Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.

Schon war die tausendjährige Monarchie gestürzt. Eine Namensabstimmung war nicht mehr nötig: alle, die in der Versammlung des Volkes waren, erhoben sich wie ein Mann und standen da, als wären sie aus der Erde gewachsen. Auch der kranke Abgeordnete, der im Sessel hereingebracht wurde, auch er erhob sich, von seinen Freunden gestützt, streckte er seine alten, gelähmten Beine und richtete sich auf, gleich einem dürren Stamm, der von zwei jungen Bäumchen gehalten wird.

»Die Republik ist einstimmig angenommen!« ruft jemand mit klingender Stimme, deren Jubel zu verbergen er sich vergeblich bemüht. Aber alle bleiben stehen; es vergeht eine Minute, eine zweite; schon erhebt sich draußen auf dem Platz, den das harrende Volk dicht füllt, jauchzendes Getöse, – hier innen aber Schweigen und Stille, wie in der Kirche, und strenge, feierlich ernste Menschen, in der Gebärde stolzer Ehrfurcht erstarrt. Vor wem stehen sie? Ein König ist nicht mehr; auch Gott ist nicht mehr, dieser König und Tyrann des Himmels! – auch er ist schon längst von seinem himmlischen Throne gestoßen. Vor der Freiheit stehen sie! Der alte Abgeordnete, dessen greises Haupt seit vielen Jahren in der Schwäche des Alters zittert, hält es jetzt jung und stolz; sicher, mit einer leichten Bewegung der Hand, hat er seine Freunde beiseite gestoßen, steht allein – die Freiheit hat ein Wunder gewirkt! Längst hatten diese mitten in Sturm, Aufruhr und Blut lebenden Menschen vergessen zu weinen, jetzt aber weinen sie.

Die stolzen Adleraugen, die ruhig, ohne zu zucken, in die blutige Sonne der Revolution geblickt haben, ertragen nicht den weichen Glanz der Freiheit und weinen.

Schweigen im Saale. Vor den Fenstern Getöse. An Kraft und Ausdehnung wachsend, wird es dumpf, gleichmäßig und mächtig, wie das Getöse des unbegrenzten Ozeans. Jetzt sind alle diese Menschen frei. Frei der Sterbende, frei das Kind im Mutterleibe, frei der Lebende. Gestürzt ist die geheimnisvolle Macht des Einen, der Jahrtausende hindurch Millionen in Fesseln hielt, zusammengebrochen sind die schwarzen Balken des Gefängnisses – und heller Himmel über den Häuptern.

»Freiheit!« flüstert jemand leise und zärtlich wie den Namen der Geliebten.

»Freiheit!« ruft ein anderer, in unermessener Freude keuchend, außer sich, ganz Schwung und Begeisterung.

»Freiheit!« klirrt das Eisen.

»Freiheit!« singen die Saiten.

»Freiheit!« dröhnt der vielstimmige Ozean.

Er ist gestorben, der alte Abgeordnete; sein Herz hat die grenzenlose Freude nicht ausgehalten und blieb stehen, und sein letzter Schlag war die Freiheit. Glücklichster aller Menschen! In die geheimnisvolle Stätte des Todes nimmt er mit den unendlichen Traum von der jungen Freiheit.

Man befürchtete Ausschreitungen in der Stadt, aber es geschah nichts dergleichen. Der Atem der Freiheit hatte die Menschen veredelt, sie wurden sanft, zart und keusch wie Mädchen im Bekunden ihrer Freude, sie tanzten nicht einmal. Sie sangen kaum. Sie blickten sich nur an und liebkosten einander, vorsichtig die Hände verschlingend: so angenehm war es, einen freien Menschen zu liebkosen und in seine Augen zu blicken. Niemand wurde gehängt. Es fand sich ein Verrückter, der in der Menge laut schrie: »Es lebe der Zwanzigste!« Er drehte den Schnurrbart und bereitete sich zu kurzem Kampf und langsamem Sterben in den tödlichen Umarmungen des ergrimmten Volkes vor. Schon runzelte mancher die Stirn, aber die andern, die meisten, staunten nur, sammelten sich neugierig um den Mann, der den Ruf ausgestoßen hatte, und starrten ihn an, wie Schaulustige im Hafen einen aus Brasilien eingeführten Affen begucken mögen.

Und sie ließen ihn frei.

An den Zwanzigsten erinnerten sie sich erst in später Nacht. Eine Gruppe von Bürgern, die sich von diesem großen Tage durchaus nicht trennen konnte und beschlossen hatte, bis zur Morgendämmerung zu schwärmen, gedachte zufällig des Zwanzigsten und begab sich zum Turm. Der schwarze Umriß verschmolz fast mit dem Himmel, und in dem Augenblick, als die Bürger herbeikamen, verschlang er einen Stern. Ein kleines, helles Sternlein kam ganz dicht heran, blitzte auf und verschwand im dunklen Raum. Ein wenig unter der Erde schimmerten im warmen Licht zwei kleine Gucklöcher: dort waren die Wächter.

Es hatte eben zwei Uhr geschlagen.

»Weiß er's, oder weiß er's nicht?« sagte einer der Herbeigekommenen, das schwarze Ungeheuer forschend betrachtend und es zu enträtseln suchend. Von der Mauer löste sich eine dunkle Silhouette, und eine schlaffe, müde Stimme antwortete:

»Er schläft, Bürger.«

»Wer sind Sie, Bürger? Sie haben uns erschreckt, Sie gehen leise wie eine Katze.«

Von verschiedenen Seiten nahten noch mehrere dunkle Schattengestalten und blieben schweigend vor der kleinen Ansammlung stehen.

»Warum antworten Sie nicht?«

»Sind Sie ein Gespenst? So verduften sie schleunigst! Die Versammlung hat die Gespenster abgeschafft.«

Ebenso schlaff antwortete der Unbekannte:

»Wir bewachen den Tyrannen.«

»Hat euch die Kommune ernannt?«

»Nein, wir selber. Wir sind hier sechsunddreißig Mann. Es waren unserer siebenunddreißig, doch starb einer, wir bewachen den Tyrannen. Seit zwei Monaten, oder vielleicht schon länger, leben wir vor diesen Mauern. Wir sind müde!«

»Die Nation dankt euch. Wißt ihr, was heute geschehen ist?«

»Ja, wir haben etwas gehört. Wir bewachen den Tyrannen.«

»Daß wir jetzt Republik haben – Freiheit?«

»Ja, wir bewachen den Tyrannen, wir sind müde!«

»Laßt euch umarmen, Brüder.«

Die kühlen Lippen berührten schlaff die heißen Münder.

»Wir sind müde. Er ist so hinterlistig und gefährlich. Tag und Nacht blicken wir in alle Fenster und Türen. Ich schaue jetzt, seht ihr, hier in dieses Fenster. Ihr werdet ihn jetzt nicht finden. Freiheit? sagt ihr also. Das ist gut. Aber wir müssen auf unsere Posten gehn. Seid ruhig, Bürger! Er schläft. Wir bekommen alle halbe Stunden Nachricht. Er schläft.«

Die Schattengestalten schwankten, zogen sich zurück und verschwanden, als hätten die Mauern sie verschluckt. Der schwarze Turm erschien noch höher, und von der linken Zinne zog sich eine ungeheure Wolke zur Stadt hin. Es schien, als wachse der Turm, als strecke er seine Arme aus. Aus dem tiefen Dunkel der Wand loderte plötzlich eine Flamme auf und erlosch; – war es ein Zeichen? Die Wolke zog sich über die Stadt und wurde gelb vom Schein der Lichter; ein feiner Regen begann herabzurieseln. Es war unheimlich still.

Schläft er wirklich?

 


 << zurück weiter >>