Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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III.

Er hatte bereits versucht zu fliehen. Die Einen bezauberte er, andere schläferte er ein und war nahe daran, seine teuflische Freiheit wiederzuerlangen, als ein treuer Sohn des Vaterlandes ihn in der Verkleidung eines schmutzigen Knechtes erkannte. Er traute seinem Gedächtnis nicht und blickte erst auf eine Münze mit dem Bildnis. Die Glocken läuteten Sturm, und aus den Häusern stürzten erschrockene, bleiche Menschen heraus: Er ist's! Nun befindet er sich im Turm, in dem großen, schwarzen Turm mit den dicken Wänden und den kleinen Fenstern; dort wird er von treuen, der Bestechung, der Schmeichelei und der Bezauberung unzugänglichen Söhnen des Volkes bewacht. Damit es den Wächtern nicht unheimlich wird, trinken sie und lachen und blasen ihm den Rauch aus ihren Pfeifen gerade ins Gesicht, wenn er im Gefängnis mit seiner Familie den gewohnten Spaziergang antritt. Damit er die Vorübergehenden nicht bezaubert, haben sie die Fenster unten mit dicken Brettern vernagelt und den oberen Teil des Turmes, wo er manchmal seinen Spaziergang unternimmt, umzäunt, so daß nur die wandelnden, umherschauenden Wolken ihm ins Antlitz blicken. Aber er ist stärker. Er verwandelt das freie Lachen in knechtische Tränen; durch die dicken Mauern sät er Untreue und Verrat, die als schwarze Blumen im Volke aufgehen und das goldene Gewand der Freiheit fleckig machen, wie das Fell eines wilden Tieres. Überall Verräter und Feinde! An den Grenzen versammeln sich ebenso mächtige und geheimnisvolle Gebieter, die von ihren Thronen hinuntergekrochen sind und Horden wilder, betörter Menschen herbeiführen, Muttermörder, die hierher kommen, ihre Mutter, die Freiheit zu töten. In den Häusern, auf den Straßen, in den rätselhaften Fernen der Wälder und der Dörfer, in den stolzen Prachtsälen der Versammlung des Volkes – überall zischt und gleitet der schwarze Schatten des Verrats hinein. Wehe dem Volke! Verraten haben es, die zuerst das Banner des Aufstandes erhoben; und schon hat man die verfluchte Asche ihrer Leiber aus den betrogenen Gräbern geschleudert, schon hat ihr schwarzes Blut die Erde getränkt. Wehe dem Volke! Jene haben es verraten, denen es seine Seele hingab; Verrat übten die Auserwählten mit den ehrlichen Gesichtern, den unbestechlichen strengen Reden und den mit fremdem Gold angefüllten Taschen.

Die Stadt war bereits durchsucht. Es war befohlen, daß alle Leute um 12 Uhr mittags in ihren Wohnungen sein sollten, und als nun zur angegebenen Stunde die Glocken zu läuten begannen, rollten die unheilvollen Klänge dumpf über die leeren, lautlosen Straßen. Seit die Stadt bestand, hatte niemals eine solche Stille in ihr geherrscht. Menschenleer ist es an den Springbrunnen, alle Läden geschlossen, von einem Ende der Straße bis zum andern sieht man nicht einen Menschen, nicht einen Wagen. An den schweigenden Mauern schleichen erschreckt und verwundert die Katzen vorbei, sie wissen nicht, ist es Tag oder Nacht; so still ist es, daß man das samtweiche Geräusch ihrer dahineilenden Pfötchen zu vernehmen wähnt. Einzelne Glockenschläge streichen die Straße entlang, gleich unsichtbaren, schwarzen Besen und kehren gleichsam die Stadt aus. Auch die Katzen verkriechen sich erschreckt. Menschenleere. Stille.

Plötzlich erscheinen in allen Straßen kleine Gruppen bewaffneter Menschen. Sie unterhalten sich laut und stampfen ungezwungen mit den Füßen. Obgleich ihre Zahl nicht groß, machen sie mehr Lärm, als die ganze Stadt, wenn hunderttausend Menschen und Wagen sich in ihr bewegen.

Jedes Haus, der Reihe nach, schlingt sie ein und wirft sie wieder aus, und mit ihnen zugleich einen oder zwei vor Wut bleiche oder vor Zorn gerötete Menschen. Die Hände verächtlich in den Taschen, gehen diese einher, an diesen seltsamen Tagen fürchtet niemand den Tod, nicht einmal die Verräter – und sie verschwinden in der schwarzen Tiefe der Gefängnisse. Zehntausend Verräter fanden die treuen Söhne des Volkes; zehntausend Staatsverräter, die sie in die Gefängnisse warfen.

Jetzt ist es zugleich beruhigend und schauerlich auf die Gefängnisse zu sehen, angefüllt sind sie von oben bis unten mit allem Verrat. Kaum können ihn die Mauern fassen und wollen fast zusammenstürzen. An diesem Abend herrschte Jubel in der Stadt. Wieder wurden die Häuser leer, wieder füllten sich die Straßen, und die schwarze, unendliche Menge wirbelte in wunderlichem betörenden Tanze mit heftigen, ungezügelten Bewegungen. sie tanzten von einem Ende der Stadt bis zum anderen. An den Laternen erglänzten, wie die schäumende Brandung an Felsen, besonders hochspringende Wogen: ineinandergreifende Arme, vom Lachen erhitzte Gesichter, weitaufgesperrte Augen – alles in wildem Kreise, ununterbrochen wechselnd und verschwindend; weithin wogte eine undurchdringlich schwarze Masse, bald verschmolzen – bald getrennt, bald wie ein Wasserstrudel wirbelnd, bald wie ein Fluß vorwärts eilend. An einer der Laternen baumelte ein Erhängter, ein Verräter, dem es nicht gelungen war, das Gefängnis zu erreichen. Seine ausgestreckten Beine, die sehnsüchtig nach der Erde strebten, wurden von den Köpfen der Tanzenden berührt, und es schien, als tanze er selber, als sei er der Tanzmeister, der die Tänze anordne.

Dann gingen sie zu dem schwarzen Turm und schrieen mit emporgehobenen Häupten in die dicken Mauern hinein:

»Tod dem Zwanzigsten, Tod!«

In den Fenstern leuchteten rote Lichter: treue Söhne des Volkes bewachten den Tyrannen. Und beruhigt und sicher, daß er sich hier befand und nicht fliehen konnte, schrie die Menge zum Scherz, oder um ihm Angst zu machen:

»Tod dem Zwanzigsten, Tod!«

Und sie gingen davon und machten anderen Platz, die von neuem schrieen. Und wieder schwebten während der Nacht grausige Träume über der Stadt, und in ihrem Innern brannten die schwarzen Türme und die von Verrat und Verbrechen gefüllten Gefängnisse, gleich verschlungenem, nicht aus dem Körper entferntem Gift.

Die Verräter wurden bereits getötet. Man schärfte Säbel, Beile und Sensen. Dicke Holzscheite und schwere Steine wurden gesammelt, und zweimal vierundzwanzig Stunden arbeitete man in den Gefängnissen, bis alle vor Müdigkeit zusammenbrachen. Sie schliefen schließlich dort, und wo es gerade kam, aßen und tranken sie. Die Erde nahm das fette Blut nicht mehr auf, so daß Stroh aufgeschüttet werden mußte, aber auch dieses ward bald naß und in eine braune Düngerschicht verwandelt. Siebentausend waren erschlagen. Siebentausend Verräter waren in die Erde gegangen, um die Stadt zu reinigen und der jungen Freiheit das Leben zu geben.

Wieder gingen sie zum Zwanzigsten und zeigten ihm die abgehauenen Häupter und die aus der Brust gerissenen Herzen. Und er sah sie an. In der Versammlung des Volkes jedoch herrschte Bestürzung und Schrecken: man suchte denjenigen, der den Befehl zum Töten gegeben hatte und fand ihn nicht. Und dennoch muß jemand den Befehl erteilt haben. Warst du es nicht? Oder du? Aber, wer würde es je wagen, zu befehlen, wo die Versammlung einzig und allein die Macht dazu hat? Manche glaubten etwas zu wissen.

»Mörder!«

»Nein, wir bedauern nur das Vaterland, während ihr die Verräter bedauert!«

Und es wird nicht Ruhe, und der Verrat wächst und mehrt sich und drängt bis ans Herz des Volkes, soviel Leid war erduldet, soviel Blut war vergossen, und alles vergeblich! Der geheimnisvolle Gebieter fuhr fort, durch die dicken Mauern Verrat und Zauber zu säen. Wehe der Freiheit! Aus dem Westen kamen schreckliche Nachrichten von furchtbarer Zwietracht, von Schlachten, von Spaltungen des törichten Volkes, das sich bewaffnet gegen die Mutter Freiheit erhob. Vom Süden zog es drohend heran, vom Norden und Osten drangen die von ihrem Thron heruntergekrochenen Gebieter mit ihren wilden Horden vor. Woher die Winde auch wehen mochten, stets waren sie mit der Luft von Feinden und Verrätern getränkt, woher die Wolken auch ziehen mochten, von Nord oder von Süd, von Ost oder von West, stets brachten sie den Klang von Drohungen und Zorn mit; er widerhallte freudig in den Ohren derer im Turm, den Ohren der Bürger erschien er aber wie Totengeläut. Wehe dem Volke! Wehe der Freiheit! Der Mond leuchtete grell glänzend, wie über Trümmern; die Sonne tauchte jeden Abend in Nebel unter und wurde von schwarzen, langsam dahinziehenden Wolken von unförmiger, ungeheuerlicher, wunderlicher Gestalt verdunkelt. Sie umstürmten und umdrängten den Sonnenball, und so stürzten beide, Sonne und Wolken zugleich, wie eine einzige purpurfarbige Masse den Horizont hinab. Auf kurze Zeit gelang es der Sonne, aus den Wolken hervorzutauchen, aber welch ein düsteres, schauriges Licht war das!

Flüchtig und scheu schmiegte es sich an die Gipfel der Bäume, der Häuser und der Kirchen, schaute mit großen, grellen, schreckhaften Augen drein, wurde dunkel, schmolz hin und erlosch. Die Wolke wälzte sich gleich einem zerzausten Gebirgskamm in den fernen Ozean hinab und riß die Sonne mit sich fort. Wehe dem Volk! Wehe der Freiheit!

Unterdessen ging der einäugige Uhrmacher, der so gut durch die Lupe sehen konnte, zwischen den Rädern und Rädchen, zwischen Hebeln und Seilen umher, und den Kopf nach der Seite gewandt, betrachtete er den Schwung des Riesenpendels.

»So war's – so wird's, so war's – so wird's!«

Einmal, als er noch jung war, geriet die Uhr in Unordnung und ging zwei Tage lang nicht. Das war so fürchterlich, es schien, als ob die ganze Zeit mit ihrer unendlichen Masse plötzlich irgendwohin fallen wollte. Als aber die Uhr wieder in Ordnung gebracht war, wurde es wieder gut: jetzt fließt die Zeit durch die Finger, tropfenweise fällt sie herab, teilt sich in kleine Stückchen und lockert sich zollweise. Die große, kupferne Mondscheibe erglänzt matt auf dem Pendel und huscht als gelber Fleck vor dem zusammengekniffenen Auge vorbei. Draußen auf dem Gesims girrt irgendwo eine Taube.

»So war's – so wird's, so war's – so wird's!«

 


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