Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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VIII.

Zwei Wochen vor dem Tode des Gouverneurs wurde eine in Leinwand eingenähte Postsendung, deren Wert auf drei Rubel angegeben war, im Gouverneurshause abgeliefert. Als man sie öffnete, kam eine Höllenmaschine zum Vorschein – ein mit Pulver geladenes Geschoß, das so konstruiert war, daß es beim Öffnen der Sendung explodieren sollte. Es war jedoch schlecht konstruiert von der unerfahrenen Hand irgend eines Dilettanten, der nur von der Existenz ähnlicher Dinge gehört hatte, und konnte überhaupt auf keine Weise explodieren. Und in dieser Naivität der Zurüstung lag etwas stumpfsinnig Grausames und Furchteinflößendes, wie wenn der blinde Tod seine Fühler ausstreckte und im Dunkel damit herumtastete. Der Polizeimeister schlug Alarm und die Frau Gouverneurin bestand darauf, daß Peter Iljitsch sich noch am selben Tage in Petersburg krank melde; sie fuhr auch selbst zu ihrer Schneiderin und schrieb ihrem Sohn außerdem einen französischen Brief voll entsetzlicher Dinge.

Mit dem Gouverneur aber ging um diese Zeit eine höchst sonderbare und radikale Wandlung vor, die an Stelle des Menschen, den alle kannten und an den alle gewöhnt waren, ein völlig neues Bild setzte. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, wann das eigentlich geschehen war: ob an jenem Tage oder etwas früher, oder etwas später, und er schien auch im Grunde genommen der Alte, aber sein Gesicht und sein Mienenspiel bekam mit einem Male einen Ausdruck der Aufrichtigkeit, daß es schien, als sei es ein ganz neues Gesicht. Es lächelte dort, wo es früher ruhig geblieben war, es verfinsterte sich, wo es früher gelächelt hatte, es war gleichgültig und gelangweilt, wo es früher Teilnahme und Aufmerksamkeit gezeigt hatte. Und ebenso unheimlich aufrichtig wurde er in seinen Gefühlen und der Art, sie auszudrücken: er schwieg, wenn er Lust hatte zu schweigen, ging fort, wenn er fortgehen wollte, kehrte in der Unterhaltung den Leuten ruhig den Rücken, wenn sie ihm langweilig schienen. Und diejenigen, die seit vielen Jahren seiner Liebe und Zuneigung sicher zu sein glaubten, die alle seine Gefühle und Stimmungen kannten, sahen sich plötzlich von ihm vernachlässigt, ganz zur Seite geschoben und kannten sich in seinen Gefühlen und Stimmungen nicht mehr aus. All die Verbeugungen, Händedrücke, freundlichen Blicke und liebenswürdig lächelnden Mienen waren plötzlich verschwunden, die gelegentlichen Höflichkeitsfloskeln – »wenn ich bitten darf, mein Lieber« – »Sie werden mich sehr verbinden, Verehrter« – alles das, woran man bei ihm gewöhnt war, blieb aus seiner Rede ganz und gar fort, und die Leute waren verblüfft durch die seltsame, ja sogar beängstigende Neuheit dessen, was nun ans Licht trat. So mögen die Tiere, die gewohnt sind, die Kleidung des Menschen für den Menschen selbst zu nehmen, beim Anblick des nackten Menschen verblüfft sein.

Nur höflich zu sein hatte er aufgehört, und sogleich war das Band zerrissen, das ihn seit vielen Jahren mit seiner Gattin, seinen Kindern, seiner Umgebung verknüpfte – wie wenn es einzig auf freundlichen Mienen und Komplimenten beruht hätte und zugleich mit den Handküssen verschwunden wäre. Er verurteilte sie nicht, fand keinen Haß gegen sie, hatte nicht einmal irgend etwas Neues, Abstoßendes an ihnen bemerkt – sie fielen einfach aus seiner Seele heraus, wie faulige Zähne aus dem Munde herausfallen, wie die Haare ausfallen, wie eine abgestorbene Haut abgestreift wird: schmerzlos, ohne Gefühl, in aller Ruhe. Verlassen und einsam stand er da, als er den Schleier der Höflichkeit und Gewohnheit abgeworfen hatte, und er fühlte es nicht einmal – als wenn die Einsamkeit stets, in all den Tagen seines langen und bewegten Lebens, sein natürlicher Zustand gewesen wäre, immer so unberührbar wie das Leben selber.

Am Morgen vergaß er zu grüßen, am Abend gute Nacht zu sagen, und wenn die Gattin ihm die Hand, und seine Tochter Sisi ihre glatte Stirn hinhielt, wußte er nicht, was er mit der Hand und der glatten Stirn anfangen sollte. Wenn Gäste zum Frühstück kamen, der Vize-Gouverneur mit seiner Gattin oder Koslow, erhob er sich nicht, um sie zu grüßen, machte kein erfreutes Gesicht, sondern fuhr eilig fort zu essen. Und wenn er sich satt gegessen hatte, bat er nicht erst Maria Petrowna um die Erlaubnis, aufstehen zu dürfen, sondern stand einfach auf und ging hinaus.

»Wohin gehst du denn, Pierre? Bleib doch bei uns, wir langweilen uns. Es gibt auch gleich Kaffee.«

Er antwortete ruhig:

»Nein, ich geh' lieber in mein Zimmer. Kaffee trink ich nicht.«

Und das Unhöfliche der Antwort verschwand hinter ihrer Aufrichtigkeit und Schlichtheit. Er mochte Sisis neue Kleider nicht sehen, begrüßte die Gäste nicht, die ins Haus kamen, überließ es der Frau Gouverneurin, nach Vorwänden für sein Fernbleiben zu suchen, hörte ganz und gar auf, sich mit den Gästen zu befassen und weigerte sich, Berichte ohne Darlegung der Motive anzunehmen. Bittsteller jedoch empfing er einmal in der Woche, und er hörte jeden aufmerksam an, mit einem Interesse, das sogar ein wenig unhöflich erschien, da er den Bittsteller von den Füßen bis zum Kopfe musterte.

»Sind Sie überzeugt, daß es so besser sein wird?« fragte er, nachdem er ihn angehört hatte. Und sobald er dann die verwunderte und zugleich bestätigende Antwort erhalten hatte, versprach er die Bitte zu erfüllen. Wahrscheinlich dachte er in diesen Stunden nicht an die Grenzen seiner Macht, oder er hatte eine übertriebene Vorstellung davon, jedenfalls entschied er öfters Angelegenheiten, die gar nicht zu seinem Ressort gehörten; der neue Gouverneur hatte dann in der Folge viel Scherereien mit der so entstandenen Verwirrung, um so mehr, als viele Angelegenheiten von ganz unerlaubt verwickeltem Charakter waren.

Um im übrigen die schlechte Stimmung ihres Gatten ein wenig zu verscheuchen, kam Maria Petrowna öfters in sein Kabinett, probierte mit der Hand, ob sein Kopf nicht heiß sei, und begann vom Ausland zu reden. Aber er schaffte sie sich sehr einfach und wenig höflich vom Halse.

»Nun, schon gut, geh' nur. Ich möchte allein bleiben. Du hast ja deine eignen Zimmer, ich störe dich dort auch nicht!«

»Wie hast du dich verändert, Pierre!«

»Unsinn, Unsinn!« sprach er mit seinem lauten Kommandobaß und lehnte sich dabei mit dem Rücken gegen den kalten, schlechtgeheizten Ofen. »Geh, geh und bring deinen Mops zum Schweigen, man hört nichts weiter als sein Gebell im ganzen Hause.«

Von seinen früheren Gewohnheiten hatte Peter Iljitsch nur das Kartenspiel beibehalten; er spielte zweimal in der Woche »Whist« mit niedrigen Einsätzen und er spielte mit sichtlichem Vergnügen, ernst und sachgemäß, und wenn sein Partner einen Fehler beging, stieg er ihm gehörig aufs Dach.

»Wo haben Sie denn Ihre Gedanken, mein Herr? ich habe doch Schel–len ausgespielt!« schmetterte er laut, wobei er das Wort Schellen so aussprach, als wenn er eine Schelle ertönen ließe; und Maria Petrowna hörte im Gastzimmer die Worte ihres Mannes, lächelte und schüttelte mit müder Nachsicht den Kopf. Ihre gelben Wangen hingen herab, wie bei einem Wachtelhund, der Puder stob von ihren Backen und die braunen, großen, kugelförmigen Lider senkten sich wie eiserne Rolläden in einem Magazin und hoben sich wieder. Ihr wie den andern schien es in diesem Augenblick ausgeschlossen, daß jemand den Entschluß fassen könnte, einen Menschen zu töten, der so Karten spielt.

Und die ganzen zwei Wochen bis zu seinem Tode wartete er. Wahrscheinlich waren in seinem Kopf auch noch andere Gedanken – an das Alltägliche, an das Gewohnte, an das Vergangene. Die üblichen alten Gedanken eines Menschen, dessen Muskeln und Hirn längst verknöchert waren; wahrscheinlich dachte er an die Arbeiter und an jenen traurigen, entsetzlichen Tag – aber alle diese Gedanken blieben unklar und oberflächlich, verflogen rasch und verschwanden im Augenblick wieder, wie die leichte Kräuselung auf dem Flusse, die ein Windhauch erzeugt. Und von neuem, und zu jeder Zeit stand ruhig, gleich dem schwarzen Wasser der Tiefe, die bodenlose, schweigende Erwartung da. Es schien, als ob mit den Gedanken wie mit den Menschen ihn nur die Höflichkeit und die Gewohnheit verbände, und wenn diese entschwanden, waren auch die Gedanken entschwunden. Und er war in seinem Kopfe ebenso einsam wie in seinem Hause.

Er wartete. Wie immer stand er um sieben Uhr auf, nahm eine eiskalte Douche, trank Milch und unternahm bereits um acht Uhr seinen gewohnten Spaziergang; und jedesmal, wenn er die Schwelle seines Hauses überschritt, erwartete er, daß er sie nicht wieder überschreiten würde, daß der zweistündige Spaziergang sich in einen endlosen Fall ins Unbekannte verwandeln würde. Mit seinem rotgefütterten Generalmantel angetan, hochgewachsen, breitschulterig, soldatisch, den grauen Kopf ein wenig zurückwerfend, wandelte er zwei Stunden lang wie ein majestätisches Gespenst durch die Stadt, an den vom Regen geschwärzten hölzernen Häuschen, den endlosen Zäunen und leeren Plätzen entlang, vorüber an den Magazinen und Läden mit vor Kälte zitternden, sich tief verneigenden Kommis. Ob die abgeblendete Oktobersonne schien oder der grämliche feine Dauerregen niedersickerte, er tauchte unfehlbar in den Straßen auf – ein majestätisches und zugleich trauriges, mit gemessenen und harten Schritten einherschreitendes Gespenst, ein Toter, der im Parademarsch sein Grab suchte. Geradeaus schritt er durch Kot und Pfützen, in denen das rote Futter seines offenen Paletots sich spiegelte, geradeaus durchschritt er die Straßen, ohne die militärisch grüßenden Polizisten oder die Equipagen, die er in ihrer Fahrt aufhielt, zu bemerken; – und hätte man so von oben aus der Vogelperspektive seinen täglichen Weg der Erwartung aufgenommen, man hätte eine ganz absonderliche Kombination von kurzen, geraden Linien bekommen, die quer durcheinander fuhren und sich zu einem stachligen, schmerzlich in die Augen stechenden Knäuel verwirrten.

Er warf nur selten einen Blick zur Seite und sah niemals zurück; aber auch vor sich sah er, ganz in die abgrundtiefe, schwarze Erwartung versunken, kaum irgend etwas – viele Grüße ließ er unbeantwortet, und viele erschrockene Augen begegneten seinem gleitenden Blick, der nichts sah, der so gerade war wie seine Schritte, und ließen ihn gleichsam durch sich hindurchgehen. Und als er bereits ermordet und längst begraben war – und der neue Gouverneur, ein junger, höflicher Mensch, von Kosaken umringt rasch und vergnügt in seiner Equipage durch die Stadt fuhr, erinnerten sich noch viele dieses durch zwei volle Wochen umherspukenden, von dem uralten Gesetz heraufbeschworenen Gespenstes: des grauhaarigen Mannes im Generalspaletot, der geradeaus durch den Kot schritt, des zurückgeworfenen Kopfes, des nichts sehenden Blickes und des roten Seidenfutters, das sich grell in den schweigsamen Pfützen spiegelte.

Das Gedränge der Hauptstraßen mit seiner aufdringlichen Neugier war ihm lästig, und er verlor sich lieber in den schmutzigen, stillen Seitengassen mit ihren dreifenstrigen, kleinen Häuschen, ihren Zäunen und schmalen hölzernen, glitschigen Seitengängen, die die Stelle des Trottoirs vertraten. In allen diesen Tagen hatte er beständig den einen Wunsch: einmal der Kanatnaja einen Besuch abzustatten, sie vorwärts und rückwärts ganz zu durchschreiten, aber er konnte sich nicht entschließen, es auszuführen: es schien ihm zu peinlich, zu schrecklich, schrecklicher als der Tod. Und er empfand ein unbestimmtes Erstaunen darüber, wie er früher, im September, so ohne weiteres furchtlos durch diese Gasse fahren und sogar den Wunsch hegen konnte, dort jemandem zu begegnen, um ihn zu grüßen.

Eine Straße jedoch besuchte er jeden Tag, und zwar durchschritt er sie ohne die sonstige Hast, wie ein gutmütiger, etwas sonderbarer alter General, der ruhig spazieren geht. Diese Straße führte nach dem Mädchengymnasium, und an jedem Morgen, in der neunten Stunde, wimmelte es hier von kleinen Gymnasiastinnen; und er grüßte die Mädchen zuerst, höchst ehrerbietig und ernst, sogar die kleinsten unter ihnen, die ganz kurze, braune Kleidchen, dünne Beinchen und mächtige Bücherranzen hatten, und sie erwiderten seinen Gruß verlegen. Seine kurzsichtigen Augen vermochten die Gesichter nicht zu unterscheiden, sie erschienen ihm alle, die der kleinen Mädchen sowohl wie die der großen, schlanken Backfische als rosige Blütenblätter mit Mützchen. War die letzte vorübergegangen, so lächelte er still mit der linken Schnurrbarthälfte und schaute pfiffig drein – und bei der nächsten Straßenbiegung verwandelte er sich wieder in den Toten, der im Parademarsch sein Grab suchte.

In den ersten Tagen folgten ihm auf den geheimen Befehl des Polizeimeisters in einiger Entfernung zwei Agenten, die er nicht bemerkte, da er nie zurücksah. Anfangs folgten sie ihm gewissenhaft auf seinen launenhaften Kreuz- und Quergängen, bald jedoch wurden sie der Sache müde: es schien ihnen töricht, hinter einem Menschen herzulaufen, der in höchst unverständiger Weise sich an den gefährlichsten Orten umhertreibt. Sie blieben denn auch ab und zu vor bekannten Läden stehen, schwatzten mit den Polizisten, kehrten auch ein Viertelstündchen in einer Schenke ein, und es kam vor, daß sie den Gouverneur für ganze Stunden aus dem Auge verloren.

»Ist ja alles egal, 's ist eben nicht zu machen,« meinte zu seiner Rechtfertigung der eine, der mit seinem rasierten, ehrbar dreinschauenden Gesichte einem Konsistorialbeamten glich und im übrigen ein höchst nüchterner Mensch war; er kaute hastig an einer heißen Pastete und hob, obschon er sie noch nicht heruntergeschluckt hatte, mit der linken Hand schon den Metalldeckel von dem Kasten ab, um sich eine neue herauszulangen. »Wenn ein Mensch auf die alten Tage verrückt wird und selber auf den Spieß losrennt – was ist da mit ihm zu machen, sagen Sie, bitte?«

»'s ist eben nur der Form wegen,« meinte der Buffetier.

»Und ›Zander?‹« fragte der andere, ein schnurrbärtiger, finsterer Mensch, der einem durch Trunksucht heruntergekommenen Gutsbesitzer glich, in Wirklichkeit jedoch ein kleiner Falschspieler war, der Pech gehabt hatte. Mürrisch, mit gierigem, an einen fressenden Hund erinnernden Schlingen verschluckte er eine Wurst, einen Hering, kurz, alles, was ihm unter die Hand kam, und während er anscheinend recht langsam aß, schlang er in Wirklichkeit sehr rasch und viel. Auch Branntwein trank er, doch war er niemals betrunken, wie er auch nie satt war.

»Was denn – Zander? Der weiß doch ganz genau, daß wir keine Engel vom Himmel sind.«

»Wie 'n Pferd bei 'ner Feuersbrunst – ganz genau so ist er: man will es aus'm Stalle ziehn, und es sträubt sich. Mag's dreist verbrennen – aber weggehn wird's nicht,« sagte der Buffetier.

»Nein, Engel sind wir nicht,« wiederholte der Erste mit einem Seufzer.

Sie hatten in der Tat mit Engeln nichts gemein, diese beiden armseligen Burschen, und nicht ihren Händen kam es zu, den Berg aufzuhalten, der auf den Menschen herabfiel.

Nach Hause zurückkehrend und die Schwelle überschreitend, fühlte der Gouverneur doch keine Freude darüber und dachte auch gar nicht daran, daß er nun noch einen Tag leben blieb; er nahm das ohne Nachdenken hin; als wenn er sogar die Bedeutung seiner Wanderung vergessen hätte, und er harrte des nächsten Tages mit derselben machtvollen, dunklen Erwartung. Und die leeren, untätigen Tage vergingen furchtbar rasch, die Zeit aber schritt nicht vorwärts: wie wenn der Mechanismus, der die neuen Tage herausstößt, verdorben wäre und statt des folgenden Tages immer wieder denselben alten herausgäbe. Auch der Kalender auf dem Schreibtisch, den er stets selbst zu stellen pflegte – gewöhnlich des Abends, als wenn er den kommenden Tag riefe – auch der blieb auf irgend einem alten längst vergangenen Tage stehen; und wenn er bisweilen auf diese starre, schwarze Ziffer blickte, ohne selbst zu erraten, was sie bedeute, fühlte er ein Brennen in der Brust, eine Art leichter Übelkeit, und wandte rasch die Augen ab.

»Unsinn!« sagte er ärgerlich; wenn er jetzt allein war, brachte er häufig laut einzelne, durch keinen bestimmten Gedanken verbundene Worte hervor, und ganz besonders häufig gebrauchte er die Worte: »Unsinn!« und »Schmachvoll!«

Den Tod fürchtete er nicht und stellte sich ihn ganz äußerlich vor: man wird auf ihn schießen, und er wird hinfallen; dann folgt das Begräbnis, die Musik, die Orden, die man hinter ihm herträgt, und so weiter. Tapfer wollte er ihm entgegentreten. Er dachte auch gar nicht daran, ob jenseits des Grabes ein zweites Leben und ein Gericht sein wird oder nicht; für ihn war alles hier zu Ende. Und er aß tüchtig, mit dem gewohnten Appetit, und schlief fest und traumlos. Einmal jedoch in der Nacht – es war drei Tage vor seiner Ermordung – mußte er wohl irgend einen schweren Traum gehabt haben, denn er erwachte von seinem eigenen dumpfen, heiseren Stöhnen. Und als er diese seine eigene, ungewohnte und schaurige Stimme vernahm, und dem Dunkel vor den Augen begegnete, fühlte er den Schauer und die Erschöpfung des Todes. Er zog die Decke über den Kopf, rollte sich, indem er die knochigen Kniee ans Gesicht zog, in ein verknotetes Bündel zusammen, und als ob er in einem Augenblick den ganzen Weg rückwärts vom Alter zur Kindheit geschritten wäre, begann er leise und bitter zu weinen und das feuchte, verschwiegene, weiche Kissen zu bitten:

»Erbarmt euch meiner! Kommt doch zu mir, irgend jemand, wer's auch sei! Erbarmt euch meiner! O – o – o!«

Aber ihm blieb doch der große, alte Leib und die laute, grobe Stimme, und bald fühlte er durch die Tränen hindurch sich selbst wieder ganz, und seine ganze sonderbare Haltung, und er schwieg.

Und lange lag er schweigend, immer in derselben Pose, und starrte unter der Decke mit weit geöffneten Augen in das Dunkel.

Und am Morgen zog er wieder seinen Generalsmantel an; und noch zwei Tage spiegelte sich das schimmernde rote Futter in den Pfützen, hastete das majestätische Gespenst durch die Straßen – der Tote, der im Parademarsch sein Grab suchte.

Die Sache ging sehr einfach und rasch vor sich – wie wenn ein Bild in einem Guckkasten vorübergezogen wäre. An einer Straßenkreuzung, am Ausgang auf einen schmutzigen, kleinen Platz, auf dem an jedem Freitag ein Heumarkt abgehalten wurde, hielt eine unentschlossene Stimme den Gouverneur auf: »Exzellenz!«

»Ja?«

Er blieb stehen und wandte den Kopf um: Quer über die Straße, von einem einsamen Zaun her, mit den Füßen im Kot ausgleitend, kamen hastig zwei Menschen auf ihn zu, einer in hohen Stiefeln, der andere in Halbschuhen, ohne Galoschen mit aufgeschlagenen Beinkleidern. Von den durchnäßten Füßen fror es diesen wahrscheinlich, denn sein Gesicht war grünlich-bleich, und das blonde Haar löste sich gleichsam von der Haut ab. In der linken Hand hielt er ein zusammengefaltetes Papier, und die rechte hatte er tief in die Tasche gesteckt.

Und sogleich ward alles offenbar: ihm, daß der Tod gekommen war, und ihnen – daß er darum wußte.

»Entschuldigen Sie!« sagte der eine, und über sein Gesicht ging ein rasches Zucken.

»Eine Bittschrift? Um was handelt es sich?« fragte ebenso überflüssig, doch gewissermaßen verpflichtet, das Spiel mitzumachen, der Gouverneur. Doch streckte er seine Hand nicht nach der Bittschrift aus.

Jener hielt in der linken Hand immer noch das Blatt Papier, das niemanden täuschen konnte, und ohne es dem Gouverneur zu übergeben, zerrte er mit der rechten, vor Anstrengung die Brauen runzelnd, an dem im Taschenfutter verwickelten Revolver.

Der Gouverneur sah sich rasch von der Seite her um: der schmutzige, öde Platz mit den in den Kot getretenen Heuhalmen, der einsame Zaun – einerlei, es war zu spät. Er stieß einen Seufzer – einen kurzen, aber schaurig tiefen Seufzer aus und richtete sich auf – ohne Furcht, doch auch ohne Herausforderung; doch lag da irgendwo, vielleicht in den feinen Fältchen der großen, alten, fleischigen Nase, eine kaum merkbare, stille, ergebene Bitte um Schonung und eine Spur von Gram! Aber er selbst wußte nicht darum, und auch die beiden Menschen sahen es nicht. Er fand seinen Tod durch drei rasch aufeinander folgende Schüsse, die in ein einziges zusammenhängendes, lautes Knattern verschmolzen.

Drei Minuten später eilte ein Polizist herbei, ihm folgten die Geheimagenten und das Volk – wie wenn sie alle irgendwo in der Nähe, hinter einer Ecke, das Ende erwartet hätten. Und der Leichnam wurde bedeckt. Nach weiteren zehn Minuten kam bereits der Lazarettwagen mit dem roten Kreuz an – und in der ganzen Stadt flogen gleich geschleuderten Steinen die Fragen und Antworten durch die Luft:

»Ist er getötet?«

»Auf dem Fleck.«

»Wer war's? Hat man sie gefaßt?«

»Nein, sie sind entkommen. Unbekannt, wer. Drei Mann.«

Und den ganzen Tag sprachen sie erregt von der Ermordung, die einen tadelnd, die andern gutheißend und frohlockend. Aus allen Reden aber, welcher Art sie auch sein mochten, fühlte man daz leise Zittern einer großen Furcht heraus: etwas Gewaltiges, Alleszermalmendes schwebte gleich einem Cyklon über dem Leben, und hinter all seinen nichtigen Kleinigkeiten, seinen Samowaren, Betten und Weizenkuchen trat aus dem Nebel das drohende Bild des Gesetzes der Rache hervor.

Die kleine Gymnasiastin weinte.


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