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Unbekannter Verfasser.
Ein Abenteuer am Schienenstrang

Erinnerung eines amerikanischen Stationsverwalters

Der Zug Nr. 39 war eine ganze Stunde verspätet. Die Ursache dafür ergab sich von selbst. Ein furchtbarer Sturm wütete schon zwölf Stunden lang, der Regen fiel in Strömen aus einem dunklen Gewölke, welches den ganzen Himmel überhing, und dabei folgte ein Donnerschlag dem andern. Es war schon 7 Uhr, als endlich die gelben Lichter des Zuges bei der nächsten Kurve sichtbar wurden, und ich fühlte mich erleichtert beim Anblick dieser Lebenszeichen. Zwei Brücken auf meiner Strecke gehörten zu den unsichersten der ganzen Linie. Was konnte bei einem solchen Wetter alles geschehen! Doch jetzt war der Zug da und meine Sorge vorüber. Nervös hatte mich die Sache aber doch gemacht, und dazu kamen an diesem Abend noch andere Dinge, um mich in Auflegung zu versetzen. Um 11 Uhr 30 Minuten vormittags sollte ich ein Geldpaket von 13 000 Dollar erhalten. Es kam nicht und war mir mit diesem Zuge avisiert. Der Gedanke, diese große Summe Geldes über Nacht in meiner Verwahrung lassen zu müssen, war eben nicht angenehm, da ich ganz allein die Station bewohnte. Zwei Reisende verließen den Zug; doch eigentlich sollte ich sagen, nur ein Reisender, denn der andere wurde in einem hölzernen Sarge aus dem Gepäckwagen gehoben.

»Wer ist es?« fragte ich, als die unheimliche Fracht in das Stationsgebäude getragen wurde.

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»Die Leiche meiner Schwägerin«, antwortete der fremde Herr, welcher ausgestiegen war. »sie war die Nichte des Herrn Eldridge, den Sie wohl kennen werden, und soll nun hier in der Familiengruft beigesetzt werden.«

»Dann muß wohl der Leichnam über Nacht hierbleiben?« fragte ich wieder.

»Ja«, sagte er kurz. »Glauben Sie, daß ich noch nach der Villa des Herrn Eldridge gelangen kann?«

»In diesem Sturm«, erwiderte ich, »wird es wohl schwer sein; ich rate Ihnen, lieber in dem nahen Gasthaus zu übernachten.« Ich zeigte darauf dem Fremden noch die Richtung, in welcher das eine Viertelstunde Weges entfernte Hotel lag und ging selbst zum Zugführer.

Dieser übergab mir das Paket mit dem Gelde und meinte: »Sei auf deiner Hut, Bill. In dem Paket hier ist genug enthalten, um einen unserer Buschklepper zu veranlassen, eine Kugel in deinen Kopf zu logieren, ohne daß du Gelegenheit hättest, gegen diese Einmietung zu protestieren.« Ich gab eine scherzhafte Antwort, die aber, offen gestanden, nur gezwungen von meinen Lippen kam. Dann gab der Zugführer das Zeichen, ein schriller Pfiff der Lokomotive ertönte und im nächsten Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung. Ich blickte den roten Lichtern nach, und als sie im Dunkel der Nacht verschwunden waren, überkam mich das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit in seiner ganzen Schwere.

Ins Haus eingetreten, warf ich noch einen Blick nach dem Sarge, der in einer Ecke des Gepäckraumes aufgestellt war, und ging dann in mein anstoßendes Zimmer, um mich möglichst gemütlich für den Abend einzurichten. Ich legte einige frische Scheite Holz in das Kaminfeuer, stellte Wasser zu, um mir einen Grog zu brauen, stopfte die Pfeife, nahm ein Zeitungsblatt zur Hand und setzte mich in meinen alten Lehnstuhl. Alles war vorbereitet, um einen ruhigen Abend zu genießen. Der tolle Sturm, der draußen heulte, machte ein warmes Zimmer doppelt schätzenswert. Trotz allem vermochte ich mich aber nicht behaglich zu fühlen. Die Pfeife wollte nicht brennen, der Grog schmeckte mir nicht, und für die Zeitung fand ich keine Aufmerksamkeit.

Nur um mich ein wenig zu zerstreuen, begann ich auf das Spiel des Morse-Telegraphen zu lauschen, dessen Geklapper mir zu der leichtverständlichen Sprache eines Freundes geworden war. Ein furchtbarer Donnerschlag übertäubte einen Augenblick lang alles; dann hörte ich wieder auf den Apparat und fuhr plötzlich erschrocken zusammen. Ganz deutlich hörte ich ihn rufen: »Watch the box!« (Gib acht auf den Sarg!)

Nach einer Weile abermals: »Gib acht auf den Sarg!« Und dann zum dritten Male: »Gib acht auf den Sarg!«

Mit meiner Ruhe war es nun ganz vorüber. Wer sandte die Depesche? Was sollte sie bedeuten? Ich empfand nur klar und deutlich, daß mir etwas Besonderes bevorstand. Unwillkürlich nahm ich meine alte Pistole vom Kasten herunter, die mir, ungeladen und verrostet, wie sie war, von keinem großen Nutzen sein konnte. Dann sah ich nochmals nach, ob das Haus gut verwahrt sei, schloß sorgfältig die Fensterladen und öffnete gänzlich die Tür, welche von meinem Zimmer in den Gepäckraum führte, damit ich den Sarg immer im Auge behalten könne. Ich setzte mich dann zum Apparat und fragte die Stationen auf der Linie, ob sie an mich depeschiert hätten. Alle antworteten: Nein!

Ich dachte, daß ich mich am Ende doch verhört hätte, setzte mich wieder zum Fenster und hielt meinen Blick auf den Sarg gerichtet, der mir jetzt ganz unheimlich geworden war, als plötzlich der Apparat wieder ganz deutlich rief: »Gib acht auf den Sarg!« und diese Warnung dreimal wiederholte. – Ich war jetzt fest entschlossen, die Nacht zu durchwachen, und warf mich, nachdem ich meine schweren Stiefel von den Füßen gezogen hatte, angekleidet auf das Bett. Der Sturm hatte sich gelegt, und langsam hörte ich mit dem Pendelschlage meiner alten Wanduhr die Zeit vorüberfließen. Es schlug 11 Uhr, es schlug Mitternacht. Alles ruhig. Die Lampe in dem Gepäckraum brannte, und ich behielt fort und fort den Sarg im Auge.

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Auf einmal wurde die Ruhe abermals durch das Spiel des Apparates unterbrochen, der mir wieder zurief: »Gib acht auf den Sarg!« Und ich gab acht. Da war es mir, als hörte ich in der Richtung des Sarges ein Geräusch, wie wenn langsam, leise eine Schraube im Scharnier gedreht würde. Mein Herz pochte hörbar, ich lauschte und als sich das Geräusch wiederholte, erhob ich mich leise, nahm die Pistole, die ich inzwischen geladen, zur Hand und schlich unhörbaren Schrittes zum Sarge. Ruhig stand ich dort und vernahm, wie in dem Sarge ein Riegel zurückgeschoben wurde, im nächsten Augenblick begann sich der Deckel langsam zu heben. Mir wurde freilich bange zumute. Der Anblick war eben ganz eigentümlich; aber rasch entschlossen warf ich mich auf den Sarg, wer oder was da immer drin sein mochte, durfte nicht heraus. Das war mir klar, und während ich den Deckel mit meiner ganzen Schwere niederdrückte, ertönte ein Aufschrei des Schmerzes.

Ich wußte nun, daß ich es mit keinem Gespenst zu tun habe. Mit Gewalt versuchte jetzt der im Sarge Eingeschlossene den Deckel zu heben. Seine Kraft reichte aber dazu nicht aus. Ich saß oben und blickte nun um mich, um irgend etwas zu finden, womit ich den Deckel verschließen könnte. Ein Strick lag mir zur Seite. Ich erfaßte ihn, zog ihn unter den Füßen des Sarges durch, schlang ihn zweimal um den Sarg und machte einen tüchtigen Knoten. Schnell nahm ich nun Hammer und Nägel und vernagelte trotz allen Flehens meines Gefangenen den Sarg und brauche wohl nicht zu sagen, daß ich mit den Nägeln nicht sehr sparsam umging. Dann eilte ich zum Apparat, gab Alarm nach der nächsten Station und bat dringend um einen Hilfszug, denn ich war gewiß, daß damit die Ereignisse der Nacht ihren Abschluß noch nicht gefunden hatten. Ich löschte die Lampe aus und bewaffnete mich noch mit einem kurzen Eisenstabe. »Hilfszug abgegangen!« kam das Signal und ich wartete nun der Dinge, die noch kommen sollten, mit weit größerer Ruhe.

Es mochten keine zehn Minuten vergangen sein, als ich Schritte vernahm. Vor der Tür machte jemand halt, dann wurde leise geklopft. Ich gab keine Antwort. »Michel!« rief eine Stimme und als alles ruhig blieb, pochte der nächtliche Besucher etwas lauter. Ich verhielt mich noch immer still. Plötzlich wurde ein kräftiger Schlag gegen die Tür geführt. Das eine der Felder wurde herausgeschlagen, und ein Arm fuhr nach dem Türriegel. Rasch entschlossen packte ich die Hand. Ein furchtbares Ringen entstand. Mit aller Gewalt suchte mein Gegner sich frei zu machen. Ich aber hielt ihn mit eisernem Griffe fest, wir mochten unsere Kräfte wohl an zehn Minuten gemessen haben, als mein zudringlicher Gast mir mit einem derben Fluche die Ankunft des Zuges ankündigte. Mit letzter Anstrengung versuchte er es noch einmal, sich loszureißen, steigerte aber bei ihm die Angst seine Kräfte, so gab mir die Hoffnung neuen Mut. Ich ließ ihn nicht los. Jetzt pfiff die Lokomotive, und der Zug fuhr ein. Sehr eilige Schritte nahten.

»Da ist er!« riefen mehrere Stimmen, und ich fühlte, wie mein Gefangener von draußen gezerrt wurde. »Mach auf!« rief mein Kollege von der nächsten Station.

Ich ließ die Hand frei und öffnete die Tür. Der Räuber, denn ein solcher war es, lag gebunden am Boden. Die Bahnbediensteten traten ein und freuten sich, zur rechten Zeit gekommen zu sein. »Ein guter Fang«, meinten sie, »der bringt dir 500 Dollar!« – »Es ist nicht alles«, sagte ich, »ich habe noch einen zweiten Gefangenen.« – »Wo, wo?« tönte es von allen Seiten. Ich zeigte nach dem Sarge und erzählte meine Geschichte.

Wir machten uns jetzt daran, den Inhalt des Sarges näher zu betrachten. Es war keine leichte Aufgabe bei der furchtbaren Vernagelung.

Endlich war aber der Deckel frei. Rasch öffneten wir ihn, und ehe noch die Pseudoleiche Zeit hatte, sich zu erheben oder von dem in ihrer Hand befindlichen Revolver Gebrauch zu machen, hatten wir uns der Waffe versichert. Es war einer der gefährlichsten Räuber von Michigan, auf dessen Kopf ein Preis von 1ooo Dollar gesetzt war, und ich hatte so durch ihn und seinen Kumpan eine Staatsprämie von 1500 Dollar verdient und erhielt überdies ein ansehnliches Geschenk von Herrn Eldridge, als ich ihm die 13000 Dollar übergab. Die Nacht hatte sich mir gut ausgezahlt. Ich war außerdem zu einem berühmten Manne geworden, aber ich möchte trotzdem keine zweite ähnliche Nacht durchleben. Am Ende kommen nicht immer Depeschen, die keinen Absender haben.


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