Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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VII.

In den folgenden Tagen blieben die Briefe zunächst aus. Wie auf Verabredung hörten alle Zusendungen plötzlich auf, und das eingetretene Schweigen hatte etwas Ungewohntes und Beängstigendes. Aus dem jähen Eintritt dieses Schweigens fühlte man heraus, daß es noch nicht zu Ende war, daß da noch in der Stille irgend etwas seinen Fortgang nahm, wie wenn der Gedanke in eine neue Phase eingetreten wäre und geheimnisvoll irgend etwas schaffe. Und rasch gingen die Tage dahin, wie Schwingungen ungeheurer Fittiche: ein Aufschwung – ein Tag, ein Abschwung – eine Nacht.

Zweimal wurde zu ungewohnter Stunde der Polizeimeister »Zander« von der Frau Gouverneurin empfangen. Während er im Vorzimmer dem Portier seinen Arm hinstreckte, damit er ihm den Paletot abnähme, schalt er ihn abgewandt, in energischem Flüsterton aus wie einen seiner Polizisten oder einen Droschkenkutscher. Und als er den Paletot bereits abgelegt hatte, und den frischen Handschuh anzog, neigte er den geleckten Kopf zu dem weichen Backenbart des Portiers vor, fletschte die stockigen, von Tabak durchräucherten Zähne und hielt ihm die halb im Handschuh steckende Hand mit den baumelnden flachen Handschuhfingern dicht vor die Nase. Dasselbe tat er, wenn auch in geringerem Maßstabe, mit dem Lakaien. Dann nahm er die Haltung eines Mannes von Welt an und stieg die Treppe zum oberen Stockwerke empor. Er hätte es früher nie gewagt, die Dienerschaft des Gouverneurs zu schelten, jetzt aber lagen die Dinge so, daß er es konnte, ja sogar tun mußte. Gestern abend war dicht an der Auffahrt zum Gouverneurhause ein von den Geheimagenten aufgespürter, höchst verdächtiger Mensch arretiert worden: frühmorgens war er dem Gouverneur auf seinem gewohnten Spaziergang von weitem gefolgt, und dann hatte er sich den ganzen Tag in der Nähe des Hauses umhergeschlichen, hatte in die Fenster des Erdgeschosses hineingeschaut, sich hinter den Bäumen versteckt und sich überhaupt höchst verdächtig benommen. Bei der Verhaftung fand man weder Waffen noch irgend welche verdächtigen Gegenstände oder Papiere bei ihm, und man rekognoszierte ihn als den Kleinbürger Ipatikow, Kürschner von Profession; seine Aussagen waren jedoch unklar und verlogen, er versicherte, daß er nur einmal am Hause vorübergegangen sei, und schien offenbar irgend etwas zu verheimlichen. Bei einer Haussuchung in seiner Werkstatt fand man nichts außer den üblichen Pelzabfällen, einen angefangenen Pelzpaletot für einen Gymnasiasten und anderes Handwerkszubehör; Hauswirtschaft fand man bei ihm nicht vor; keine Waffen, keine Schriftstücke – gleichwohl erschien der Fall in hohem Maße dunkel und unaufgeklärt. Und niemand von der Dienerschaft des Gouverneurs, weder der Portier noch sonst jemand, hatte das verdächtige Subjekt bemerkt, obschon es wenigstens ein Dutzendmal am Paradeeingang vorübergegangen war; und in der Nacht hatte einer der Agenten, um eine Probe zu machen, an der Tür gerüttelt, und es zeigte sich, daß sie unverschlossen war, so daß er bis zur Portierloge gelangen, dort zum Zeichen seiner Anwesenheit einen Strich in die Wand kratzen und sich unbemerkt wieder entfernen konnte. Den Umstand, daß die Tür unverschlossen war, suchte der Portier mit Vergeßlichkeit zu entschuldigen, in einer Zeit jedoch, da alle ein Verbrechen erwarteten, war eine solche Bummelei unverzeihlich.

»Ich bin in einer unmöglichen Lage, Exzellenz,« klagte »Zander« der Frau Gouverneurin, indem er den weißen Handschuh an seine parfümierte Brust legte. »Seine Exzellenz wollen von einer Schutzwache durchaus nichts wissen und gestatten nicht einmal, darüber zu reden; die Agenten – verzeihen Sie den Ausdruck – sind ganz auf den Hund gekommen vom ewigen Hergehen hinter Sr. Exzellenz, und schließlich ist alles zwecklos, da der erste beste Hallunke aus seinem Winkel hervor oder selbst über den Zaun hinweg Se. Exzellenz mit einem Steine treffen kann. Wenn, Gott verhüte es, irgend was passiert, dann wird es heißen: der Polizeimeister ist schuld, der Polizeimeister hat nicht acht gegeben, was kann ich denn aber tun gegen Seiner Exzellenz heiligen Willen? Versetzen sich Exzellenz 'mal in meine Lage – es ist geradezu – verzeihen sie den Ausdruck – um den Abschied zu nehmen, Exzellenz!«

Es stellte sich heraus, daß »Zander« bereits seinen Plan fix und fertig hatte: Der Gouverneur sollte aus Gesundheitsrücksichten zwei oder drei Monate Urlaub nehmen und in irgend ein ausländisches Bad fahren; in der Stadt war äußerlich alles ruhig, in Petersburg war man dem Gouverneur wohl gewogen und würde ihm kaum irgendwelche Schwierigkeiten machen.

»Sonst kann ich für nichts garantieren, Exzellenz,« schloß der Polizeimeister gefühlvoll. »Die menschliche Kraft hat ihre Grenzen, Exzellenz, und ich sage es in aller Offenheit: ich kann für nichts garantieren. Sind erst zwei, drei Monate vergangen, dann ist alles wunderschön vergessen, und dann – willkommen bei uns, Exzellenz. Dann wird gerade die italienische Oper herkommen: wir werden sie besuchen, und seine Exzellenz können wieder nach Herzenslust spazieren gehen.«

»Was reden Sie da von der Oper!« sagte die Gouverneurin, doch ging sie auf den Vorschlag des Polizeimeisters ein, da sie selbst sehr beunruhigt war.

Unten nahm sich der Polizeimeister noch einmal den Portier vor, diesmal jedoch ganz laut und ungeniert:

»Ich will dich lehren! Ich will dir deinen Backenbart stutzen, du Fettschnauze! Läßt sich 'nen Backenbart wachsen wie 'n Geheimrat, der Hundskerl, und denkt, er braucht die Tür nicht zuzuschließen! Du sollst mir tanzen! Du ...«

An diesem Abend bat Maria Petrowna ihren Gatten, mit ihr und den Kindern ins Ausland zu reisen.

»Ich bitte dich, Pierre,« sagte sie mit ihrer müden Stimme und bedeckte dabei ihre Augen mit ihren langen braunen Wimpern, während die gelbe, gepuderte Haut auf den Wangen wie bei einem Wachtelhund herabhing. »Du weißt, daß meine Nieren nicht gesund sind – ich muß unbedingt nach Karlsbad.«

»Aber kannst du nicht mit den Kindern hinfahren, ohne mich?«

»Ach nein, Pierre, was redest du da! Ich werde mich so beunruhigen, wenn du nicht da bist. Ich bitte dich!«

Sie sagte nicht, worüber sie sich beunruhigen würde – ihr Wunsch war auch ohnedies verständlich. Zu ihrer Überraschung ging Peter Iljitsch bereitwillig auf den Reiseplan ein, obwohl es für ihn, ganz abgesehen von den besonderen Umständen, schon genügt hätte, daß sie die Bitte aussprach, um seinen Widerspruch und einen Streit hervorzurufen. So war es nämlich bei ihnen üblich.

»Das wird man doch nicht als Feigheit deuten können, nein!« dachte der Gouverneur. »Ich bin ja nicht selbst auf diese Reise verfallen, und vielleicht tut ihr wirklich eine Kur not, sie sieht ganz gelb aus, wie eine Zitrone. Sie haben immer noch Zeit genug, mich zu töten, und wenn sie nichts unternehmen, dann bin ich eben im Recht, und nicht sie. Und dann nehme ich meinen Abschied und gehe für immer fort – und richte mir eine schöne Orangerie ein.«

Während ihm jedoch diese Gedanken durch den Kopf gingen, glaubte er weder an die Auslandsreise noch an die Orangerie – nur darum hatte er vielleicht so rasch eingewilligt, zu reisen. Und nachdem er eingewilligt hatte, vergaß er die Angelegenheit gleich wieder, als wenn sie nicht ihn, sondern irgend einen ersten besten anginge, zögerte unbegreiflich lange mit der Einreichung des Urlaubsgesuches, bestimmte den Tag, wann er es aufsetzen würde, und erinnerte sich der Sache erst zwei Tage nach dem festgesetzten Termin. Und wieder setzte er einen Tag fest, und wieder vergaß er ihn beharrlich. Auch die Gouverneurin, die schon der gefaßte Beschluß beruhigte, drängte ihn nur wenig – sie hatte sich diesmal mit ihrer Herbsttoilette verspätet und brauchte Zeit, um mit ihren Schneiderinnen fertig zu werden. Auch Sisi war noch nicht fertig.

In der schweigsamen Einsamkeit, die den Gouverneur seit dem plötzlichen Aufhören der Briefsendungen umfing, fühlte er etwas Unvollendetes – wie einen Hinweis auf eine leise Stimme, die irgendwo in der Ferne erklang. So fühlt man in einem leeren Zimmer, wenn hinter der Wand gesprochen wird und man die Stimmen nicht hört. Und als nun wieder ein Brief ankam – ein letzter, verspäteter Brief – da nahm er ihn entgegen, als wenn er nur auf ihn gewartet hätte, und wunderte sich nur, daß er in einem schmalen, zartgetönten Kuvert steckte, auf dessen Rückseite ein Vergißmeinnicht abgebildet war. Und er kam nicht am Tage wie die andern Briefe, die abends oder nachts in den Briefkasten gesteckt waren, sondern mit der Abendpost, er war also erst vor kurzem, erst vor ein paar Stunden aufgegeben worden. Der kleine Briefbogen hatte gleichfalls einen zarten Farbenton und zeigte oben ein blaues Vergißmeinnicht; die Schrift war deutlich und sorgfältig. Die Zeilen waren jedoch am Ende häufig nach unten abgebogen, wie wenn die Briefschreiberin mit der Trennung der Silben nicht recht Bescheid wüßte und es vorzöge, die Wörter mit kleinen, niedergleitenden Buchstäbchen auszuschreiben. Bisweilen begann sie schon lange vor der Trennung, in der Voraussicht, daß die Worte nicht Platz haben werden, die Zeile nach unten zu biegen, daß sie aussah, wie ein kleiner Schneeberg, von dem sich die Kinder auf ihrem Schlitten, die Kleinsten voran, in langer Reihe niedergleiten lassen. Unterschrieben war der Brief: »Eine Gymnasiastin.«

»Gestern träumte ich von Ihrem Begräbnis, und ich beschloß, Ihnen zu schreiben, obschon das nicht recht und eine Beleidigung der unglücklichen Arbeiter und kleinen Mädchen ist, die Sie getötet haben. Aber auch Sie sind ein unglücklicher Mensch, der Mitleid verdient, und darum schreibe ich Ihnen diesen Brief. Ich träumte, daß Sie nicht in einem schwarzen Sarge begraben wurden, wie sonst Greise und überhaupt ältere Leute, sondern in einem weißen, wie man sie für junge Mädchen nimmt, und es waren Polizisten, die Ihren Sarg trugen, auf der Moskauerstraße, doch trugen sie ihn nicht mit den Händen, sondern auf den Köpfen. Und hinter dem Sarge gingen auch nur Polizisten, und Verwandte von Ihnen waren nicht dabei, und überhaupt war niemand vom Publikum da, und selbst die Fenster und Pförtchen der Häuser, an denen Sie vorübergetragen wurden, waren alle mit Läden verschlossen, wie in der Nacht. Mir wurde so ängstlich zu Mute, daß ich erwachte und nachzudenken begann, und davon will ich Ihnen eben schreiben. Ich dachte: wahrscheinlich haben Sie wirklich keinen Menschen, der Sie beweinen könnte, wenn Sie sterben. Die Menschen, welche Sie umgeben, sind gefühllose Egoisten und denken nur an sich, und wenn man Sie tötet, werden sie, glaube ich, sogar froh sein, da sie selbst von dem Gouverneurposten träumen. Ihre Gattin kenne ich nicht, doch glaube ich nicht, daß in diesen von Eitelkeit und Genußsucht vergifteteten Gesellschaftskreisen feinfühlige und gute Frauen zu finden sind. Von den ehrenwerten Leuten wird niemand Sie zu Grabe geleiten, da alle über Ihr Verhalten gegenüber den Arbeitern empört sind, und von einem Herrn habe ich sogar erfahren, daß man Sie aus dem Club ausschließen wollte und nur vor der Regierung Angst hatte. Seelenmessen haben gar keinen Wert, da unser Bischof, wie Sie selber wissen, bereitwillig auch für einen Hund eine Seelenmesse lesen würde, wenn er nur gut dafür bezahlt wird. Und wie ich bedachte, daß Sie selbst das alles jedenfalls sehr gut wissen, auch ohne daß ich es Ihnen schreibe, da taten Sie mir sehr leid, als wenn ich Sie persönlich kennen würde. Gesehen habe ich Sie nur zweimal: einmal auf der Moskauerstraße, aber das ist schon lange her, und ein zweites Mal bei unserem Schulakt, als Sie mit dem Bischof angefahren kamen, aber Sie werden sich natürlich meiner nicht mehr besinnen. Und ich schwöre, daß ich für Sie beten und um Sie weinen werde, als wäre ich Ihre Tochter, weil Sie mir sehr, sehr leid tun. P. S. Bitte, verbrennen Sie diesen Brief. Sie tun mir sehr, sehr leid.«

Er gewann die kleine Gymnasiastin lieb. Spät am Abend, kurz vor dem Schlafengehen, durchschritt er den dunklen Saal und trat auf den Balkon hinaus – denselben Balkon, von dem aus er das Zeichen mit dem weißen Taschentuch gegeben hatte. Schon hatte das trübe, naßkalte Herbstwetter eingesetzt, und die Nacht war finster vom dichten, herbstlichen Dunkel; und in der Schwere dieses Dunkels fühlte man, wie fern die Sonne war, wie lange sie schon weg war, und wie spät sie erst wiederkommen würde. Weithin zur Linken, an der Auffahrt, brannten zwei helle Laternen mit Reflektoren; und ihr weißes Licht drang in die Finsternis vor, verscheuchte sie jedoch nicht: da stand sie immer noch, ruhig, dicht und wuchtig. Die Stadt schlief wahrscheinlich schon, da man neben den wenigen Laternen in den Straßen nicht ein einziges erhelltes Fenster sah und auch kein Wagengerassel vernahm. Unter einer der Laternen schimmerte etwas undeutlich – wahrscheinlich eine Pfütze. Das Gymnasium ist längst geschlossen, und sie hat vermutlich längst ihre Schulaufgaben gemacht und schläft nun irgendwo in diesem schwarzen, von Schweigen erfüllten Raume. Von dorther schickten sie ihm die Briefe und die Drohungen, von dorther wird der Tod zu ihm kommen ... aber dort ist auch dieses kleine Mädchen, das nun schläft, und das um ihn weinen wird.

Wie ruhig ist es, wie dunkel – wie still.


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