Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Fünfzehntes Fragment.

... Was für ein absurder, was für ein furchtbarer Traum! Als ob von meinem Hirn die schützende Schädeldecke abgehoben wäre und es nun in seiner hilflosen Nacktheit demütig und gierig zugleich alle Greuel dieser blutigen Tage des Wahnsinns in sich saugte. In einen Klumpen zusammengerollt, liege ich da, nehme kaum drei Ellen Raum ein und umspanne mit meinen Gedanken doch die ganze Welt. Ich schaue gleichsam mit den Augen aller Menschen und höre mit aller Ohren; ich sterbe mit den Sterbenden, traure und weine mit den Verwundeten und Vergessenen, und wenn ich aus jemandes Leibe Blut rinnen sehe, fühle ich den Schmerz seiner Wunden und leide mit ihm. Das, was noch nicht war, was in der Ferne ist, sehe ich ebenso deutlich wie das, was längst war, und was mir nahe ist, und die Leiden meines bloßgelegten Hirns sind ohne Grenzen.

Diese Kinder, diese kleinen, unschuldigen Kinder! Ich sah sie auf der Straße beim Kriegsspiel, wie sie mit blitzenden Augen hintereinander herjagten, und ich hörte, wie eins von ihnen mit seinem feinen Kinderstimmchen weinte – es erbebte etwas in mir vor Abscheu und Entsetzen. Ich ging nach Hause, die Nacht brach an – und im flammenden, einer nächtlichen Feuersbrunst gleichenden Traumbild verwandelten sich diese kleinen, unschuldigen Kinder in ganze Haufen von jugendlichen Mördern.

Ein unheimlicher Feuerbrand loderte auf mit breitem, rotem Schein, und in dem Rauche wimmelten abscheuliche kleine Mißgeburten mit zarten Kinderleibern und mit den Köpfen erwachsener Mörder. Sie hüpften unruhig umher, wie spielende Ziegenböckchen, und atmeten schwer, als wären sie leidend. Ihr Mund glich einem Kröten- oder Froschmaul, und sie öffneten ihn weit unter krampfhaftem Zucken der Kiefer; unter der durchsichtigen Haut der nackten Leiber sah man in dunklen Adern das rote Blut fließen. Und sie töteten einander im Spiele. Ihr Anblick war mir widerwärtiger als alles, was ich je gesehen, da sie so klein waren und überall durchschlüpfen konnten.

Ich blickte aus dem Fenster, und einer von den Kleinen sah mich an, lächelte und bedeutete mir mit dem Blick, daß er zu mir herein wolle.

»Ich will zu dir,« sagte er.

»Du wirst mich töten!«

»Ich will zu dir!« sagte er noch einmal und begann plötzlich an der weißen Mauer des Hauses emporzukriechen, wie eine Ratte, ganz wie eine hungrige Ratte. Er glitt herab und quiekte, kroch aber gleich wieder an der Mauer hinauf und flitzte so rasch hin und her, daß ich seinen hastigen, zuckenden Bewegungen kaum zu folgen vermochte.

»Wie, wenn er unter der Tür hindurchschlüpft?« dachte ich in plötzlichem Erschrecken, und als wenn er meinen Gedanken erraten hätte, begann er sogleich sich zu dehnen, daß er ganz lang und schmal wurde, und so, mit dem Schwanzende zappelnd, kroch er durch die dunkle Spalte unterhalb der Eingangstür. Ich hatte gerade noch Zeit genug, mich unter der Bettdecke zu verstecken, und hörte, wie er, der Kleine, mich in den dunklen Zimmern suchte, indem er mit den nackten kleinen Füßen vorsichtig umhertappte. Ganz langsam, immer wieder Halt machend, näherte er sich meinem Zimmer und trat ein; lange Zeit hörte ich nichts, nicht eine Bewegung, nicht ein Geräusch, als wenn niemand da wäre. Dann lüftete eine kleine Hand behutsam den Zipfel meiner Decke, und die kalte Zimmerluft berührte mein Gesicht und meine Brust. Ich hielt die Decke fest, so gut ich konnte, aber immer wieder ward ihr Rand emporgehoben, und meine Füße wurden auf einmal so kalt, als wenn sie in Wasser getaucht würden. Hilftos starrten sie in das Dunkel des Zimmers, und »er« blickte sie schweigend an.

Auf dem Hofe schlug der Hund kurz an und verstummte – ich hörte seine Kette klirren, als er sich in die Hundehütte zurückzog. »Er« schaute noch immer auf meine nackten Füße und schwieg; aber ich wußte, daß er da war, ich fühlte es heraus aus dem lähmenden Schreck, der gleich dem Tode mich wie in starrer Versteinerung niederhielt. Wäre ich imstande gewesen, zu schreien, ich hätte die ganze Stadt, die ganze Welt wachgeschrieen, aber meine Stimme war erstorben, und ohne mich zu regen, ließ ich es widerspruchslos geschehen, daß die kalten kleinen Hände über meinen Körper hinglitten und meiner Kehle immer näher kamen.

»Ich halt' es nicht aus!« stöhnte ich endlich mit halberstickter Stimme und erwachte für einen Augenblick. Ich sah in das geheimnisvolle, lebendige Dunkel der Nacht hinaus und schlief dann, glaube ich, von neuem ein ...

»Beruhige dich!« sagte der Bruder zu mir, während er sich auf mein Bett setzte; es knarrte unter ihm, so wuchtig drückte er darauf in seiner toten Schwere. »Beruhige dich, du hast das alles nur geträumt. Es schien dir, daß man dich würgt – während du in Wahrheit in deinem dunklen Zimmer liegst, von niemand gestört, und fest schläfst, und ich in meinem Kabinett sitze und schreibe. Keiner von euch hat begriffen, was ich schreibe; ihr habt mich ausgelacht, mich einen Narren genannt. Jetzt aber will ich dir die Wahrheit sagen: ich schreibe über das rote Lachen! Kannst du es sehen?«

Etwas Gewaltiges, Blutiges, Rotes stand vor mir und grinste mich zahnlos an.

»Das ist das rote Lachen! Wenn die Erde verrückt wird, dann lacht sie so. Du weißt doch, daß die Erde verrückt geworden ist? Es gibt keine Blumen, keine Lieder mehr auf ihr, sie ist rund, glatt und rot geworden wie ein Menschenkopf, von dem man die Haut abgezogen hat. Siehst du sie?«

»Ja, ich sehe sie. Sie lacht.«

»Schau, was mit ihrem Hirn geworden ist: es ist rot wie blutiger Grützbrei, und ganz zerrührt ...«

»Ich höre sie schreien ...«

»Sie empfindet Schmerz. Sie hat weder Blumen noch Lieder. Jetzt laß mich ins Bett – ich will mich auf dich legen ...«

»Ich fürchte mich so sehr ...«

»Wir Toten legen uns auf die Lebenden ... Es ist dir doch wohl dabei?«

»Ich sterbe ...«

»Erwache und schrei! Erwache und schrei! Ich gehe ...«


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