Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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II.

Und es geschah, daß in dem großen Reiche, dessen Gebieter der Zwanzigste war, Revolution ausbrach, – ein Aufstand von Millionen, ebenso rätselhaft, wie die rätselhafte Macht des Einen. Etwas Seltsames geschah mit den festen Banden, die den König und das Volk vereinten; sie begannen sich lautlos, unmerklich geheimnisvoll zu lösen, – wie in einem Körper, aus dem das Leben gewichen war und in welchem nun neue, bisher irgend verborgene Kräfte ihre Arbeit beginnen. Es blieb der Thron, das Schloß, derselbe Zwanzigste – aber die Macht war unmerklich gestorben. Niemand kannte die Stunde ihres Todes, und alle glaubten, sie wäre nur krank. Das Volk verlernte zu gehorchen, weiter nichts, – und plötzlich erwuchs aus vereinzeltem, geringem, unauffälligem Widerstand eine riesige, unbesiegbare Bewegung. Und sobald das Volk aufgehört hatte zu gehorchen, öffneten sich mit einem Male alle seine schon Jahrhunderte alten Wunden, und es fühlte voller Zorn den Hunger, die Ungerechtigkeit und die Bedrückung. Und man schrie das neue Gefühl hinaus und forderte Gerechtigkeit. Und plötzlich bäumte sich das Volk gleich einem riesengroßen, zerzausten Tier, um sich an seinem Bändiger für all die Jahre der Demütigung und der Marter in einer freien Minute des Zornes zu rächen.

Ebenso wie die Millionen keine Vereinbarung getroffen hatten, sich zu unterwerfen, so verabredeten sie auch nichts, um sich zu erheben; mit einemmal ergoß sich von überall her der Aufstand gegen das Schloß. Über sich und ihr Tun selber staunend, den zurückgelegten Weg vergessend, drängten die Menschen immer näher an den Thron heran; – schon betasteten sie mit den Händen seine Schnitzereien und Vergoldungen, schon blickten sie in das königliche Schlafgemach und versuchten, auf den königlichen Stühlen zu sitzen. Der König verneigte sich, die Königin lächelte, und viele aus dem Volke weinten gerührt, als sie den Zwanzigsten in solcher Nähe sahen; die Frauen glätteten mit vorsichtigen Fingern den Sammet des Mantels und die Seide des königlichen Gewandes; die Männer spielten in gutmütiger Derbheit mit dem königlichen Kind. Der König verneigte sich, die bleiche Königin lächelte, und aus dem Nebengemach drang über die Schwelle der abgeschlossenen Tür ein schwarzer Streifen, die Blutspur eines Höflings, der sich erstochen hatte: er konnte nicht ertragen, daß schmutzige Finger den Mantel des Königs berühren, und tötete sich.

Und auseinandergehend schrien sie: »Es lebe der Zwanzigste!«

Hie und da runzelte einer wohl die Stirn, aber die Stimmung war eine so fröhliche, daß auch er seinen Groll vergaß und lachend, wie im Karneval, wenn man einen bunten Possenreißer zum König krönt, zu brüllen begann:

»Es lebe der Zwanzigste!«

Sie lachten. Aber am Abend verdüsterten sich die Gesichter wieder, und Argwohn blickte aus den Augen: Wie war es möglich, dem zu glauben, der bereits seit tausend Jahren mit teuflischer List sein leichtgläubiges und gutes Volk betrog? Im Schloß ist es dunkel; von den Riesenfenstern leuchtet ein falscher Glanz, es sieht unheimlich aus, als ob dort etwas ausgeheckt würde. Dort ist Hexerei am Werk. Dort wird die Finsternis beschworen und man ruft Henker für das Haupt des Volkes aus ihr hervor; dort wischt man sich sorgfältig den Mund nach den Verräterküssen und man wäscht das Kind, das das Volk durch seine Berührung beschmutzt hat. Möglich auch, daß niemand dort ist. Vielleicht ist in den riesigen schwarzen Sälen nur der Leichnam des Höflings, – und Leere und Einsamkeit – sie sind alle verschwunden. Man schreie, man rufe ihn heraus – wenn sich dort ein Lebendiger aufhält!

»Es lebe der Zwanzigste!«

Der bleiche, unruhige Abendhimmel blickt herab auf die bleichen, emporgerichteten Gesichter; die Wolken eilen, sich übereinanderschiebend, erschrocken davon, und falsch, rätselhaft, in totem Glanz leuchten die Riesenfenster.

»Es lebe der Zwanzigste!«

Der bestürzte Posten taumelt inmitten der Menge ratlos umher, er hat sein Gewehr verloren und lächelt; wie im Fieber ächzt das Schloß des eisernen Tores, an den hohen, eisernen Gitterstäben sind wunderliche schwarze Früchte gewachsen, krampfhaft zusammengezogene Leiber und vorgestreckte Arme; bleich der Himmel, schwarz unten die Erde. Vorüberfliegende Wolken blicken nach unten. Geschrei. Jemand hat eine Fackel angezündet, die Fenster des Schlosses stehen in Dunst und in blutigem Schein, und scheinen der Masse näher zu kommen. An den Wänden ist etwas hinaufgekrochen und entschwindet aufs Dach. Das Schloß schweigt. Das Gitter ist ganz mit Menschen umwachsen, plötzlich verschwindet es – der Raum wird frei – das Volk bewegt sich.

»Es lebe der Zwanzigste!«

Hinter den Fenstern huschen bleiche Lichter vorbei.

Ein häßliches Gesicht drückt sich an die Scheibe und verschwindet. Es wird alles hell. Die Lichter mehren sich, bewegen sich vorwärts und zurück – eine Prozession, ein seltsamer Tanz. Dann drängen sich die Lichter zusammen, verneigen sich, und auf den Balkon tritt der König und die Königin, hinter ihnen ist Licht, aber ihre Gesichter sind dunkel, vielleicht sind sie es gar nicht einmal.

»Licht! Zwanzigster! Licht! Man sieht dich nicht!« Brennende Fackeln zu beiden Seiten, und von dem rauchigen Hintergrund heben sich im purpurroten Licht schwankende Gesichter ab. Rufe hinten in den Reihen:

»Das sind sie nicht! Der König ist geflüchtet!« Aber die Näherstehenden schreien bereits in der Freude beruhigten Schreckens:

»Es lebe der Zwanzigste!«

Die purpurroten Gesichter bewegen sich langsam nach oben und nach unten, bald von grellem Licht beleuchtet, bald im Schatten zerfließend; sie verneigen sich vor dem Volke. Es verneigt sich in ihnen der Neunzehnte, der Vierte, der Zweite, es verneigen sich im purpurroten Dunste jene rätselhaften Wesen mit der unbegreiflichen, fast göttlichen Macht, und hinter ihnen, verdämmernd in den Tiefen der purpurrotschwelenden Vergangenheit, Morde, Hinrichtungen, Herrlichkeit und Schrecken. Er soll sprechen, eine menschliche Stimme soll ertönen! Wenn er schweigt, dann ist er so schaurig anzusehn, wie ein aus der Unterwelt beschworener Teufel.

»Sprich, Zwanzigster! Sprich!«

Eine seltsame, zum Schweigen auffordernde Handbewegung – eine wunderliche, gebieterische Bewegung, – so alt wie die Macht selber; und eine leise, unbekannte Stimme, die alte, seltsame Worte in die Menge wirft: »Ich freue mich, mein gutes Volk zu sehen!«

»Weiter nichts? – Ist denn das wenig? – Er freut sich! Der Zwanzigste freut sich! Sei uns nicht böse, Zwanzigster! Wir lieben dich, Zwanzigster, liebe auch du uns. Wenn du uns nicht lieben wirst, werden wir wieder in dein Zimmer kommen, wo du arbeitest, in den Speisesaal, wo du ißt, in das Schlafgemach, wo du schläfst, und werden dich zwingen, uns zu lieben!«

»Es lebe der Zwanzigste! Es lebe der König! Es lebe der Herr!«

»Sklaven!«

Wer rief »Sklaven!«? Die Fackeln erlöschen, sie gehen fort. Die bleichen Lichter bewegen sich nach rückwärts, die Fenster werden dunkel, fast unsichtbar, bespritzt mit Blut. In der Menge wird jemand gesucht. Im Nebel eilen die Wolken dahin. Ist er hier gewesen, oder war es nur ein Gespenst? Man hätte ihn anfassen, seine Kleidung, sein Gesicht mit den Händen betasten müssen, wenn er auch vor Schreck oder Schmerz aufgeschrien hätte.

Schweigend gehen sie auseinander. Einzelne Rufe verlieren sich in dem unruhigen Geräusch der Schritte, sie gehen voll dunkler Erinnerungen, Ahnungen und Schrecken. Über der Stadt schweben die ganze Nacht hindurch grausige Träume.

 


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