Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Sechzehntes Fragment

... Acht Tage lang ist die Schlacht bereits im Gange. Am vergangenen Freitag hat sie begonnen, und nun ist der Sonnabend, der Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag vergangen, wieder ist der Freitag gekommen und vergangen, und sie ist immer noch im Gange. Zwei Heere, Hunderttausende von Menschen, stehen einander gegenüber, ohne zu weichen, und senden sich unaufhörlich todbringende Explosivgeschosse zu. In jedem Augenblick werden lebendige Menschen in Leichname verwandelt. Der Himmel selbst bebt von dem ewigen Donner und den unaufhörlichen Lufterschütterungen, schwarze Wolken sammeln sich über den Häuptern der Kämpfenden, und Gewitter gehen nieder – sie aber stehen einander gegenüber, ohne zu weichen, und töten sich gegenseitig. Wenn der Mensch drei Nächte nicht geschlafen hat, wird er krank und verliert das Gedächtnis – und sie schlafen bereits seit einer Woche nicht und sind alle miteinander Geisteskranke. Darum fühlen sie auch den Schmerz nicht, darum halten sie stand und werden so lange standhalten, bis alle getötet sind. Es heißt, daß einigen Truppenteilen die Munition ausgegangen ist, daß sie mit Steinen und Fäusten weiter kämpften, daß sie bissen wie die Hunde. Wenn die Reste dieser Heerhaufen nach Hause zurückkehren sollten, werden sie Reißzähne haben, wie die Wölfe – aber sie werden nicht zurückkehren, sie sind dem Wahnsinn verfallen und werden sich alle bis auf den letzten Mann gegenseitig töten.

Sie sind dem Wahnsinn verfallen. In ihrem Kopfe ist alles um und um gekehrt, sie vermögen nichts mehr zu begreifen: wenn man sie plötzlich, ganz jäh und rasch, Kehrt machen ließe – sie würden ohne Bedenken auf die Ihrigen schießen, in der Meinung, es seien die Feinde.

Seltsame Gerüchte gehen um ... Gerüchte, die man sich nur leise, voll bleichen Entsetzens und banger Ahnung, zuzuraunen wagt. O Bruder, Bruder, hörst du es, was man sich erzählt vom roten Lachen? Es heißt, daß Armeen von Gespenstern, Regimenter von Schatten auf dem Kampfplatz erschienen sind, die in allem den Lebenden gleichen. In der Nacht, wenn die wahnbefangenen Gehirne der Streitenden jäh ermatten und sie für einen Augenblick in Schlaf sinken, oder am Tage, wenn in der Hitze des Gefechts der helle Tag selbst zum Gespenst geworden, tauchen sie plötzlich auf, schießen aus gespenstischen Geschützen und erschüttern die Luft mit gespenstischen Donnern, und die Menschen, die lebenden, wahnsinnigen Menschen, voll Bestürzung über die jähe Erscheinung, kämpfen auf Tod und Leben gegen den geisterhaften Feind, verlieren den Rest der Vernunft, werden im Augenblick grau und sterben. Und so plötzlich, wie die Gespenster erschienen – so plötzlich verschwinden sie wieder, und lautlose Stille tritt ein, und die Erde ist von neuen, gräßlich entstellten Leichen bedeckt – wer hat sie getötet? Weißt du es, Bruder, wer sie getötet hat?

Wenn nach wildem Kampfe eine Ruhepause eintritt und auch der Feind in der Ferne rastet, ertönt plötzlich ein einzelner, angstvoller Schuß durch die dunkle Nacht. Und alle springen auf, und alle schießen ins Dunkel hinein, und schießen lange, ganze Stunden lang, in das lautlose Dunkel, das ihnen keine Antwort gibt. Was sehen sie dort? Was ist dieses Entsetzliche, das ihnen dort sein Wahnsinn und Schrecken atmendes Bild vorgaukelt? Du weißt es, Bruder, und auch ich weiß es – sie aber, diese Ärmsten, wissen es noch nicht, sie ahnen es höchstens und fragen erbleichend: warum gibt es denn so viel Wahnsinnige unter uns? Es hat doch früher nie so viel Wahnsinnige gegeben!

»Es hat früher niemals so viel Wahnsinnige gegeben!« sagen sie erbleichend, und sie suchen sich einzureden, daß es jetzt ganz genau so sei wie früher, und daß dieser Weltbrand, diese furchtbare Vergewaltigung der Vernunft, ihren armen kleinen Hirnen nichts anhaben könne.

Die Menschen haben doch auch früher und überhaupt zu allen Zeiten Kriege geführt, und man hat nichts von der Art beobachtet! »Kampf« heißt das Gesetz des Lebens, sagen sie voll Überzeugung und Ruhe, und dabei werden sie selber bleich, und spähen besorgt nach dem Arzt, und schreien voll Angst: »Wasser! Rasch, rasch – ein Glas Wasser!«

Sie würden mit Vergnügen Idioten werden, diese armen Menschlein, um nur nicht merken zu müssen, wie ihr Verstand ins Wanken gerät, wie in diesem Kampfe mit dem Absurden, dem sie so gar nicht gewachsen sind, ihre Denkkraft erlahmt. In diesen grausigen Tagen, da man dort in der Ferne unaufhörlich aus Menschen Leichen machte, konnte ich nirgends Ruhe finden und lief dahin und dorthin, wo es Menschen gab; ich hörte viele Gespräche über dieses Thema, hörte viele Leute unter erheucheltem Lächeln versichern, daß der Krieg sie nicht das geringste angehe. Aber noch häufiger begegnete ich ehrlichem, unverhülltem Entsetzen und hoffnungslosen, bitteren Tränen, und grenzenloser, laut aufschreiender Verzweiflung, in deren Ausbrüchen der große Weltengeist selbst durch menschlichen Mund sein machtvolles Drohwort zu offenbaren schien:

»Wann wird es enden, dieses wahnsinnige Schlachten?«

In einer bekannten Familie, die ich schon lange, vielleicht ein paar Jahre lang nicht besucht hatte, traf ich unvermutet mit einem geistesgestörten Offizier zusammen, der eben vom Kriegsschauplatz heimgekehrt war. Wir hatten gemeinsam die Schule besucht, aber ich erkannte ihn nicht wieder; auch seine Mutter, die ihn doch geboren, hatte ihn nicht wiedererkannt; wenn er ein ganzes Jahr im Grabe gelegen hätte, wäre er sich selbst ähnlicher geblieben als jetzt. Sein Haar ist ganz weiß geworden; die Gesichtslinien sind nur wenig verändert – aber er schweigt immer und horcht auf irgend etwas, und das gibt seinem Gesichte einen so beklemmend seltsamen Ausdruck der Weltfernheit und Gleichgültigkeit gegen alles, daß man geradezu Furcht hat, ihn anzusprechen. Man hat seinen Angehörigen erzählt, auf welche Art er seinen Verstand verlor: er stand in der Reserve, als das Nachbarregiment zur Bajonettattacke überging. Die Leute stürmten vorwärts und schrieen »Hurra«, und zwar so laut, daß sie beinahe die Schüsse überschrieen. Da plötzlich verstummten die Schüsse, und das Hurra verstummte, und Grabesstille trat ein – sie waren aneinander geraten, der Bajonettkampf hatte begonnen. Und diese Stille hatte sein Verstand nicht ertragen.

Jetzt verhält er sich ruhig, solange man in seiner Gegenwart spricht, lärmt, schreit; er hört dann zu und wartet; es braucht jedoch nur einen Augenblick Stillschweigen einzutreten, und sogleich faßt er sich an den Kopf, stürmt auf die Wand, auf die Möbel los und bekommt einen jähen Anfall, wie ein Epileptiker. Er hat zahlreiche Verwandte – sie lösen sich gegenseitig bei ihm ab und verbreiten um ihn einen Lärm, der ihm wohltut, und für die Nächte, die langen, lautlosen Nächte, hat sein Vater – ein alter Graubart, der gleichfalls ein wenig verrückt ist – einen Ausweg gefunden. Er hat die Wände seines Zimmers mit laut tickenden Uhren behängt, die fast ununterbrochen, jede immer zu verschiedener Zeit, schlagen, und jetzt hat er darin ein Rad angebracht, das einer beständig arbeitenden Schnarre gleicht. Sie verlieren alle die Hoffnung nicht, daß er gesund werden wird, da er erst siebenundzwanzig Jahre zählt, und augenblicklich herrscht bei ihnen sogar eine ganz vergnügte Stimmung. Man läßt ihn elegante Zivilkleider tragen und sorgt auch sonst für sein Äußeres, und mit seinem weißen Haar, mit dem noch jugendlichen, nachdenklichen, vornehmen Gesicht und den langsamen, müden Bewegungen ist er sogar hübsch zu nennen.

Als man mir seine Geschichte erzählt hatte, ging ich hin und küßte seine Hand, diese bleiche, welke Hand, die sich nie wieder zu einem Schlage gegen einen Menschen erheben wird, und niemand wunderte sich weiter darüber, daß ich seine Hand küßte. Nur seine junge Schwester lächelte mir mit den Augen zu und war dann die ganze Zeit so liebenswürdig um mich herum, als wenn ich ihr Bräutigam wäre und sie mich über alles in der Welt liebte. So liebenswürdig war sie, daß ich nahe daran war, ihr von meinen öden, dunklen Zimmern zu erzählen, in denen ich ganz allein – nein, schlimmer als allein war. – Erbärmliches, schwaches Herz, das doch nie der Hoffnung auf Trost entsagen mag ....

Sie wußte es so einzurichten, daß wir zu zweien allein blieben.

»Wie bleich Sie sind,« sagte sie freundlich, »und solche dunkle Ringe haben Sie um die Augen. Sind Sie krank? Tut's Ihnen leid um Ihren Bruder?«

»Mir tut es um alle leid. Ich fühle mich nicht ganz gesund.«

»Ich weiß, warum Sie seine Hand geküßt haben. Die andern haben es nicht verstanden. Weil er ... irrsinnig ist, nicht wahr?«

»Ja, weil er irrsinnig ist.«

Sie blickte nachdenklich vor sich hin und sah jetzt dem Bruder sehr ähnlich, nur daß sie ganz jung und frisch war.

»Und würden Sie mir wohl erlauben« – sie hielt inne und wurde rot, doch schlug sie die Augen nicht nieder – »würden Sie mir erlauben, daß ich Ihre Hand küsse?«

Ich kniete vor ihr nieder und sagte: »Segnen Sie mich!«

Sie erbleichte ein wenig, trat einen Schritt zurück und flüsterte mit den bloßen Lippen:

»Ich bin nicht gläubig.«

»Auch ich bin es nicht.«

Einen Augenblick ruhten ihre Hände auf meinem Kopfe.

»Du weißt, daß ich dorthin fahre?« sagte sie dann.

»Tu es! Doch du wirst es nicht ertragen.«

»Ich weiß nicht ... Aber sie bedürfen der Hilfe – wie du, wie der Bruder. Sie tragen keine Schuld. Wirst du meiner gedenken?«

»Ja. Und du?«

»Auch ich werde deiner gedenken. Lebe wohl!«

»Lebe wohl für immer!«

Ich wurde ruhig, und es wurde mir leicht ums Herz, als hätte ich bereits das Furchtbarste überstanden, was Tod und Wahnsinn in sich schließen. Und zum erstenmal betrat ich gestern gelassen und furchtlos mein Haus, öffnete das Kabinett des Bruders und saß lange an seinem Tische. Und als ich plötzlich in der Nacht wie von einem Stoß erwachte und das Kratzen der trockenen Feder auf dem Papier vernahm, erschrak ich durchaus nicht, sondern dachte fast lächelnd:

»Schreib nur, Bruder, schreib! Deine Feder ist nicht trocken – sie ist in lebendiges Menschenblut getaucht. Mögen deine Blätter immerhin leer scheinen – in ihrer unheimlichen Leerheit sagen sie mehr über Krieg und Vernunft als alles, was weise Männer darüber geschrieben haben. Schreib, Bruder, schreib!«

... Heute morgen las ich, daß die Schlacht immer noch fortdauere, und von neuem bemächtigte sich meiner eine qualvolle Unruhe. Ich hatte das Gefühl, als ob irgend etwas Fremdes jäh in mein Hirn eindringe. Es kommt, es ist schon nahe – es steht bereits auf der Schwelle dieser öden, hellen Zimmer. Gedenke mein, o gedenke mein, du mein liebes Mädchen: ich werde wahnsinnig. Dreißigtausend Tote! Dreißigtausend Tote ...


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