Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Viertes Fragment.

... entsetzliche Wirkungen dieser Stacheldrähte. Den Schlangen gleich umwanden sie die Leute und zogen sie in ihre tötlichen Verstrickungen. Er hatte gesehen, wie solch ein straff gespannter Draht, an einem Ende zerhauen, pfeifend die Luft durchschnitt und drei Soldaten in seinen Umschlingungen festhielt. Die Stachel zerrissen die Kleidung und bohrten sich in das Fleisch ein, daß die Soldaten, laut schreiend vor Schmerz, sich wie rasend im Kreise drehten. Einer von ihnen hing bereits, von einer Kugel getroffen, tot in dem Stacheldraht, und die beiden andern schleppten ihn hinter sich her, bis schließlich nur einer am Leben war, der die beiden Toten mit vorwärts zerrte und sich vergeblich von ihnen zu befreien suchte. Ein wahnwitziges Spiel war's, das die Toten mit den Lebenden trieben, ein wildes Kreisen und Uebereinanderstürzen – bis plötzlich alle in einem Knäuel unbeweglich dalagen.

Er erzählte, daß an einer dieser Drahtbefestigungen wohl über zweitausend Mann gefallen seien. Während sie den Draht zerhieben und sich seiner Umklammerung zu entziehen suchten, überschüttete sie der Feind mit einem ununterbrochenen Kugel- und Kartätschenregen. Er versicherte mir, daß es das Furchtbarste war, was er je erlebt, und daß diese Attacke ganz gewiß in panische Flucht ausgeartet wäre, wenn die Ärmsten nur gewußt hätten, nach welcher Richtung sie fliehen sollten. Aber diese zehn oder zwölf aufeinanderfolgenden Stacheldrahthecken, in die sie wie in ein grausiges Netz verflochten waren, und das Labyrinth von klaftertiefen, auf dem Grunde mit spitzen Pfählen versehenen Wolfsgruben hatten die Köpfe so verwirrt, daß kein Mensch sich auf diesem schauerlichen Erntefeld des Todes zurechtzufinden wußte.

Die einen stürzten blindlings in die tiefen, trichterförmigen Gruben, wurden von den spitzen Pfählen aufgespießt und zappelten und tanzten dort in der Tiefe wie die Hanswurste, mit denen die Kinder spielen. Neue Körper wälzten sich auf sie herab und erdrückten sie mit ihrer Wucht, und bald war die ganze Grube bis an den Rand in einen wimmelnden Kessel voll blutüberströmter, teils lebender, teils toter Menschen verwandelt. Ueberall starrten hilflose Arme empor, deren Finger sich krampfhaft zusammenkrallten und nach allem Greifbaren faßten. Wer einmal in diese Falle geraten war, der war rettungslos verloren, denn Hunderte von blinden, starken Händen packten ihn wie eiserne Zangen an den Beinen, an den Kleidern, in den Augenhöhlen, hielten ihn nieder und würgten ihn. Viele rannten wie betrunken gerade auf die Drahthecken los, blieben darin hängen und schrieen, bis eine Kugel ihrem Leben ein Ende machte.

Ueberhaupt, meinte er, waren alle wie betrunken: einige schimpften ganz fürchterlich, andere lachten, wenn der stachelige Draht sie am Arm oder am Bein packte, und brachen tot zusammen, ehe sie sich's versahen. Er selbst hatte seit dem frühen Morgen nichts gegessen noch getrunken und war in ganz seltsamer Verfassung: er hatte Schwindelanfälle, und sein Angstgefühl wich bisweilen einer wilden Ekstase – der Ekstase der Angst. Als jemand neben ihm ein Lied anstimmte, nahm er die Melodie auf, andere fielen ein, und bald bildete sich ein ganzer Chor. Er wußte nicht mehr, was sie sangen, doch war es etwas sehr Lustiges, ein Tanzlied. Ja, sie sangen – und alles ringsum war rot von Blut. Der Himmel selbst erschien rot, und man konnte glauben, daß im Weltall eine Katastrophe, eine seltsame Umwälzung eingetreten sei, bei der alle Farben – die blaue, die grüne und die anderen ruhigeren Farben – verschwunden wären und nur das grelle Rot geblieben sei, in dem die Sonne jetzt wie in bengalischem Lichte erstrahlte.

»Das rote Lachen,« sagte ich.

Er verstand mich nicht.

»Ja, sie lachten auch,« fuhr er fort. »Ich erzählte dir schon davon... Wie Betrunkene lachten sie. Kann sogar sein, daß sie tanzten, einige wenigstens... Jene drei wenigstens, von denen ich dir sagte, die sprangen ganz so umher, als ob sie tanzten...«

Er erinnerte sich ganz klar: als die Kugel ihm die Brust durchbohrte und er zusammenbrach, machten seine Beine, bis er das Bewußtsein verlor, eine ganze Weile noch Tanzbewegungen, als ob er einem Partner zutanzte. Auch jetzt noch gedachte er dieser Attacke mit einer sonderbar gemischten Empfindung: teils mit Schrecken, teils mit dem heimlichen Wunsche, noch einmal dasselbe zu erleben.

»Und wieder durch die Brust geschossen zu werden?« fragte ich ihn.

»Nun, nicht jede Kugel trifft. Aber es wäre doch hübsch, Kamerad, wenn man so einen Tapferkeitsorden bekäme.«

Er lag auf dem Rücken, gelb, mit eingefallenen Augen, spitzer Nase und jäh hervortretenden Backenknochen, er glich beinahe schon einem Toten – und träumte von einem Orden. Seine Wunde eiterte stark, er hatte hohes Fieber, und in drei Tagen konnte er möglicherweise schon nach der Totengrube wandern – und er lag träumerisch lächelnd da und sprach von einem Orden.

»Hast du deiner Mutter telegraphiert?« fragte ich.

Er sah mich erschrocken, doch zugleich finster und böse an und antwortete nicht. Auch ich schwieg, und man vernahm das Ächzen und Phantasieren der Verwundeten. Als ich jedoch aufstand, um zu gehen, faßte er mit seiner heißen, immer noch nervigen Hand nach meiner Hand, preßte sie stark und richtete seine tiefliegenden, glühenden Augen mit gramvoll-unstätem Ausdruck auf mich.

»Sag' mal – was ist das alles, wie? Was ist das?« fragte er angstvoll zugleich und drängend, während er an meiner Hand zerrte.

»Was?«

»Nun, überhaupt... das alles hier. Sie erwartet mich ja... aber ich kann doch nicht zu ihr! Das Vaterland – läßt sie sich's denn klarmachen, was das ist – das Vaterland!?«

»Das rote Lachen,« antwortete ich.

»Ach! Du kommst immer mit deinen Scherzen, ich rede aber im Ernst. Man muß ihr das doch auseinandersetzen – aber läßt sie sich's denn sagen? Wenn du wüßtest, was sie mir alles schreibt! Was sie alles schreibt! Und weißt du, ihre Worte haben... so etwas... Graues! Übrigens, was seh' ich?« sagte er plötzlich lächelnd, während er neugierig meinen Kopf betrachtete und mit dem Finger danach tippte – »du bist grau geworden! Hast du es schon bemerkt?«

»Es gibt hier leider keine Spiegel ...«

»Es sind hier viele grau und kahl geworden. Hör' mal, reich' mir doch einen Spiegel! Ich fühle, daß auch mir weiße Haare aus dem Schädel wachsen. Einen Spiegel, bitte... rasch, rasch!«

Er begann zu phantasieren, er weinte und schrie, und ich verließ das Lazarett.

An diesem Abend veranstalteten wir eine Festlichkeit – eine seltsame, traurige Festlichkeit, bei der mitten unter den Gästen die Schatten der Toten weilten. Wir hatten beschlossen, am Abend zusammenzukommen und Tee zu trinken, wie zu Hause, wie bei einem Picknick, und wir verschafften uns einen Samowar. Sogar Citronen und Gläser fanden sich, und wir placierten uns gemütlich unter einem Baume – ganz wie daheim bei einem Picknick. Einzeln, zu zweien, zu dreien kamen die Kameraden herbei, lärmend, scherzend und plaudernd, voll fröhlicher Erwartung – aber sie verstummten bald und vermieden es, sich gegenseitig anzusehen, denn es lag etwas Furchtbares in dieser Versammlung der Ueberlebenden. Wie wir da um den Samowar zusammensaßen – abgerissen, schmutzig, zerschunden, als wenn wir die Krätze hätten, mit zottigem, ungepflegtem Haar, mager und entkräftet, ohne jede Spur des gewohnten äußeren Chics, entsetzten wir uns förmlich vor einander: es war, als ob wir eben erst uns dessen bewußt würden, wie fürchterlich wir aussahen. Ich suchte vergeblich in der Menge dieser unruhigen, scheuen Menschen nach bekannten Gesichtern – ich konnte keine finden. Diese hastigen, unstäten, bei jedem Geräusch zusammenfahrenden Menschen mit den zuckenden Bewegungen, die stets irgend eine Gefahr in ihrem Rücken zu wittern schienen und die sie rätselhaft angähnende, schauerliche Leere durch ein Uebermaß von Gestikulationen auszufüllen suchten – sie waren mir alle fremd, alle unbekannt, ich hatte sie nie gesehen. Auch ihre Stimmen klangen so ganz anders, es war etwas Abgerissenes, Ruckweises in der Art, wie sie sprachen, als ob ihnen das Herausbringen der Worte beschwerlich fiele, und aus dem nichtigsten Anlaß ging ihr Sprechen in Schreien über, oder in ein sinnloses, unbändiges Lachen. Und alles war so seltsam und fremd – dieser Baum, unter dem wir saßen, und der Sonnenuntergang, und das Wasser, das einen ganz absonderlichen Geruch und Geschmack hatte; als ob wir zugleich mit den Toten die Erde verlassen hätten und in eine andere Welt eingezogen wären, in eine Welt voll geheimnisvoller Erscheinungen und schauriger, finsterer Schatten. Die untergehende Sonne war gelb und kalt; über ihr hingen schwarze, unbewegliche Wolken, auf die kein Lichtreflex fiel, und unter ihr lag ebenso schwarz die Erde, und unsere Gesichter erschienen in dieser unheimlichen Beleuchtung gelb, wie die Gesichter von Toten. Wir blickten alle auf den Samowar, der eben ausgegangen war – auch in seinem Metall spiegelte sich dieses kalte, drohende Gelb des Sonnenuntergangs, und auch der Samowar schien uns fremd, tot und unbegreiflich.

»Wo sind wir?« fragte jemand, und aus seiner Stimme klang es wie Angst und Unruhe. Ein anderer seufzte. Ein dritter schnalzte wie im Krampf mit den Fingern, ein vierter sprang auf und begann hastig um den Tisch herumzulaufen. Man konnte jetzt häufig so Leute in hastigem, fast fluchtartigem Tempo, bald rätselhaft schweigend, bald seltsames Zeug vor sich hinmurmelnd, umherlaufen sehen.

»Wo wir sind?« versetze jener, der eben gelacht hatte. »Im Kriege sind wir!« Und er stieß von neuem ein Lachen aus – ein langgezogenes, ersticktes Lachen, das so klang, als ob ihm etwas im Halse säße und ihn würgte.

»Warum lacht er denn?« rief jemand entrüstet. »Hören Sie – lassen Sie das Lachen!«

Der andere würgte noch einmal, kicherte noch einmal leise und schwieg dann gehorsam. Es wurde dunkel, die schwarze Wolke senkte sich zur Erde herab, und wir unterschieden nur mit Mühe unsere gelben, gespenstischen Gesichter.

»Wo ist denn ›Stiefelchen‹?« fragte irgend jemand. ›Stiefelchen‹ nannten wir einen Kameraden, einen kleinen Offizier in hohen, wasserdichten Stiefeln.

»Er war eben noch da. Stiefelchen, wo sind Sie denn?«

»Verstecken Sie sich doch nicht! Wir riechen ja Ihre Juchtenstiefel!«

Alles lachte. Aus dem Dunkel aber ertönte in das Lachen hinein eine grobe, unwillige Stimme:

»Hört doch auf – schämt Euch! Stiefelchen ist heut morgen bei einer Rekognoszierung gefallen.«

»Sie irren sich. Er war eben noch hier!«

»Das schien Ihnen nur so... Heda, Sie dort am Samowar – schneiden Sie mir doch rasch eine Scheibe von der Citrone ab!«

»Auch mir! Auch mir!«

»Die Citrone ist leider alle.«

»Das ist doch unrecht, meine Herren!« sagte enttäuscht, fast weinerlich eine leise, gekränkte Stimme. »Ich bin einzig wegen der Citrone gekommen.«

Der andere lachte wieder, dumpf und langgedehnt, und niemand wehrte ihm diesmal. Aber auch er verstummte bald – kicherte noch einmal – und verstummte.

»Morgen greifen wir an,« sagte irgend jemand.

Doch ein paar zornige Stimmen riefen:

»Lassen wir das! Was heißt angreifen?«

»Sie wissen doch selbst...«

»Lassen wir's! Gibt's denn kein anderes Gesprächsthema?«

Die Sonne war untergegangen. Die dunkle Wolke stieg höher empor, es ward mit einem Mal heller, und unsere Gesichter erschienen uns nun bekannter. Jener, der immer im Kreise um uns herumgelaufen war, beruhigte sich und nahm unter uns Platz.

»Wie mag's jetzt zu Hause aussehen?« fragte er obenhin, und aus seiner Stimme klang es wie ein entschuldigendes Lächeln.

Und abermals war es da, das Furchtbare, Unbegreifliche, Fremde, das uns mit Schrecken erfüllte und unser Bewußtsein trübte. Und wir begannen alle auf einmal zu sprechen, zu schreien, zu zappeln und mit den Gläsern in der Luft umherzufahren – wir faßten uns gegenseitig an den Schultern, an den Armen, an den Knien – – und schwiegen dann plötzlich still, wie gebannt von dem Unbegreiflichen.

»Zu Hause?« schrie jemand laut aus dem Dunkel. Seine Stimme klang heiser vor Erregung, vor Entsetzen und verbissenem Ingrimm, und sie zitterte. Bisweilen kamen seine Worte nur zögernd und stockend heraus, als ob er das Sprechen verlernt hätte. – »Zu Hause? Was für ein Haus? Gibt's denn für uns ein Zuhause? Unterbrecht mich nicht, sonst fang' ich an zu schießen! Zu Hause nahm ich alle Tage ein Bad, versteht ihr – ein warmes Wannenbad, bis obenauf gefüllt. Und jetzt wasch' ich mich nicht einmal jeden Tag, und auf meinem Kopfe ist der Grind, eine Art Räude, und am ganzen Leibe juckt es mich, und auf dem ganzen Körper kribbeln sie, kribbeln sie... Ich werde verrückt vor lauter Schmutz und Unrat – und ihr redet mir von ›zu Hause‹! Ich bin zum reinen Vieh geworden, ich verachte mich selber, kenne mich selbst nicht mehr, und der Tod scheint mir durchaus nicht das Schlimmste. Ihr zerreißt mir das Gehirn mit euren Schrapnells, das Gehirn! Wohin ihr auch zielt, immer trefft ihr mich mitten ins Gehirn – und ihr sagt: ›zu Hause‹! Was für ein Zuhause denn? Straßen, Fenster, Menschen – nein, ich würde jetzt nicht auf die Straße gehen, um keinen Preis, ich würde mich einfach schämen. Ihr habt den Samowar hergebracht – und ich schämte mich, ihn anzusehen... den Samowar...«

Der andere lachte wieder.

»Weiß der Teufel, was das ist!« schrie irgend jemand. »Ich mache, daß ich wieder nach Hause komme.«

»Nach Hause?«

»Sie scheinen nicht zu begreifen, was Pflicht heißt?...«

»Nach Hause? Hört doch: er will nach Hause!«

Allgemeines Lachen und banges Geschrei erhob sich – und dann schwiegen wieder alle, wie gebannt von dem Unbegreiflichen. Und da fühlte nicht ich allein, sondern wir alle, die wir da waren, fühlten jenes Eine, Unheimliche: es kam auf uns zu von den dunklen, rätselhaften, fremden Fluren; es stieg empor aus den tiefen, schwarzen Schluchten, in denen vielleicht noch vergessene und verlorene Menschenkinder zwischen den Felsen mit dem Tode rangen; es senkte sich von diesem fremden Himmel, den wir noch nie vorher gesehen, auf uns herab. Schweigend, vom Schreck gelähmt, standen wir um den erloschenen Samowar, und vom Himmel schaute auf uns der gewaltige, formlose Schatten nieder, der über der Welt emporgestiegen war.

Da plötzlich ertönte in nächster Nähe, wahrscheinlich beim Regimentskommandeur, Musik, und die lustig tollen, lauten Klänge lohten gleichsam auf inmitten der nächtlichen Stille. Herausfordernd, ausgelassen, toll erscholl die leichte Weise in die Nacht hinaus, doch klang etwas Banges, Disharmonisches durch die allzu lauten, allzu lustigen Wirbel, als ob sowohl jene, die da spielten, als auch jene, die zuhörten, gleich uns diesen gewaltigen, formlosen Schatten sähen, der über der Welt emporgestiegen war.

Jenem aber, der im Orchester die Trompete blies, war er offenbar schon ins Hirn gedrungen, dieser gewaltige, stumme Schatten. Der abgebrochene, schrille Klang seines Instruments sprang und hüpfte hin und her und lief irgend wohin, abseits von den andern, zitternd vor Angst, wie wahnsinnig. Und die übrigen Töne schienen sich gleichsam nach ihm umzusehen; so linkisch vorwärtsstolpernd, bald fallend und bald sich wieder erhebend, eilten sie in ordnungslosem Schwarm dahin, allzu laut, allzu ausgelassen, allzu nahe diesen schwarzen Klüften, in denen vielleicht noch vergessene und verlorene Menschenkinder zwischen den Felsen mit dem Tode rangen.

Lange standen wir noch um den erloschenen Samowar und schwiegen...


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