Leonid Andrejew
Das rote Lachen
Leonid Andrejew

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Zweites Fragment.

... fast alle Pferde und die gesamte Bedienungsmannschaft. Und ebenso sieht es bei der achten Batterie aus. Bei unserer Batterie, der zwölften, waren am dritten Tage nur noch drei brauchbare Geschütze vorhanden, die übrigen waren total zerschossen; von den Leuten waren noch sechs Mann dienstfähig, und ein Offizier, nämlich ich. Seit zwanzig Stunden hatten wir kein Auge zugetan und keinen Bissen gegessen; dreimal vierundzwanzig Stunden lang hüllte uns dieses infernalische Gedröhne und Geknatter gleichsam in eine Wolke des Wahns, die uns von der Erde, vom Himmel, von den Unsrigen schied und uns wie Schlafwandler umhergehen ließ. Unsere Toten – die lagen still und regungslos da, wir aber bewegten uns hin und her, verrichteten unsere Obliegenheiten, redeten mit einander, lachten sogar – und waren dabei wie die Mondsüchtigen. Unsere Bewegungen waren präzis und rasch, die Befehle klar, die Ausführung prompt – aber wenn man plötzlich jemanden von uns gefragt hätte, wer er sei – er hätte in seinem verdüsterten Hirn kaum eine Antwort gefunden. Wie im Traume schienen uns alle Gesichter längst bekannt, und alles, was ringsum vorging, schien uns gleichfalls längst bekannt und vertraut, als ob es schon einmal gewesen wäre; wenn ich dann aber eins der Gesichter oder ein Geschütz aufmerksamer ansah oder auf den Donner der Geschütze, das Pfeifen und Zischen der Geschosse lauschte – machte mich alles durch seine Neuheit und seine unergründliche Rätselhaftigkeit betroffen. Die Nacht brach herein, ohne daß wir es bemerkten, und kaum waren wir sie gewahr geworden, kaum hatten wir uns verwundert gefragt, woher sie so plötzlich gekommen, als bereits die Sonne wieder auf unsere Köpfe niederglühte. Erst von den Kameraden, die uns bei unserer Batterie aufsuchten, erfuhren wir, daß der Kampf schon in den dritten Tag hinein wütete, doch hatten wir das gleich wieder vergessen: uns schien es, daß das alles nur ein einziger Tag ohne Anfang und ohne Ende war, der bald hell und bald dunkel, zu jeder Frist jedoch gleich unbegreiflich, gleich unfaßbar war. Und niemand von uns fürchtete den Tod – da niemand von uns begriff, was der Tod sei...

In der dritten oder vierten Nacht, ich weiß es nicht mehr genau, legte ich mich für einen Augenblick hinter der Brustwehr nieder, und sowie ich nur die Augen schloß, trat sogleich das bekannte Bild vor meine Augen: das Stück blaue Tapete und die unberührte, staubige Karaffe auf meinem Tischchen. Und im anstoßenden Zimmer – so, daß ich sie nicht sehen kann – befinden sich meine Frau und mein kleiner Sohn. Nur daß jetzt auf dem Tische eine Lampe mit grüner Glocke brannte, also jedenfalls Abend oder Nacht war. Unbeweglich stand das Bild vor meinem Geiste, so daß ich in aller Ruhe und mit aller Aufmerksamkeit die Tapete betrachten, das Spiel des Lichtes in dem Kristall der Karaffe beobachten und darüber nachdenken konnte, warum denn mein Sohn nicht schlafe: es war doch schon spät in der Nacht, und er hätte längst schlafen sollen. Noch einmal betrachtete ich dann die Tapete, all die Schnörkel des Musters, die silbernen Blumen, Guirlanden und Stäbe – ich hätte nie geglaubt, daß ich mein Zimmer so genau kannte. Bisweilen öffnete ich die Augen und sah den schwarzen Himmel mit den seltsam schönen, feurigen Streifen darauf, und ich schloß sie wieder, sah wieder die Tapete und die Karaffe und dachte darüber nach, warum denn mein Sohn nicht schlafe: es war doch Nacht, und er sollte längst schlafen. In meiner nächsten Nähe explodierte eine Granate, meine Beine wurden von einer unsichtbaren Gewalt zur Seite geschoben, und irgend jemand schrie laut auf – so laut, daß selbst der Knall der Explosion übertönt wurde. »Wieder jemand tot,« dachte ich, doch rührte ich mich nicht von der Stelle und verwandte keinen Blick von der Tapete meines Zimmers und der Karaffe.

Dann erhob ich mich, ging umher, erteilte Befehle, betrachtete die Gesichter meiner Leute, stellte das Ziel ein und dachte dabei nur immer: Warum mag mein Sohn noch nicht schlafen? Einmal fragte ich einen von den Fahrern danach, und er begann mir irgend etwas des Langen und Breiten auseinanderzusetzen, und wir nickten beide mit dem Kopfe. Und er lachte dabei, und seine linke Braue zuckte, und das Auge blinzelte und gab mir ein Zeichen, nach hinten zu schauen. Dort, hinter ihm, sah man nichts als die Stiefelsohlen an irgend jemandes Füßen...

Es war bereits heller, lichter Tag – als es plötzlich zu regnen begann. Ein Regen wie bei uns daheim – lauter ganz gewöhnliche Wassertropfen. Er kam so unerwartet und unerwünscht, und wir fürchteten uns alle so sehr vor dem Naßwerden, daß wir mit dem Schießen aufhörten, die Geschütze stehen ließen und uns verkrochen, wo wir irgend konnten. Der Fahrer, mit dem ich soeben gesprochen hatte, kroch unter die Lafette und blieb dort hocken, obschon er in seinem Versteck jeden Augenblick überfahren werden konnte; der dicke Feuerwerker zog einem der Toten die Kleider aus, um damit die seinigen zu schützen, und ich lief in der Batterie hin und her, um einen Mantel oder Regenschirm aufzutreiben. Mit einem Mal war auf dem ganzen ausgedehnten Raum, über den die Regenwolke hinwegzog, alles verstummt. Ein verspätetes Schrapnell kam dahergesaust und explodierte; dann wurde es vollends still – so still, daß man das Schnaufen des dicken Feuerwerkers und das Trommeln der Regentropfen auf den Steinen und Geschützrohren hören konnte. Und dieses leise, wirbelnde, an den Herbst mahnende Geräusch, diese Stille ringsum und der Geruch des aufgeweichten

Bodens zerrissen für einen Augenblick den dichten, blutigen Nebel, der mein Hirn umlagerte, und als ich das nasse, vom Regen glänzende Geschütz betrachtete, weckte sein Anblick ganz unerwartet traute, stille Jugenderinnerungen in mir: Erinnerungen an meine Kindheit, an meine erste Liebe. Aus der Ferne aber dröhnte plötzlich jäh und laut der erste Schuß, und der Zauber der momentanen Ruhe entschwand; ebenso plötzlich, wie die Leute sich verkrochen hatten, kamen sie aus ihren Deckungen wieder hervor; der dicke Feuerwerker schrie irgend jemanden an; ein Schuß krachte, ihm folgte sogleich ein zweiter – und von neuem umschleierte der blutige, undurchdringliche Nebel die erschöpften Gehirne. Und niemand bemerkte es, als der Regen aufhörte; ich erinnerte mich nur, daß von dem dicken, aufgedunsenen, schwammigen Gesichte des Feuerwerkers, der tot hingestreckt neben seinem Geschütz lag, der Regen niederrann – es muß also wohl ziemlich lange geregnet haben...

... Vor mir stand ein noch ganz junger Freiwilliger – er meldete mir, die Hand am Mützenschirm, daß der General uns bitten lasse, die Position noch zwei Stunden lang zu halten, dann würden Verstärkungen eintreffen. Ich antwortete ihm, daß ich mich noch so lange halten könne, wie ich wolle. Und als ich ihm das sagte, fiel mir plötzlich die ungewöhnliche Blässe seines Gesichtes auf: ich hatte nie im Leben ein so weißes Gesicht gesehen. Selbst die Gesichter der Toten haben mehr Farbe, als dieses jugendliche, bartlose Antlitz. Er hatte offenbar, als er zu uns unterwegs war, einen ganz gehörigen Schrecken ausgestanden und war noch nicht wieder zu sich gekommen; und die Hand hielt er wohl nur darum krampfhaft am Mützenschirm fest, weil er durch diese gewohnheitsmäßige, einfache Bewegung seine wahnsinnige Furcht zu bannen dachte.

»Fürchten Sie sich?« fragte ich ihn, während ich seinen Ellbogen mit der Hand berührte. Aber dieser Ellbogen war wie von Holz, und er selbst lächelte still und schwieg. Oder richtiger gesagt: nur um seine Lippen zuckte etwas wie ein Lächeln, während in seinen Augen nur Jugend und Furcht lag, nichts weiter.

»Fürchten Sie sich?« wiederholte ich in freundlichem Tone meine Frage.

Seine Lippen zuckten, als ob sie sich mühten, ein Wort herauszubringen – und in diesem Augenblick geschah etwas Unbegreifliches, Entsetzliches, Ungeheuerliches. An meiner rechten Backe verspürte ich plötzlich einen warmen Hauch, ich begann heftig zu schwanken, und vor meinen Augen starrte anstatt des bleichen Gesichtes etwas Kurzes, Stumpfes, Rotes, aus dem sich in jähem Strahl das Blut ergoß, gleich dem blutigen Schaumwein, der auf schlechtgemalten Wirtshausschildern aus den Champagnerflaschen quillt. Und von diesem kurzen, roten, überquellenden Etwas ging immer noch ein Lächeln aus, ein zahnloses Lachen – das rote Lachen.

Ich habe es kennen gelernt, dieses rote Lachen. Ich habe es gesucht und gefunden, dieses rote Lachen. Nun hatte ich begriffen, was von allen diesen verstümmelten, zerrissenen, seltsam entstellten Menschenleibern ausging. Es war das rote Lachen. Es grinst vom Himmel nieder, und von der Sonne, und es wird bald die ganze Erde überfluten, dieses rote Lachen!

Sie aber tun ihre Pflicht, präzis und ruhig, wie die Schlafwandler...


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