Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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V.

Noch einige Tage vergingen in der neuen und lieblichen Empfindung der Freiheit, dann breiteten sich wieder überall die dunkeln Fäden des Argwohns und der Furcht aus, wie schwarze Adern im weißen Marmor. Mit verdächtiger Ruhe empfing der Tyrann die Nachricht von seiner Absetzung ... Wie kann ein Mensch, der seiner Herrschaft beraubt wird, ruhig bleiben, wenn er nicht etwas Schreckliches ersonnen hat? Wie kann ein Volk ruhig sein, wenn in seiner Mitte ein geheimnisvolles, mit verderblicher Zauberkraft begabtes Wesen lebt? Gestürzt, hört er nicht auf fürchterlich zu sein; gefangen wirkt er frei hinaus durch seine teuflische Macht, die mit der Entfernung wächst. Wie die Erde, dunkel in der Nähe, als heller Stern erstrahlt in die blauen Tiefen des Weltraumes. Aber auch in der Nähe weint man über sein Leid. Man sah eine Frau der Königin die Hand küssen, man sah einen Wächter sich eine Träne aus dem Auge wischen, man hörte einen Redner – Mitleid predigen. Als wäre er nicht selbst jetzt noch glücklicher, als Tausende von Menschen, die niemals Licht gesehn und die man ihm immer und immer wieder als Opfer darbringt. Wer bürgt dafür, daß das Land nicht schon morgen zum früheren Wahnsinn zurückkehren, auf den Knieen hinkriechen, ihn um Verzeihung bitten und den mit soviel Mühe und Leid zerstörten Thron wieder aufrichten wird?

Ergrimmt und erschreckt vernimmt das millionenköpfige Volk die Reden in der Versammlung. Seltsame, neue, furchterregende Reden. Sie sprechen von seiner Unantastbarkeit – davon, daß er unantastbar; daß man ihn nicht richten dürfe, wie man alle richtet; nicht strafen dürfe, wie man alle straft; daß man ihn nicht töten dürfe, weil er ein König ist. Es gibt also noch Könige! Und das sagen sie, die in einem Atem dem Volke und der Freiheit ihre Liebe beteuern, das sagen Menschen von erprobter Redlichkeit, Feinde des Tyrannen, Söhne des Volkes, aus seinem Schoße hervorgegangen, des Volkes, das die grausame, gotteslästerliche Macht der Könige zermarterte. Unselige Blindheit!

Schon neigt sich die Mehrheit auf die Seite des Gestürzten. Als wäre die gelbe, vom Turme daherziehende Wolke in die heiligen Räume der Volksvernunft eingedrungen, als beschatte sie die hellen Augen, als erwürge sie die junge Freiheit – eine junge Braut in weißen Blumen, die den Tod findet beim hochzeitlichen Fest. Angst und Verzweiflung schleichen in die Herzen, viele Hände fassen krampfhaft nach Waffen: es ist besser mit Brutus zu sterben, als mit Oktavian zu leben. Es ertönen ihre letzten zornigen Rufe: »Ihr wollt, daß im Lande nur ein Mensch sei, und 35 Millionen Vieh!«

Ja, das wollen sie. Sie schweigen und schlagen die Augen nieder; sie sind des Kampfes und des Strebens müde – und in ihrer Erschöpfung, in ihrem Recken und Gähnen, in ihren farblosen, aber magisch wirkenden, kühlen Reden tauchen bereits wieder die Umrisse des Thrones auf. Einzelne Ausrufe, trübe Reden, und das blinde Schweigen des einmütigen Verrats! Es stirbt die Freiheit, die mit weißen Blumen geschmückte Braut, die den Tod findet beim hochzeitlichen Fest.

Aber horch! Man hört etwas, sie kommen!

Es ist, als erschalle der dröhnende Wirbel von hundert gigantischen Trommeln. Tram, tram, tram. – Es kommen die Vorstädte! Tram, tram, tram. – Sie kommen, die Freiheit zu stützen! Ram, ram, ram. – Wehe den Abtrünnigen! Tram, tram, tram. – Wehe den Verrätern!

Das Volk bittet um die Erlaubnis, an der Versammlung vorbeizugehn.

Ist es möglich, eine stürzende Lawine aufzuhalten? Wer würde es wagen, dem Erdbeben zu gebieten: bis hierher ist die Erde dein, weiter aber rühre nicht!

Jäh werden die Türen aufgerissen: da sind sie – die Vorstädte! Beschmutzte Gesichter. Entblößte Brüste. Ein phantastisches Gewirr von bunten Lappen an Stelle der Kleider. Der Jubel stürmischer, unaufhaltsamer Erregung. Unheilverkündende Formung der Unordnung; marschierendes Chaos. Tram, tram, tram! Glühend flammende Augen. Lanzen, Sensen, Heugabeln, Zaunpfähle. Männer, Frauen und Kinder. Tram, tram, tram!

Hoch die Vertreter des Volkes! Es lebe die Freiheit! Tod den Verrätern!

Die Abgeordneten lächeln verlegen, schauen verdrießlich drein, grüßen höflich. Der Kopf schwindelt einem bei diesem bunten, endlosen Zug, der einem reißenden, durch eine Enge stürzenden Strom gleicht. Alle Gesichter werden einander ähnlich; alle Schreie fließen in einem einzigen, eintönigen Getöse zusammen; das Stampfen der Füße ähnelt dem Niederprasseln schwerer Regentropfen aufs Dach – einschläfernd, willenlähmend, betäubend.

Gigantische Tropfen auf gigantischen Dächern. Tram, tram, tram!

5ie gehen eine Stunde, eine zweite, eine dritte. Offenbar muß die Nacht schon hereingebrochen sein. Purpurrote Lichter qualmen. Die beiden Öffnungen – die eine, durch welche das Volk hereinströmt, und die andere, durch welche es verschwindet – sind schwarz, wie zwei glühende Rachen: dazwischen ein dunkles, vom Kupfer und Eisen metallisch schimmerndes Band. Vor den ermüdeten Augen erscheinen Halluzinationen: endlose Riemen, dann wieder ein ungeheurer, gedunsener, behaarter Wurm. Den oberhalb der Eingänge Sitzenden scheint es, als befänden sie sich auf einer Brücke und begännen zu schwimmen. Dazwischen das klare und außergewöhnlich lebhafte Bewußtsein: Das ist das Volk! Und Stolz und Kraftgefühl und die Begierde nach der großen, noch nie gesehenen Freiheit. Ein freies Volk – welches Glück! Tram, tram, tram!

Schon acht Stunden gehen sie, und noch immer kein Ende. Von beiden Seiten – wo das Volk hereinströmt und wo es verschwindet – dröhnt das Revolutionslied. Worte sind nicht zu hören, deutlich werden nur: der Rhythmus, das Fallen und Steigen der Töne, die plötzliche Stille und die stürmischen Ausbrüche. Zu den Waffen, Bürger! Sammelt euch zu Bataillonen! Gehn wir – gehn wir!

Sie gehen.

Eine Abstimmung ist nicht nötig. Die Freiheit ist noch einmal gerettet.


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