfreiwillige Zeugen häuslicher Unannehmlichkeiten wurden, es der Sache wenigstens mit festem Willen seine Aufmerksamkeit verschloß. Auch begriff es die Dinge, die in den Kundenhäusern zu Unfrieden führten, in der Tat nur halb, und entschuldigte das meiste mit der Auffassung, daß bei den reichen Leuten, wo so viel Umtrieb herrschte mit den großen Hauswesen, eben auch gar so viel Mühe und Aufregung erwachse, von denen man unter seinesgleichen keinen Begriff habe.
Heute konnte das Treiben der andern seinem Herzen vollends nichts anhaben. In ihm lebte seit dem gestrigen Abend ein neuer, froher Geist, und selbst der natürliche Rückschlag, den der nüchterne Tag auf nächtliche hohe Spannung bringt, vermochte nicht, seine Seele mit der dunkeln, entscheidenden Frage des Lohnempfanges aufs neue zu martern. Es war ein Schwung in seine Stimmung gekommen, seine Phantasie war entzündet und hatte an diesem Morgen einen wahren Tatendrang in ihm entfacht. Verwunderlich! Gritli traute sich heute dreist etwas zu, es hatte Lust und spürte Kräfte, sich zu rühren. Und in seiner sinnenden Seele formte sich, während es sein Tagewerk bereitlegte, plötzlich ein Gedanke: halb mystisch abergläubisch, halb schon des Erfolges gewiß. Wie! wenn es versuchte, den unbekannten Lenker der kleinen Glückszufälle und Mißgeschicke – den sein frommes Gemüt sich scheute, für diesen Fall als Gott selber anzunehmen – ein wenig zu beeinflussen? Wenn es sich heute heimlich eine unerhörte Leistung vornähme und sie wirklich fertig brächte, – würde das Geschick dadurch nicht gleichsam anstandshalber verpflichtet, die entsprechende Gegenleistung zu gewähren?
Vor ihm lagen die sämtlichen fertig genähten Bett- und Kissenbezüge, je zum Dutzend zusammengelegt, und harrten noch, mit Knöpfen besetzt zu werden. An manche gehörten deren nur vier Stück, an viele sechs und acht. Da regte sich in Gritli der gottversucherische Vorsatz: diese bis zum Schlage der Feierabendstunde samt und sonders angenäht zu haben. Es war zwar eine Tollheit! In jedem andern Falle würde es, und würde die fleißigste Rivalin zwei Tage daran gesessen haben.
Gritli schielte nach dem Tisch hinüber, wo die schönen Perlmutterknöpfe, auf großen Bogen funkelnden Silberkartons festgeheftet, bereitlagen und in der freundlichen Morgenhelle ihre zarten Regenbogenfarben ausspielten. Es schaute sie an wie ein Feldherr am Morgen vor der Schlacht seine Soldaten, und sein Blick schien zu fragen: wagen wir's miteinander? Eine fast frevelhafte Kühnheit zuckte durch sein Herz. Die Tat war beschlossen.
Rasch rückte Gritli die sämtlichen Bogen nahe zur Hand, dann deckte es einen Leinwandabschnitt darüber. Es wollte, ohne je über Tag zu zählen, wie weit es vorrücke, nur immer Bezug um Bezug besetzen, die einzelnen Knöpfe blindlings unter der Hülle herausgreifend. So würde es jedes Schwankens zwischen Furcht und Hoffen enthoben, unbeirrt seine ganze Aufmerksamkeit nur dem höchsten Fleiße zuwenden. Wurde so das Unglaubliche wirklich vollbracht, dann war seine Sache gewonnen und der Lohn morgen abend in seiner Hand. Es war dessen jetzt ganz gewiß.
All die süßen Düfte von dem, was den langen Morgen hindurch in der Küche des Steinbocks gebraten und gebacken wurde, zogen unbeachtet an Gritli vorüber; den Trubel des Besuches über die Mittagszeit bemerkte es kaum, – es nähte. Das zusammengescharrte, halbkalte Essen, das ihm heute verspätet ins Nähzimmer gestellt worden war, hatte es hastig verzehrt, und als ihm am späteren Nachmittage, nachdem es im Hause wieder ruhig geworden, die Köchin ein Stück herrlicher Torte herübertrug und ein Glas Wein, hatte Gritli selbst diese guten Dinge nur wie im Halbtraume genossen. Es nähte, nähte immerzu, in äußerster Anspannung.
Es war fünf Uhr geworden. Noch lag da ein Dutzend Bezüge, und dort eines.
Es ging auf sechs Uhr; noch immer blieb viel übrig. Halb sieben! – es fehlte noch erklecklich. Wie Gritlis Nadel flog, war hexenhaft. Seine Finger hatten eine Sicherheit erlangt, mit jedem Stich ins Loch des Knopfes zu treffen, ohne langes Suchen, eine Geschicklichkeit, die Fäden unten sausend umzuwickeln, die Enden zu vernähen, seine Schere flog in die Hand, flog wieder weg, so drauf und drauf, daß es manchmal selber lächeln mußte. »Der Mensch kann doch viel, wenn es gilt!«
Jetzt – konnten nicht mehr viel Knöpfe da sein; Gritli war es schon vorhin gewesen, als rühre es an den letzten schweren Kartonbogen, und als seien die andern alle schon leer. Mit den Augen getraute es sich längst nicht mehr hinüberzuschweifen, es griff nur immer Stück um Stück heraus. Ganz dem Schicksal hingegeben, wollte es harren, wie es beim Schlage sieben bestünde.
Nun rann die letzte Stunde dahin. Schon kam der Schatten des hohen Schlotes von drüben bei der Appenzellerin, und legte in den grellen Schein der Abendsonne auf dem weißgefegten Fußboden eine dunkle Bahn. Da hörte Gritli schlagen. Hörte? Nein, es hatte nichts gehört. Mit einem hastigen Griffe suchte es nach dem nächsten Knopf; an dem Kissen da in seiner Hand fehlten allein noch zwei, und der Himmel wußte, ob das schon der letzte Bezug war. Es fand seinen Knopf, spürte noch einen weitern – da schlägt es auch vom Kirchturm sieben; der helle Ton zuvor war von der Uhr des neuen Schulhauses gekommen. Gritli reißt den anderen Knopf hervor, näht auch diesen fest. Da tönt der Glockenschlag vom Rathausturm. Diese Uhr ist immer die letzte der Stadt. Der Knopf sitzt. Gritli faßt noch einmal unter die Leinwand, findet nichts. Es sucht, versichert sich. Nichts, wohin es auch greifen mag: kein Bezug, kein Knopf, nur der blanke Tisch und die leeren Kartonbogen.
Da wagt es die Leinwand zu lüften und hinzublicken. In der Tat, es ist fertig! Mit aufgeregten Händen zählt es seine Kissenbezüge, Deckbetthüllen, betastet abermals sämtliche Bogen, ob sie auch wirklich geleert sind? Alles stimmt. Es hatte das Unglaubliche vollbracht. Was für morgen an Arbeit übrig blieb, war nicht der Rede wert.
Mit einem tiefen Atemzuge lehnte es sich in den Stuhl zurück; die Hände glitten in seinen Schoß, lind strich die Abendluft herein und kühlte ihm die Stirne. Da schloß es die Augen. So unbeschreiblich wohl ward ihm zumut, nur fühlte es sich ein wenig wirbelig im Kopfe. Es mochte gar nichts denken, gar nichts sehen, nur so dasitzen, seinen himmlischen Jubel im Herzen, und wiederum überwallende Dankgefühle. Ja, hätte dieses gelungene Tagewerk nicht insgeheim einen schlauen Druck auf die Entscheidungen des Himmels dargestellt, so hätte Gritli am liebsten ein Dankgebetlein von den Lippen fließen lassen.
Wie leichten Schrittes es heute um die Stadt nach Hause ging! Wie frei und mutig es sich in dem prangenden Abend fühlte! Alle Müdigkeit verflog. Über ihm breitete sich der reinste Himmel, nur am fernen Horizonte schwebten ein paar Schönwetterwölklein. Die Schwalben, nach denen Gritli spähte, flogen unermeßlich hoch, und die Berge erschienen dem Auge fern; so stimmten zu seiner Wonne die Witterungszeichen aller Enden gleich verheißungsvoll überein. Schon schienen auch die andern Menschen sich am Vorgefühle des nahenden Sonntags zu erfreuen; denn im Vorübergehen hörte es da und dort auf den dichtbesetzten Bänken der Promenade Pläne machen und vom sichern Wetter reden.
»Ach wäre es morgen um diese Zeit und alles gewiß!« wünschte Gritli im stillen. Was konnte es nur tun, den Abend zu verkürzen? Gab es nichts, die guten Geister noch stärker zu beschwören? Es hätte Kraft in sich gespürt, sogleich ein weiteres zu unternehmen, wenn ihm nur etwas ordentlich Kühnes eingefallen wäre.
Grübelnd schritt es heimwärts.
Da, als es die hallende Steintreppe des Junkernstiftes hinanstieg, stand die Gelegenheit zu einer neuen Tat plötzlich vor seinen Augen. Überm Gang da vorn, jener kleine Raum, sein Kämmerchen oder Kellerchen! Das war bis unter die Decke angefüllt mit so viel fabulösen Dingen, daß Gritli sich seit langer Zeit kaum mehr darin zu helfen wußte. Denn mit den Jahren hatte sich ein wahres Lager angesammelt von all jenem hundertfältigen Krimskrams, von dem sich alte Mädchen niemals trennen können. Hier standen, lagen, hingen, übereinander und ineinander gepfropft und geschichtet: Kistchen, Schachteln, Körbchen und Brettchen ohne Zahl, meist an Gritli geschenktes Packmaterial, das mit seinen aufgeklebten Adressen, Poststempeln und Daten von allen erdenklichen Liebesbeweisen erzählte, die um die Jahreswende getauscht worden waren, während mehrere Reihen von Flaschen und Medikamentenkrügen für Gritli teils Erinnerungszeichen an empfangene Guthaben bildeten, teils ein Register der Krankheiten darstellten, welche in den verschiedenen Kundenfamilien daraus kuriert worden waren. Daneben lagerten gestickte Beutel, henkellose Wandtaschen, Stoffreste aller Moden, alte seidene Schirme, gesprungene Einmachgläser; ferner abgetrennte Passementerien von Kleidern und Mänteln aus verschollenen Jahrgängen, nach Farbe und Art in verschiedene Schachteln gesondert und mit Pfeffer gegen die Motten gesichert, hart gewordene Gummiverschlüsse von – wer mochte erraten welchen – Gefäßen, kurz alles, was nur irgend auf Gritlis Wegen als zu schade zum Wegwerfen erkannt worden war.
Und diesen unübersehbaren Wust hatte es geduldig jedes Jahr zweimal hervorgezogen, ausgestäubt und aufs neue eingeräumt, immer wieder im Gedanken, der Tag könnte kommen, an dem man darüber froh sei. Seitdem es jedoch kaum noch gelingen wollte, etwas Neues unterzubringen, und seit die Mäuse in einem sorglich verwahrten Kapottehut des seligen Fräulein Charlotte Rych ihr Nest gemacht und die sammeten Stiefmütterchen gefressen hatten, war für Gritli doch die Notwendigkeit unverkennbar geworden, wenigstens das Fragwürdigste auszuscheiden.
Wie! wenn es dies nie übers Herz Gebrachte heute unternähme? Solch eine blanke Säuberung mußte gleichsam die letzte staubige Werktäglichkeit aus seiner Existenz schaffen, und auf morgen einen solchen Inbegriff samstäglicher Ordnung ergeben, daß Gritli in seinen irdischen Räumen wie in seinem Herzen gleich würdig vorbereitet wäre, das Glück zu empfangen.
Also hub auf dem stillen Gange zu der ungewohnten Stunde ein geheimnisvolles Rumoren an. Körbe voll unbeschreiblichen Durcheinanders wurden lautlos die Treppen hinabgetragen und auf dem großen Abfallhaufen im Hofwinkel geopfert.
Darauf begann ein Fegen und Waschen bis in alle Nacht hinein, daß trotz der rücksichtsvollen Geräuschlosigkeit, deren das gute Wesen sich befleißigte, wenigstens der feuchte Geruch zum Verräter ward, und die Jungfrauen Tulliker von der nächtlichen Anwandlung ihrer Nachbarin in Kenntnis setzte.
Um Mitternacht schaute Gritli nach vollbrachter Tat noch einmal nach dem Wetter, überzeugt, daß:
Was der Sonntag gern will han,
Zeigt der Freitagabend an.
Wieder fand es alles aufs beste stehend und die Sterne treulich funkelnd im klarsten Nachthimmel. Nun konnte alles gelingen! Die Reihe war jetzt am Schicksal! Denn das Seinige fühlte Gritli getan.
Der letzte Tag brach an, und auch der neigte sich zum Abend, weil alle irdische Zeit ihr Ende erreicht. Frau Gebnauer war bald nach Tisch ausgegangen, ohne etwas für Gritli zu hinterlassen. Darum war es getrost; sie mußte demnach zeitig heimkehren.
Vor vier Uhr tat es seinen letzten Stich. Dann begann es auf dem großen Zuschneidetische die sämtliche, glücklich bewältigte Ausstattung des Rebhäuschens zu einer stolzen Schaustellung herzurichten. Auf der Gasse drunten erschienen zu dieser Stunde vor den Türen die Mägde, begannen zu kehren, Scharreisen und Schwellen rein zu waschen, die Klinken und Messingschilder der Haustüren blank zu putzen, und auch im Steinbock herrschte ein emsiges Klappern und Scheuern.
»Ein Dutzend große, ein Dutzend mittlere, zweimal sechs von den kleinen, – alle mit roten Bändchen!« zählte Gritli, und legte Bündel neben Bündel. Die Deckbettbezüge bekamen blaue. »Zwei, vier, sechs gröbere; zwei, vier, sechs feinere Unterleintücher!« – es suchte wieder entsprechenden Bänderschmuck. Das schimmerte und prangte auf dem Tische, als würde eine Braut im Hause ausstaffiert. Gritli war so frohbewegt, so siegesgewiß. Was brauchte es noch zu zweifeln, bei dieser Samstäglichkeit ringsum, in der jeder Mensch, wohin es sah und hörte, mit der alten Woche Abrechnung hielt, um für den Sonntag eine neue freie Bahn zu machen? Und wenn auch an jedem andern Samstage die Frau Stadtschreiberin hätte vergessen können, ein Gleiches zu tun, so war das heute unmöglich, angesichts dieser ungeheuern Arbeit, die nach ihrem Wunsche fertig gestellt dalag und redete.
Munter wickelte Gritli jetzt Bänderreste, Litzen und Faden auf, steckte die Leinwandschnitzel zu Bündelchen zusammen und schaute dazwischen wieder ein wenig hinaus.
Vor dem Hause der Appenzellerin lag die Gasse bereits so rein gekehrt wie ein Stubenboden, und an den Pfosten der Haustüre gelehnt, stand nach der uralten Appenzeller Sitte, welche die Nachbarin auch in Altachen beibehalten hatte, der schöne Staatsbesen. Der mußte nach beendeter Samstagsreinigung bis zum Sonntagabend dastehen als ein Symbol, daß zu dieser Stunde der Staub des Werktags ausgekehrt sei, und der Wanderer, ehe er über die Schwelle trete, ihn gleichfalls abstreifen möge, um würdig an den festtäglichen Herd zu treten.
Als alles fertig lag, ergötzte sich Gritli von seinem Fensterplatz aus, dem bläulichen Rauch zuzusehen, der, von keinem Windhauche bewegt, still dem Kamin drüben entstieg und im abendlichen Sonnenglanz der Höhe zerging, dann den Schwalbenscharen, wie sie mit ihrem muntern Gri-gri bald kürzere Bogen über der Gasse zogen, bald um benachbarte Giebel kreisten und zuletzt wieder hinaussegelten in die goldige Weite. Hinter den Dächern lockten die Baumwipfel der Stadtpromenade, durch die Lücke gesehen, zeichneten sich auf der reinen Ferne die Waldhöhen in violettem Duft, und von seinen Alpengipfelchen erspähte Gritli schon einen ersten rosigen Schimmer.
Ein heftiger Ruck an der Hausglocke schreckte es auf, und eine Stimme war zu hören, die von Frau Gebnauer einen Auftrag bestellte. Sie lasse wissen, daß sie bei dem schönen Wetter gleich draußen bei ihren Eltern bleibe, dem Herrn Stadtschreiber aber, wenn er heimkomme, sei zu sagen, daß man ihn ebenfalls dort zum Nachtessen erwarte.
»Werd's bestellen!« antwortete die Magd und wünschte gute Nacht. Die Haustüre fiel ins Schloß. Am Nähtisch droben aber sank ein Kopf tief auf die Brust und bittere Tränen rannen unaufhaltsam nieder.
Als die Sonntagsglocken Gritli weckten, waren die Nachbarinnen längst in aller Stille davongegangen. Es hatte sich vorgenommen, aufzustehen und ihnen bei der Reise behilflich zu sein, aber der Schlaf war barmherziger mit ihm gewesen als die Menschen, in deren Hand die Macht über sein Geschick gelegen, und hatte es die schmerzliche frühe Stunde verschlafen lassen.
Der gestern gemeldete Verzicht, dem Gritli nicht viel Erklärendes beigefügt, war von den Tullikerinnen mit merkwürdiger Gelassenheit aufgenommen worden, so daß es sich teils wundern mußte, teils froh darüber war, und mit absichtlicher Eile nur gleich wieder das Haus verlassen hatte. Den Gang nach dem Grabe seiner Schwester, wohin es in der guten Jahreszeit jeden Samstagabend frische Blumen trug, benützte es dazu, sich mit dem gefallenen Lose nach Kräften abzufinden, und soweit wenigstens war das gelungen, daß es heute beim Erwachen einen leidlichen Frieden in seiner Seele fand. Es drehte sich noch ein paarmal in den Kissen um, die Wohltat auszukosten, daß heute doch keine Stunde drängte, und als es bald darauf in seiner winzigen Küche das Frühstück verzehrte, hell angestrahlt vom reinsten Sonnenhimmel, der über die Dächer des schwärzlichen Hintergäßchens hereinlugte, da breitete sich in seinem Innern weit und mächtig ein Bedürfnis aus, der bittern Enttäuschung nicht mehr weiter zu gedenken.
Es löffelte seinen Kaffee, ein wenig gedankenlos vor sich hinstarrend, fischte ohne Eile die hineingeworfenen Brotbrocken, wenn es sie sorglich und genugsam in dem duftenden Getränke untergetaucht hatte, – aber während es, diesem Behagen hingegeben, dasaß, begann doch seine Phantasie wieder zu wandern und geriet dorthin, von wo es sie abzuhalten wünschte. Zwischen den glänzenden, regenbogenfarbigen Kringeln, mit denen die Morgensonne den braunen Milchtopf umspielte und die Gritli bewundernd verfolgte, tauchten hartnäckig Bilder auf. Das bewegte Getränk in der Tasse machte Wellen, die Bröckchen wurden zu Schiffen, durch die offene Türe strich lieblich der frische Hauch des Morgenwindes herein, und vom Hofe, wo aller Werklärm schwieg, schallte Lachen und Plaudern von Kinderstimmen, – alles so sehnsüchtig lockend, daß es das Menschenherz wie mit Übergewalt hinauszog aus allen Mauern ins Freie, in die Weite, in die Sonne, und Gritli sich plötzlich nicht mehr zu helfen wußte. Ein hilfloser Grimm überwallte mit einem Male sein Bemühen, den gestern erkämpften Seelenfrieden zu bewahren.
War denn an ihm auch gar nichts gelegen? Durfte jeder, dem es das Seine redlich leistete, ihm gegenüber die Gegenleistung nach Belieben vergessen? Der Bissen blieb ihm im Munde stecken, und durch zwei dicke Tränen starrte es hinaus in das strahlende Blau.
Warum fuhr es jetzt nicht auch gleich den anderen ins weite, prangende Land? War es vergessen von Gottes Liebe, es allein, hier in seinem alten Gemäuer, weil es allzulange schon sich demütig in alles schickte, was durch kalte Herzen an ihm gesündigt wurde, weil es still blieb, wo andere murrten?
Leise zitternd zeichnete es mit dem nassen Löffel eine Linie vor sich hin auf die Tischplatte, und immer wieder die gleiche. Es empfand eine große Herzensnot. Ein Rechnen und Rechten, das ihm sonst fremd gewesen, hatte angehoben in dem traurig gewordenen Gemüte und versuchte die alte, heitere Ergebung zu töten. Draußen girrten die Tauben, kreisten trillernd die Vögel, und schwärmte und summte es von Bienen um das Blumenbrett.
Da erhob sich Gritli plötzlich und schob mit entschlossenem Ruck seinen Stuhl hinter sich. Fernher war das Glockengeläute des Frühgottesdienstes an sein Ohr gedrungen, wie Mahnung und Verheißung. Und ein Gefühl, als sei es auf einem großen Unrecht betreten worden, hatte Gritlis Herz erfaßt. Verwirrt und beschämt räumte es das Geschirr beiseite und machte sich daran, vor der eigenen Kirchgangszeit Küche und Stube in Ordnung zu bringen. Nach einer Weile tönte durch die stille Wohnung ein andächtiges Singen, merkwürdig fest und hell von Gritlis sonst so dünner Stimme. Es waren Verse aus dem Lied: »Befiehl du deine Wege,« durch das seine Seele schon aus mancher Betrübnis gehoben worden war. Dazu gingen Gritlis sanfte Schritte hin und her, Staubsäulchen quirlten am sonnigen Fenster, bald breitete sich eine frisch gewaschene Decke über das wohl geschüttelte Bett, und jedes Ding lag an seinem Platze. Vor neun Uhr, als das zweite Glockenzeichen herüberklang, verließ Gritli, mit seinem Besten angetan, das Junkernstift.
Es wurde ein heißer Tag, und bis es gegen Mittag nach Hause zurückkehrte, lag so drückende Schwüle über den Gassen, daß es sich entschloß, den Nachmittag im kühlen Hause zu verbringen und die große Stille auf seinem Stockwerke beschaulich zu genießen. Gritli war jetzt guter Dinge. Zu Tisch legte es sich sogar auf sein Gemüse die besten Bratwürstchen, die in Altachen gemacht wurden, und deren es auf dem Heimwege vier Stück bei dem berühmten alten Metzger in der Rathausgasse geholt hatte, zwei für Mittag und zwei zum Abend.
Zwar hätte es sich eigentlich heute nicht selber zu verköstigen gehabt. Denn es bestand in Altachen ein Brauch, wonach die Hausnähterinnen, wenn sie in einer Woche mehr als die Hälfte der Arbeitstage im gleichen Hause beschäftigt gewesen waren, am darauffolgenden Sonntag auch da zum Mittagstische geladen wurden, und Gritli genoß diese Freundlichkeit, wenn die Bedingungen je zutrafen, überall mit dankbarer Vergnüglichkeit. Aber von solchen altväterischen Verwöhnungen wußte die junge Frau Gebnauer natürlich nichts, und ihre Mägde, die darüber froh waren, hüteten sich wohl, durch Mahnen ihre Sonntagsarbeit um das Abspülen eines Tellers und eines Bestecks zu vermehren. Darum gönnte sich Gritli heute aus dem eigenen Beutelchen die kleine Schmauserei.
Früh am Nachmittage zog es sich, einen rosigen Schimmer der Sättigung auf den schmalen Wangen und aufgelegt zu allem Guten, in seine trauliche Stube zurück.
Als seine Schwester ehemals in diesem Raume krank lag, beschloß Gritli, ihn auf eigene Kosten tapezieren zu lassen, mit einem hellen blumigen Papier. Nun herrschte warmes Behagen darin, und wie bei den Nachbarinnen alles unpersönlich war, freudlos, und ohne Anklang ans warme Leben, so verkündete hier jede Wand den anmutigen Sinn eines guten Menschenkindes. Überall Beziehungen zu geliebten und verehrten Menschen, sorglich bewahrte Geschenke aller Art, jedes ein Dokument der Schätzung und Zuneigung, die Gritli schon genossen. Von den Bildnissen seiner paar teuren Verstorbenen auf der Kommode, einigen ererbten alten Schweizerlandschaften in farbigem Druck an den Wänden und den getrockneten Sträußchen in den kleinen Vasen, welche von glücklichen Tagen draußen in Feld und Wald erzählten, war alles gleich liebevoll instand gehalten, bis zu dem großen, bunten Fleckenteppich, der Gritlis Stolz und Staatsstück bildete. Den hatte es vor Jahren aus geschenkten Tuchresten eigenhändig verfertigt, nach seiner eigenen Idee. In der Mitte das Schweizerwappen mit rotem Kreuz in weißem Feld, umgeben von einem grünen Läppchenkreise, der den Kranz vorstellte. Weil sich von rotem Tuch nicht genügend zusammenfand, hatte es sich allerdings genötigt gesehen, die heraldischen Farben umzukehren; indessen schien ihm dies unwesentlich, sobald es nur überhaupt gelang, das heimatliche Rot und Weiß herauszubringen.
Mit den glänzend gebohnten Möbeln und der Reihe gut gepflegter Blumenstöcke war diese Hofstube in ihrer reinlichen Helle und bescheidenen Fülle für Gritli der Inbegriff des Besten, was es sich als irdische Wohnstätte für eine Person zu wünschen traute. Hier baute es sich in Stunden sonntäglicher Sammlung singend, betend, oder vor sich hinträumend, ein Reich auf, das nicht von dieser Welt war. In dieser trauten Enge genoß es eine beschauliche Poesie, um die es die Anspruchsvollsten hätten beneiden können. Denn da hatte es seine Bücher und unterhielt, seitdem es ihren Inhalt genügend kannte, mit denen, die sie geschrieben, wie mit lebendigen Vertrauten, stillbeglückt eine intime Bekanntschaft und Freundschaft, mochten sie in Wirklichkeit vielleicht längst gestorben sein. Es glaubte jedes einzelnen Herz, sein Denken und Fühlen ganz und gar zu kennen. Was mußte der geschaut, jener erlebt und gedacht, mit der Menschheit in Freud und Leid empfunden haben, daß er das schreiben konnte, was Gritli da so wohl tat, innig an sein Herz rührte oder ihm wenigstens anmutig die Zeit vertrieb!
Hier auch ergötzte es sich an dem bescheidenen illustrierten Wochenblättchen, das es sich hielt, und brachte es mit seiner gläubigen Ehrerbietung fertig, sich selbst aus der unglaublichen Öde und seichten Nichtsnutzigkeit der gebotenen illustratorischen Bettelkost fürs Volk etwas zu holen, ja, in den dummen Bildern, die so verheißende Titel trugen, wie: »Überwunden«, »Geheimnis«, »Bettlerstolz«, »Glück und Glas, wie bald bricht das«, »Des Künstlers Traum«, »Der Mutter Lied«, »Heute rot, morgen tot« und dergleichen mehr, wirklich ungefähr zu sehen, was sie darzustellen beanspruchten. Aus den Künstlernamen aber, die Gritli darunter las, hatte es sich mit den Jahren, wenn sie immer wiederkehrten, eine Schaar auserlesener Wundermenschen zusammengedacht, deren leibliches Wesen und Leben es sich gar nicht vorzustellen vermochte. Wer begnadet war, solche Kunstwerke zu ersinnen, mußte seiner Meinung nach notwendig von gänzlich anderer Materie sein, konnte nimmermehr schlechtweg essen und trinken wie seinesgleichen, sondern würde wohl im fernen, großen Deutschland irgendwo ein halbwegs entrücktes Dasein führen.
So hatte Gritli auch heute zuerst ein Weilchen in seinem »Hausfreund für die Feierstunden« gelesen und nun eine alte Holzkassette herabgeholt, deren Inhalt wieder einmal auszuräumen. Das kunstreich eingelegte Köfferchen war Gritli als Erbstück von Fräulein Charlotte Rych zugefallen, und auf dem Grunde lag noch wohl verwahrt der Zettel, auf dem von ihrer Hand verzeichnet stand, was nach ihrem Tode der treuen Nähterin zu gehören habe. Das Papier mit den lieben Schriftzügen vor Augen, saß Gritli in Gedanken versunken.
Wie anspruchslos hatte Fräulein Charlotte gelebt, nur still und unermüdlich für andere wirkend! Und welch ein reiches, ungewöhnliches Testament war vorgefunden worden nach ihrem Tode! Stets eingedenk, daß wir keine Stunde wissen, wenn wir abgerufen werden, hatte sie rechtzeitig in gesunden Tagen für alle Bedürftigen um sie her gesorgt, und zwar in der unvergleichlichen Weise, daß jedes von denen, die in ihrer Hut gestanden hatten, sich auch weiter von ihrer sorgenden Güte umgeben fühlte. Auch Gritli war nicht nur mit einem schönen Notpfennige bedacht gewesen, sondern eben auch mit der Zuweisung von solchen Sachen, die, aus dem persönlichen Gebrauche der geliebten Gönnerin stammend, ihm über ihren Tod hinaus ein Stück ihrer selbst zur Geleitschaft gaben.
Indem es dies pietätvoll überdachte, pries es die Begüterten um der einen Freude willen wahrhaft glücklich: daß sie die anderen glücklich machen konnten.
»Doch!« – stieg ihm plötzlich auf, »war das nicht auch dem Ärmeren möglich, wenn er sich ein bißchen was erübrigt und keine Angehörigen zu versorgen hatte? Stand es ihm dann nicht offen, im kleinen ähnlich Gutes zu stiften?« Ein warmer Strahl durchzuckte Gritlis Herz. Sein Geldchen bei Herrn Rych – wie lag das plötzlich in einem neuen, wundersamen Lichte da! Wenn Gritli nicht krank, unfähig zum Verdienen, in seinen alten Tagen dies Ersparte selbst aufzehren mußte, dann konnte es ja ein Gleiches tun! Es mußte es tun, so sagte es sich, da Gott ihm diese unverhoffte Einsicht sandte. Es wurde ihm ganz sonderbar zumute, demütig vor dem jäh entdeckten Reichtum.
Wie es ihn wohl verteilen würde? Dem da dieses. Jenem jenes. Es griff nach einem Stift und zog ein Endchen Papier hervor. Erst phantasierend, dann mit ernstlich erwogenen Zahlen begann es zu kritzeln, seine Habseligkeiten im Zimmer zu zählen, zu notieren, und schließlich entwarf es mit Feder und Tinte wirklich eine Art von Testament. Es überlas mit einer Empfindung, als täte es alles im Traume, das was es geschrieben, begann von neuem zu rechnen, änderte, stellte nochmals um, und fuhr so fort, immer ernstlicher, bis ihm nach wohl zwei Stunden schien, so wäre es gut. Und nun war Gritli auch fest entschlossen, das Entworfene gültig zu machen.
Tief atmete es auf und faltete nachdenklich den Bogen zusammen. Die Augen taten ihm weh. Ein Fensterflügel, der überm Hof in gleicher Höhe offen stand, hatte all die Zeit den Widerschein der Sonne blendend über Gritlis Tisch geworfen, und von dem vielen Denken in der nachmittäglichen Schwüle fühlte es sich jetzt ganz müde. Es hätte ein wenig schlummern mögen. Dort stand ein bequemerer Stuhl. Dahin setzte es sich.
Es faltete die Hände im Schoß und schloß die Augen. Draußen schlug es fünf Uhr.
Und ihm war im leise anhebenden Traum, als sähe es von ferne Fräulein Charlotte Rych, die ihm winkte. Überrascht und zaghaft versuchte es sich ihr zu nähern. Aber sie war erhöht, wie dem ebenen Boden entrückt, und harrte mild lächelnd seiner. Sie sprach keine Worte. Dennoch vernahm Gritli jetzt ein beglückendes Zustimmen zu seiner eben entworfenen Tat, und als sei auch es nun gestorben, ihren Willkommgruß an seligem Ort. Andächtig wagte es ihr näher zu treten auf der ansteigenden Bahn, und bald wurde ihm erkennbar, daß es zum Rand einer Wiese gelangte. Die war übersät mit tausend Blumen. Berge voll ewigen Schnees ragten auf hinter dem prangenden Plane. Zu Füßen ruhte weithin ein dunkler See. Wie es weiterschritt, gewahrte es herrliche Männer, die standen in Reihen von hier bis dort hinten, alle in alter Heldentracht. Das waren Schweizer Helden! Silberbärtige Greise, starke Männer, und hohe Jünglinge in lichtem Haar. Mit gütigen, schützenden Blicken sahen sie alle Gritli an und traten zur Seite, wo immer es schritt. Und ein Feuer sah es lohen, dort, wo auf der eben noch sonnigen Wiese ganz hinten nächtiges Dunkel webte. Davon glühten im Widerschein die Stämme uralter Bäume, und der Fuß himmelanstrebender Felsen. Und ein weihevolles Murmeln, gleich Schwüren, ging durch das verborgene Gelände, begleitet vom leisen Wellenschlage der Flut.
Da wollte Gritli den Atem anhalten, dem Heiligen zu lauschen.
Aber ein Schreck durchschütterte seinen Leib. Es war aufgefahren in seinem Stuhle und hatte die Augen geöffnet. Schmerzhaft mußte es sie erst wieder einen Augenblick schließen; denn die rote Abendsonne schien ihm gerade ins Gesicht.
Was aber war der furchtbare Schlag gewesen – oder der Sturz, der es geweckt? Und dann der Schrei? Jetzt gellte er wieder, verzweifelt. Noch ganz traumverwirrt, sprang Gritli ans Fenster und blinzelte hinaus. Ein Entsetzenslaut erstickte ihm in der Kehle, und seine Sinne wurden jählings wach. »Halte dich! halte dich, Gusti! ich komme!« stieß es hervor, – denn gegenüber im dritten Stockwerk hing, das Fensterkreuz umklammernd und mit den Beinen über der grausigen Tiefe nach einem Anhalt suchend, der achtjährige Knabe einer Nachbarin, während auf dem Steinpflaster des Hofes zerschellte Töpfe, Pflanzen, und Trümmer eines hinabgestürzten Blumenbrettes verkündeten, was geschehen war. Gritli stürzte in Sprüngen aus der Stube, Traum und schauderhafte Wirklichkeit in seinem Kopfe vollends entwirrend, über Treppen und Gänge jener Wohnung zu. Alles totenstill im weiten Bau. Noch waren nirgends die Hausgenossen heimgekehrt.
Mit bebenden Händen stieß es die Türe auf: – Gott sei's gedankt! noch krampften sich dort die Arme ums Holz. »Halte fest!« schrie Gritli wieder, »ich bin da!« Jetzt stand es beim Fenster und bog sich hinaus. Hoffnung, Angst, Hilfeflehen zu Gott jagten durch seine Seele. Besaß es die Kräfte, diesen schon schweren, jungen Körper so hoch heraufzuziehen? Es versuchte mit beiden Händen zuzugreifen, aber so ging es nicht; Gritli selber verlor auf diese Weise den Halt. Sich am Fensterstock sichernd mit dem einen Arm, griff es abermals hinab, um Gusti mit der andern allein zu heben. Unbeschreibliche Augenblicke folgten. Die Last hing so tief! Doch jetzt gelang es dem höher gezogenen Knaben, sich fester zu halten und selbst mitzuhelfen. Noch einige dumpfe Sekunden – und Gritli zog ihn wirklich herein. Unter Tränen schloß es den Jungen in die Arme.
Wie das Schreckliche hatte geschehen können, war von Gusti bald gestanden. Vom gemeinsamen Spaziergange heimkehrend, grade vorhin erst, war die Mutter nochmals aus dem Hause gegangen, über der Gasse etwas zu holen. Inzwischen hatte der Knabe sich ans Fenster gesetzt. Da war ein prächtiger Trauermantel herangeflattert und ließ sich auf einem der Geraniumstöcke draußen nieder. Gusti hatte sein Gärnchen herbeigeholt, das er kaum eben in die Ecke gestellt, und war auf den Stuhl gestiegen. Doch der Trauermantel flog auf. Er gaukelte wieder ein Weilchen um die Blumen und schwebte dann höher. Gusti sah ihm nach; nun setzte sich der Schmetterling aufs neue hin, gleich nebenan, auf die obere Kante des Fensterladens. Da war der Junge auf den Sims getreten und hatte sich hinausgebeugt. Den einen Arm um den Fensterstock, in der andern Hand das Netz, war er aber bei der entscheidenden Bewegung auf das Blumenbrett geraten, wie das unter ihm schwand, wie es zerschellte und was weiter, das wagte der todbleiche Bursche nicht mehr zu denken.
Gritli rüttelte ihn auf: »Gusti!« stieß es hervor, – »das müssen wir deiner Mutter ersparen!« Der Knabe schaute erwartungsvoll auf. »Du sagst ihr, – daß du wegen des Schmetterlings auf das Brett kamst und daß es deshalb herabfiel, – aber das andere nicht, hörst du? Danke Gott, daß er dich gerettet hat, und bewahre es als Geheimnis, als unser Geheimnis! Versprich!« Der Junge nickte, und alsbald eilte Gritli von dannen, aus dem Bereiche zu kommen, ehe die Nachbarin erschien.
Hochaufatmend lief es die öden Gänge zurück, durch die es vor wenigen Minuten hergerannt war, des Entsetzlichsten gewärtig; mit zitternden Füßen glitt es treppab, ungesehen, und stieg wieder treppauf. Droben angelangt aber, sank es in der dämmernden Stube an seinem Stuhl auf die Knie.
Welch eine Gnade hatte ihm sein Gott beschieden! Ein Leben zu retten war ihm bestimmt gewesen! Als welche beabsichtigte Fügung offenbarte sich da plötzlich Gritlis frommem Sinne die Verhinderung, seinem Vergnügen nachzureisen, die es in seiner menschlichen Kurzsichtigkeit vorschnell mit eiteln Tränen beweint hatte. Das Gesicht in die Hände vergraben, blieb es lange so zusammengesunken. Und langsam fühlte es Seele und Körper in dieser inbrünstigen Sammlung sich erholen.
Fröhliches Schwatzen und Lachen heimkehrender Nachbarn aus den offenen Fenstern drüben machte der Stille ein Ende. Da erhob sich die Kniende, erquickt und verklärt.
Auf dem Tische lagen noch die Papiere herum und stand die offene Kassette. Mit freudigem Blicke griff Gritli nach dem aufgesetzten Testament und barg es in die Tasche seines Werktagkleides. Der Notar mußte es morgen gültig machen. Das eben Erlebte bedeutete Gritli auch hierfür einen Fingerzeig von oben. Dann räumte es die übrigen Sachen zusammen, während das letzte Zwielicht die friedliche Stube erfüllte und vom Hofe das laute Durcheinander von Stimmen heraufdrang, die mit Gustis Mutter die ungeschickte Zerstörung des Blumenbrettes beklagten.
Ohne hinabzusehen, holte Gritli sein Lämpchen herbei, heiter entschlossen, nach dem Abendbrot noch wach zu bleiben, bis die Tullikerinnen heimkehrten. Es fürchtete jetzt ihre glücklichen Erzählungen nicht mehr. Was Trägheit des Herzens ihm zugefügt hatte, war in dieser Abendstunde in lauter Guttat verwandelt und die lieblose Kälte der Welt entkräftet an dem alles überwindenden Sonnenstrahl eines warmen Gemüts.