Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Elftes Fragment

... Gefangene sind's – ein Haufen zitternder, eingeschüchterter Menschen. Als man sie aus dem Waggon aussteigen ließ, heulte die Menge auf wie ein einziger riesiger, bösartiger Hund, der an einer kurzen, dünnen Kette liegt. Heulte auf und schwieg dann, schwer atmend, während sie in dichtgedrängten Haufen dahinschritten, die Hände in den Taschen, ein scheues Lächeln um die bleichen Lippen, in vorsichtig ängstlicher Gangart, als ob sie jeden Augenblick einen Stockhieb in die Kniekehlen zu bekommen fürchteten. Einer jedoch ging etwas abseits von den andern – er war ruhig und ernst und lächelte nicht, und als ich dem Blick seiner schwarzen Augen begegnete, las ich darin den nackten, unverhohlenen Haß. Ich sah klar und deutlich, daß er mich verachtet und mir alles Böse zutraut: wenn ich ihn, den Wehr- und Waffenlosen, auf der Stelle erschlagen würde, er würde nicht einen Schrei ausstoßen, würde sich nicht verteidigen, nicht zu rechtfertigen suchen: er traut mir eben, mit einem Wort, alles zu.

Ich lief mit der Menge, die ihnen folgte, um noch einmal seinem Auge zu begegnen, und das gelang mir, als sie eben das zu ihrer Aufnahme bestimmte Gebäude betraten. Er ließ alle seine Schicksalsgenossen an sich vorüberschreiten und trat als der letzte ein, nachdem er noch einmal nach mir zurückgeschaut hatte. Und da las ich in seinen schwarzen Augen, in denen Pupille und Iris eins zu sein schienen, so viel Pein, so viel Wahnsinn und Schrecken, als wenn ich in die unglücklichste Seele der Welt hineingeblickt hätte.

»Wer ist jener dort – der mit den schwarzen Augen?« fragte ich einen von den eskortierenden Soldaten.

»Ein Offizier ist's. Ein Verrückter. Es gibt eine ganze Menge von der Sorte.«

»Wie heißt er denn?«

»Er sagt's nicht. Auch seine Landsleute wissen's nicht. Ist uns so zugelaufen. Einmal haben wir ihn schon aus der Schlinge gezogen,« meinte der Soldat und verschwand mit einer Geste, die das Aufhängen andeutete, hinter der Tür.

Und jetzt, am Abend, denke ich über ihn nach. Er ist ganz allein, mitten unter Feinden, die er jeder Niedertracht für fähig hält, und seine eigenen Leute kennen ihn nicht. Er schweigt und erwartet geduldig die Stunde, da er von dieser Welt scheiden kann. Ich glaube es nicht, daß er verrückt ist, und er ist auch kein Feigling: er allein benahm sich mit Würde inmitten dieses Haufens von zitternden, eingeschüchterten Menschen, die er offenbar ebenso wenig für die Seinigen hält wie uns. Was mag in seiner Seele vorgehen? Welcher Abgrund der Verzweiflung mag im Innern dieses Menschen gären, der als Sterbender seinen Namen nicht nennen mag? Was soll ihnen sein Name? Er ist mit dem Leben und den Menschen fertig, er hat ihr Wesen und ihren Wert erkannt, er unterscheidet nicht mehr zwischen Landsleuten und Feinden und läßt sie schreien und toben und drohen, so viel sie wollen. Ich erkundigte mich weiter nach ihm und erfuhr, daß er während des letzten furchtbaren Kampfes, der etliche Zehntausend Menschenleben gekostet hat, in unsere Gefangenschaft geraten sei. Er habe sich nicht gewehrt, als man sich seiner bemächtigte: er trug keine Waffen, und als ein Soldat, der das nicht bemerkte, ihm einen Säbelhieb versetzte, hob er nicht einmal den Arm zu seinem Schutze empor. Er wollte offenbar sterben – doch die Wunde war, zu seinem Unglück, nur leicht.

Vielleicht ist sein Geist aber doch gestört? Der Soldat meinte, es gebe eine ganze Menge solcher Leute ...


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