Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Letztes Fragment

»... Von euch erwarten wir eine geistige Wiedergeburt, ein neues Leben!«

Der Redner schrie es laut in die Menge hinein, wobei er sich nur mit Mühe auf dem Pfeiler aufrecht erhielt und, mit den Armen balancierend, eine Fahne schwenkte, auf der man in großer, durch die Falten gebrochener Schrift die Worte las: »Nieder mit dem Kriege!«

»... Ihr Vertreter des jungen Geschlechts, ihr, vor denen das Leben noch offen daliegt: bewahret euch selbst und die kommenden Geschlechter vor diesem Schrecken, diesem Wahnsinn! Nicht länger ist's zu tragen: von Blut sind die Augen geblendet. Der Himmel stürzt auf die Köpfe, die Erde spaltet sich unter den Füßen. Ihr guten Leute ...«

Ein rätselhaftes Grollen ging durch die Menge, und die Stimme des Redners verlor sich auf ganze Minuten in diesem dumpfen, drohenden Lärm.

»... Mag ich immerhin verrückt sein: jedenfalls spreche ich die Wahrheit. Mein Vater und mein Bruder faulen dort, wie das Aas gefallener Tiere. Laßt Scheiterhaufen aufflammen, grabt tiefe Gruben und vernichtet, verscharrt alle Waffen! Zerstört die Kasernen, laßt die Menschen dieses prunkvolle Kleid des Wahnsinns ausziehen! ... Nicht länger ist's zu tragen ...«

Ein großer, starker Mensch schlug auf den Redner los und stieß ihn von dem Pfeiler herunter; die Fahne flatterte noch einmal auf und fiel dann zu Boden. Ich konnte das Gesicht des Schlagenden nicht mehr unterscheiden, denn plötzlich war alles in ein einziges wildes Chaos umgewandelt. Alles geriet in Bewegung, heulte wild auf, wogte und brandete durcheinander. Steine und Knüttel sausten durch die Luft, Fäuste flogen über die Köpfe empor und hieben auf irgend jemanden ein. Wie eine lebendige, brausende Welle hob die Menge mich empor, trug mich ein paar Schritte weit fort und schleuderte mich mit Gewalt gegen einen Zaun, dann trug sie mich zurück, warf mich zur Seite und preßte mich schließlich gegen einen hohen Holzstapel, der bedenklich übergeneigt war und auf die Köpfe der Menge herabzustürzen drohte. Plötzlich knattert und prasselt etwas gegen die Balken; ein Augenblick der Stille tritt ein – dann erdröhnt von neuem ein furchtbares Geheul, wie aus gähnendem Schlunde schallend, erschreckend in seiner Elementargewalt. Und wiederum knattert und prasselt es, und neben mir bricht jemand zusammen, und aus einem roten Loch in seiner Stirn, an der Stelle, wo sonst die Augen sind, strömt rotes Blut. Ein schwerer Zaunpfahl saust durch die Luft und streift mein Gesicht, und ich stürze blutüberströmt zu Boden, winde mich zwischen den stampfenden Beinen hindurch und erreiche einen freien Raum. Dann kletterte ich über ein paar Zäune, brach mir dabei alle Nägel von den Fingern ab und kroch schließlich auf einen Holzstapel hinauf; er brach unter mir zusammen, und ich stürzte mit dem Katarakt von niederrollenden Scheiten zu Boden; mit vieler Mühe arbeitete ich mich aus dem Holzhaufen heraus, und wie ich hinhorchte, vernahm ich hinter mir, dicht auf meinen Fersen, ein jähes Krachen, Heulen und Knattern. Irgendwo läutete eine Kirchenglocke; ein Einsturz erfolgte – wie wenn ein Haus von fünf Stockwerken in sich zusammenbräche. Die Dämmerung schien sich in die Länge zu ziehen und den Einbruch der Nacht aufzuhalten, und von dem Tumult und den Gewehrsalven schien gleichsam ein roter Schein auszugehen, der der Finsternis wehrte. Als ich den letzten Zaun überklettert hatte, sah ich mich in einer schmalen, krummen, korridorartigen Sackgasse, in der ich ratlos hin und her lief, ohne einen Ausgang zu finden, da neue hohe Zäune mit dahinter emporragenden Holzhaufen sie abschlossen. Wieder kroch ich vorwärts über die beweglichen, schwankenden Haufen, stürzte in eine Art Brunnen, in dem es ganz still war und nach feuchtem Holz roch, und krabbelte wieder heraus. Ich wagte nicht rückwärts zu schauen: ich wußte ohnedies nach dem rötlichen Schein, der auf die schwarzen Balken fiel, was dort hinten vorging. Das Blut rann jetzt nicht mehr von meinem zerschlagenen Gesicht, das ganz seltsam starr geworden war, wie eine Gipsmaske; auch der Schmerz hatte fast ganz aufgehört.

Weiter und weiter lief ich, durch unbekannte Gassen, in denen keine Laternen brannten, zwischen dunklen Gebäuden hin, die wie ausgestorben schienen, und konnte mich nicht herausfinden aus diesem finsteren, schweigsamen Labyrinth. Ich hätte Halt machen und um mich schauen sollen, um mich zu orientieren, aber das ging nicht an, denn auf den Fersen saß mir immer noch das wüste Toben und Heulen, das sich hinter mir herwälzte. Zwar dröhnte es jetzt mehr gedämpft, wie aus der Ferne, wenn ich jedoch plötzlich an eine Querstraße kam, schlug es mir grell ins Gesicht, wie in purpurne, wirbelnde Rauchwolken gehüllt, und ich machte Kehrt und lief so lange, bis ich das dröhnende Chaos wieder in meinem Rücken hörte. An der einen Ecke bemerkte ich einen Lichtstreifen, der bei meinem Herannahen erlosch: man schloß da in aller Eile einen Laden zu. Durch die breite, erhellte Lücke sah ich noch ein Stück vom Ladentisch und ein Faß, dann war alles jäh in lautloses Dunkel gehüllt. Nicht weit von dem Laden stieß ich plötzlich auf einen Menschen, der auf mich zugerannt kam. In der Dunkelheit wären wir fast zusammengestoßen, und auf zwei Schritte Entfernung machten wir beide Halt. Ich weiß nicht, wer er war: ich sah nur die dunkle Silhouette eines Menschen.

»Kommst du von dort?« fragte er.

»Ja, von dort.«

»Und wohin willst Du?«

»Nach Hause!«

Er schwieg einen Augenblick, warf sich dann plötzlich auf mich und wollte mich zu Boden werfen, aber ich entzog mich der Umklammerung seiner Arme, die wild nach meiner Kehle griffen, biß ihn in die Hand und machte mich frei von ihm. Und nun lief ich wieder durch die öden Gassen, und er stampfte in seinen schweren Stiefeln hinter mir her, bis er auf einmal stehen blieb und mich freigab.

Ich weiß nicht, wie ich schließlich in der stockfinsteren Nacht meine Straße erreichte. Auch hier brannten die Laternen nicht, und die Häuser waren stockfinster, wie tot. Und ich wäre sicher an meinem Hause vorübergerannt, wenn ich nicht zufällig aufgeblickt und es erkannt hätte. Ich war jedoch meiner Sache nicht sicher: das Haus, in dem ich so viele Jahre lang gelebt hatte, erschien mir fremd in dieser seltsamen, toten Straße, in der mein laut keuchender Atem einen unheimlichen Widerhall weckte. Dann durchzuckte mich plötzlich ein jäher Schreck bei dem Gedanken, daß ich beim Sturz von dem Holzstapel den Hausschlüssel verloren haben könnte, doch fand ich ihn endlich in der Außentasche. Als ich ihn im Schlosse umdrehte, wiederholte das Echo den Ton so laut, als wären in all den toten Häusern der Straße mit einem Mal alle Türen geöffnet worden.

Ich lief zuerst nach dem Keller, um mich zu verstecken, hier aber ward mir bald ganz schaurig und bang zu Mute, und es begann mir vor den Augen zu flimmern. Ich stahl mich nun leise nach der Wohnung empor, schloß im Dunkeln alle Türen ab und wollte sie mit Möbeln verbarrikadieren, aber das in den öden Zimmern wiederhallende Gepolter erschreckte mich, und ich stand ab von meinem Vorhaben.

»Ich will den Tod so erwarten,« entschied ich, »es ist ja nun doch alles gleichgültig.«

Ich ging an den Waschtisch, wusch im Dunkeln mein Gesicht und trocknete es mit dem Handtuch ab. Dort, wo mich der Pfahl getroffen, zwickte und zwackte es schmerzhaft, und ich empfand plötzlich den Wunsch, in den Spiegel zu schauen. Ich brannte ein Zündholz an, und in seinem schwachen, schwankenden Lichte trat mir aus dem Spiegel etwas so Furchtbares, Entstelltes entgegen, daß ich eiligst das Zündholz zu Boden warf. Es schien, daß mein Nasenbein zerschmettert war.

»Jetzt ist doch schließlich alles gleich,« dachte ich, »wer frägt jetzt nach meiner Nase!«

Und mit einem Mal ward mir ganz lustig zu Mute. Ich ging nach dem Buffet, suchte dort etwas Eßbares und begann zu essen. Dann öffnete ich das nach dem Hofe führende Luftfenster und lauschte ins nächtliche Dunkel hinaus. Zuerst war alles ganz still – bald aber hörte ich aus der Ferne immer deutlicher das Lärmen und Schreien, das Stürzen und Krachen und lautes Gelächter. Weit lauter dröhnte das alles als vorher. Ich blickte nach dem Himmel: er war ganz purpurrot. Der Schuppen vor mir, das Pflaster des Hofes, die Hundehütte – alles war von demselben roten Schein übergossen.

»Neptun!« rief ich leise den Hund.

Er war nicht da – er hatte sich von der Kette losgerissen und aus dem Staube gemacht. Das Lärmen und Krachen erscholl immer lauter, und ich schloß das Fenster.

»Sie kommen hierher,« dachte ich, und begann nach einem Schlupfwinkel zu suchen, in dem ich mich verstecken könnte. Ich öffnete die Oefen, untersuchte den Kamin, schloß die Spinden auf – und fand nicht, was ich suchte. Alle Zimmer durchsuchte ich, außer dem Kabinett, in dem, wie ich wußte, »er« in seinem Rollstuhl vor dem mit Büchern bedeckten Tische saß.

Allmählich schien es mir, als wäre ich nicht allein im Hause, als gingen im Dunkeln noch irgend welche Gestalten schweigend neben mir her. Ich spürte ganz deutlich einen fremden Atem in meinem Nacken.

»Wer ist da?« fragte ich leise, aber niemand antwortete.

Doch wie ich weiterschritt, fühlte ich wiederum deutlich, wie sie neben mir herschlichen, schweigsam und unheimlich. Ich wußte wohl, daß das alles nur daher kam, weil ich krank war und offenbar fieberte; aber ich konnte mich der Angst nicht erwehren und zitterte am ganzen Leibe. Ich faßte nach meinem Kopfe: er glühte wie Feuer.

»Ich will lieber zu ihm hineingehen,« dachte ich. »Er ist doch immer mein Bruder.«

Er saß in seinem Rollstuhl vor dem Tische mit den Büchern und verschwand diesmal nicht, als ich eintrat. Durch den herabgelassenen Fenstervorhang drang ein rötlicher Schimmer in das Kabinett, der jedoch zu schwach war, als daß man deutlich hätte sehen können. Auch »er« war nur ganz wenig zu sehen. Ich setzte mich abseits von ihm auf den Divan und wartete. Das Lärmen und Krachen draußen ward immer lauter – sie kamen, sie kamen! Immer stärker flammte der purpurne Lichtschein, und jetzt sah ich den Bruder ganz deutlich in seinem Sessel: sah das schwarze, wie aus Eisen gegossene, von einer schmalen roten Linie umrissene Profil.

»Bruder!« rief ich leise.

Doch er schwieg, er blieb unbeweglich und schwarz, wie eine Statue. Im Zimmer nebenan knarrte eine Diele – und plötzlich ward es dann so still, so still, wie im Reich der Toten. Auch der rote Lichtschein bekam etwas Totes, Starres, Düsteres, und ich glaubte, daß diese Totenstille von dem Bruder ausgehe.

Und ich sagte ihm, was ich dachte.

»Nein, nicht von mir geht das aus,« antwortete er. »Blicke zum Fenster hinaus!«

Ich zog den Vorhang zur Seite – und fuhr zurück.

»Das also ist es!« sagte ich.

»Ruf meine Frau, sie hat das noch nicht gesehen,« befahl mir der Bruder.

Sie saß im Eßzimmer und nähte irgend etwas. Als sie mein Gesicht erblickte, legte sie die Arbeit weg und folgte mir. Ich zog an allen Fenstern die Vorhänge zurück, und durch die breiten Oeffnungen flutete ungehindert der rote Lichtschein. Seltsamerweise ließ er die Zimmer im Dunkeln – nur die Fenster lohten wie unbewegliche, große, rote Rechtecke.

Wir traten an eins der Fenster. Dicht am Gemäuer des Hauses, am Karnies, setzte der gleichmäßig feuerrote Himmel ein, ohne Wolken, ohne Sterne, ohne Sonne und wölbte sich weithin nach dem Horizont. Und tief unter ihm dehnte sich ein ebenso gleichmäßig dunkelrotes Feld, das ganz mit Leichen bedeckt war. Alle Leichen waren nackt und mit den Füßen uns zugewandt, daß wir nur die Sohlen und die dreieckigen Köpfe sahen. Und es war ganz still – offenbar waren alle tot, und es gab auf dem unabsehbar weiten Felde keine Vergessenen.

»Es werden ihrer noch mehr werden,« sagte der Bruder.

Auch er stand am Fenster, und alle waren überhaupt da: die Mutter, die Schwester, und alle, die in diesem Hause wohnten. Ihre Gesichter sah ich nicht, nur ihre Stimmen unterschied ich.

»Das ist alles nur Schein,« meinte die Schwester.

»Nein, es ist Wahrheit. Sieh doch hin!«

Die Zahl der Toten schien in der Tat zu wachsen. Wir forschten gespannt nach der Ursache und sahen, wie neben dem einen Toten, wo vorher ein leerer Raum gewesen, plötzlich ein neuer Toter erschien: offenbar schleuderte die Erde selbst sie hervor. Und alle leeren Plätze füllten sich rasch, und bald schimmerte die ganze Erde von rosig blassen Leibern, die reihenweise, mit den nackten Sohlen uns zugewandt, hingestreckt lagen. Und ein rosig blasser, toter Wiederschein fiel auch ins Zimmer.

»Seht doch, sie haben nicht Platz genug!« sagte der Bruder.

Und die Mutter sprach:

»Einer ist schon da!«

Wir wandten uns um: hinter uns auf dem Fußboden lag ein nackter, rosig-blasser Leib mit zurückgeneigtem Kopfe. Und sogleich erschien neben ihm ein zweiter und dritter. Einen nach dem andern warf die Erde aus, und bald füllten die regelmäßig gereihten, rosig-blassen Leiber alle Zimmer.

»Auch im Kinderzimmer sind welche,« sagte die Amme, »ich hab's gesehen.«

»Laßt uns von hier fortgehen,« bat die Schwester.

»Ihr findet nirgends einen Ausgang!« ließ sich der Bruder vernehmen – »seht doch!«

Und in der Tat: sie berührten uns schon mit den nackten Füßen, und sie lagen ganz dicht, Arm an Arm. Und nun gerieten sie in Bewegung und richteten sich reihenweise, ganz wie sie lagen, empor: denn neue Tote kamen aus der Erde, drängten sie nach oben und nahmen ihren Platz ein.

»Sie werden uns erdrücken!« schrie ich – »retten wir uns durchs Fenster!«

»Das geht nicht!« schrie der Bruder. »Das geht nicht! Sieh doch, was dort ist!«

Vor dem Fenster, im purpurroten, regungslosen Lichte, stand es selbst in eigenster Gestalt, das Rote Lachen.

 

Druck von Rosenthal & Co., Berlin SO. 16.


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