Leonid Andrejew
Der Gouverneur
Leonid Andrejew

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IV.

Den Winter wie im Sommer stand der Gouverneur um sieben Uhr auf, nahm eine kalte Douche, trank Milch und machte darauf bei jedem Wetter einen zweistündigen Spaziergang. Bereits in jungen Jahren hatte er aufgehört zu rauchen, er trank fast nichts und war mit seinen sechsundfünfzig Jahren und seinem grauen Kopfe so gesund und frisch wie ein Jüngling. Seine Zähne waren kräftig, gleichmäßig, mit einem leichten gelben Anflug, wie bei einem alten Pferde, die Augen zwar ein wenig verschwollen, doch voll Glanz, und die große fleischige alte Nase hatte einen roten Eindruck von der Brille. Er trug kein Pincenez, sondern setzte, wenn er las oder schrieb, eine stark vergrößernde goldene Brille auf.

Wenn er auf dem Lande war, gab er sich viel mit Gartenarbeiten ab. Blumen oder sonstige Erzeugnisse der rein ästhetischen Gärtnerkunst liebte er nicht, dagegen hatte er sehr gute Warmhäuser und sogar eine Orangerie errichten lassen, in der er Pfirsiche zog. Seit dem Tage jenes Ereignisses hatte er nur ein einziges Mal in die Orangerie hineingeschaut und sich rasch wieder entfernt. – Es lag etwas so Liebes, Anheimelndes und darum besonders Schmerzliches in der warmen, feuchten Luft. Und einen großen Teil des Tages brachte er, wenn er nicht in die Stadt fuhr, in den Alleen des mächtigen, gegen fünfzehn Dessjatinen großen Parkes zu, die er mit geradem, festem Schritt durchmaß.

Nachdenken war nicht seine Sache. Zwar flossen ihm viele bisweilen sehr lebhafte und interessante Gedanken zu, doch verflochten sie sich nicht zu einem einzigen, festen und langen Faden, sondern irrten in seinem Kopfe wie Kühe ohne den Hirten umher. Und es kam vor, daß er ganze Stunden lang in tiefes, ernstes Nachdenken versunken daherschritt, ohne ringsum irgend etwas anderes zu sehen oder zu hören, und daß er sich dann nicht zu entsinnen vermochte, worüber er eigentlich nachgedacht hatte. Wohl brachen ab und zu unbestimmte Anzeichen einer tiefen, wichtigen, bisweilen qualvollen, bisweilen freudigen Seelenarbeit aus seinem Innersten hervor; worin diese Arbeit jedoch bestand, vermochte er nicht zu erkennen. Und nur seine wechselnde Stimmung, die bald düster und wider alles feindlich gestimmt, bald heiter, angenehm, sanft, gleichsam Liebkosung heischend war, ließ auf den Charakter dieser rätselhaften, geheimen Arbeit irgendwo in den unzugänglichen Tiefen seines Gehirns schließen. Nach dem Ereignis blieb seine Stimmung, welcher Art auch die klar zutage tretenden Gedanken sein mochten, unverändert trübe, rauh, hoffnungslos; und jedesmal, wenn er aus seinem tiefen Nachsinnen erwachte, hatte er die Empfindung, als hätte er in diesen Stunden eine unendlich lange und unendlich schwarze Nacht durchlebt. In seiner Jugend wäre er einst beinahe in einem raschströmenden, tiefen Fluß ertrunken; und noch lange darauf bewahrte er in seiner Seele das unbestimmte Bild der erstickenden Finsternis, der eigenen Ohnmacht und der gierig schlingenden, gleichsam in sich hineinsaugenden Tiefe. Und was er jetzt empfand, war durchaus dem ähnlich.

 

Zwei Tage nach der Abfahrt seines Sohnes, an einem sonnigen windstillen Morgen, ging er wieder so in der Allee auf und ab und sann nach. Das in der Nacht gefallene gelbe Laub war bereits von der Allee weggefegt, und von den Besenstrichen hoben sich deutlich die Spuren der großen Füße mit dem hohen Absatz und den breiten, viereckigen Sohlen ab – tiefeingepreßte Spuren, wie wenn zu dem Gewicht des Menschen sich noch das Gewicht seiner Gedanken gesellt und ihn in die Erde hineingedrückt hätte. Ab und zu blieb er stehen, dann ließ sich über seinem Haupte in der Wirrnis der sonnenbeschienenen Zweige das taktmäßige Hämmern des Spechtes vernehmen. Einmal, als er stehen blieb, lief ein Eichhörnchen über die Allee hin – wie ein roter, mit Rädchen versehener Knäuel glitt es von einem Baum auf den andern.

»Sie werden mich jedenfalls mit einem Revolver erschießen, es gibt jetzt sehr gute Revolver,« – dachte er. »Bomben verstehen sie in unserm Städtchen nicht zu machen, und Bomben sind überhaupt nur für solche Regierungsmänner, die sich verstecken. Aljoscha zum Beispiel – wenn der mal Gouverneur wird, wird man mit einer Bombe töten,« dachte Peter Iljitsch, und seine linke Schnurrbarthälfte hob sich zu einem leichten ironischen Lächeln, wiewohl die Augen nach wie vor düster und ernst blieben. »Ich werde mich nicht verstecken, nein – genug an dem, was ich schon getan habe!«

Er machte Halt und nahm einen Spinnwebfaden von seinem Interimsrocke.

»Schade nur, daß niemand von diesen meinen ehrenhaften und tapferen Gedanken erfahren wird. Alles andere wissen sie, das aber bleibt ihnen unbekannt. Wie den ersten besten Schuft werden sie mich totschlagen. Recht schade, aber es ist nichts dagegen zu machen. Ich werde auch nicht davon reden, wozu das Mitleid des Richters erregen? Es ist nicht ehrenhaft, das Mitleid des Richters anzurufen. Sein Amt ist ohnedies schwer – und nun kommen sie noch und winseln ihm etwas vor: ich bin ehrlich, ehrlich!«

Es war das erstemal, daß er da an einen Richter dachte, und er wunderte sich, wie er darauf kam, und zwar in einer Form, als ob diese Frage längst entschieden wäre. Als wenn er fest geschlafen und im Schlaf ihm irgend jemand alles Notwendige über den Richter in überzeugender Weise dargelegt hätte; dann war er erwacht, hatte den Traum und die Darlegungen vergessen und nur noch so viel behalten, daß es einen Richter gibt, einen durchaus gesetzlichen, mit umfassenden, drohenden Vollmachten bekleideten Richter. Und jetzt, nach momentanem Erstaunen, nahm er diesen unbekannten Richter ruhig und einfach hin, wie man einem guten alten Bekannten begegnet.

»Das kann nun Aljoscha nicht verstehen. Nach seiner Meinung ist alles das im Interesse der Staatsraison notwendig. Was für eine Staatsraison kann aber darin liegen, daß man auf Hungrige schießen läßt? Die Staatsraison verlangt, daß man die Hungrigen sättigt, und nicht, daß man auf sie schießt. Er ist noch jung und unerfahren, er läßt sich leicht hinreißen.«

Und plötzlich, bevor er noch diesen selbstgefälligen Gedanken zu Ende gedacht hatte, ward er sich bewußt, daß ja nicht Aljoscha, sondern er selbst hatte schießen lassen. Und es war, als ob die Luft in Glut geriete und ihm den Atem benähme, und er vernahm ein einziges, gewaltiges, ungeheuerlich schreckliches, absurdes: »Zu spät!«

Er wußte nicht, ob es nur ein Gedanke war oder ein Gefühl oder ob er es als Wortlaut ausgesprochen hatte; es war laut und von allen Seiten erdröhnt und rasch wie ein Donnerschlag über dem Haupte verklungen. Und dann traten lange Minuten der Verwirrung, hastiger, aufgelöster Flucht und schmerzhaften Aufeinanderprallens der Gedanken ein – und hierauf Todesstille, und beinahe Erholung.

Zwischen den Räumen erglänzten im Sonnenlicht die Fenster der Orangerie und das Dreieck der weißen Wand, von der die roten Blätter des wilden Weines sich wie Blutflecken abhoben; und der Gewohnheit nachgebend, schlug der Gouverneur den schmalen Fußpfad zwischen den bereits leeren Warmhäusern ein und betrat die Orangerie. Nur der Arbeiter Egor, ein alter Mann, war anwesend.

»Ist der Gärtner nicht da?«

»Nein, Ew. Exzellenz. Ist in die Stadt gefahren, nach Pfropfreisern – 's ist heut' Freitag!«

»Aha! Geht sonst alles gut?«

»Gott sei Dank!«

Die Glasfenster waren eben hochgerichtet worden, und die Sonnenstrahlen strömten frei in die Orangerie ein, die dumpfe, schwere Feuchtigkeit aus ihr verdrängend; und man spürte es, wie heiß und stark die Sonne war, wie mild dabei und gut. Der Gouverneur setzte sich, funkelte mit den Lichterchen seiner blanken Knöpfe die Sonne an, öffnete seinen Interimsrock und blickte mit Aufmerksamkeit auf Egor.

»Nun, wie geht's uns, Bruder Egor?«

Der Alte antwortete auf die freundliche, wenn auch unbestimmte Frage mit einem höflichen Lächeln. Er stand frei da, seine Hände waren von frischer Erde bedeckt, und er rieb sie leicht aneinander.

»Sag' mal, Egor, ich hörte da, daß man mich töten will. Wegen der Arbeiter damals, weißt du...«

Egor fuhr fort, höflich zu lächeln, hörte jedoch auf, sich die Hände zu reiben, versteckte sie auf dem Rücken und schwieg.

»Was meinst du also, Alter – wird man mich töten oder nicht. Kannst du lesen und schreiben? So sag' doch, was du darüber denkst, wir beiden Alten können ja offen drüber reden.«

Egor schüttelte den Kopf, wobei das taubengraue, krause Haar ihm über die Stirn fiel, blickte auf den Gouverneur und antwortete:

»Wer kann das wissen! 's ist schon möglich, Peter Iljitsch!«

»Und wer wird mich töten?«

»Na, das Volk. Die Gemeinde, wie man bei uns auf dem Dorfe sagt.«

»Und was meint der Gärtner?«

»Ich weiß es nicht, Peter Iljitsch, hab' nichts gehört.«

Beide seufzten auf.

»Es steht also schlecht mit uns, Alter? Setz' dich doch!«

Egor achtete nicht auf seine Aufforderung und schwieg.

»Und ich dachte, es sei recht so – zu schießen nämlich. Sie werfen Steine, sie schimpfen, fast hätten sie mich getroffen.«

»Aus Gram tun sie's. – Neulich wieder auf dem Markte, ein Betrunkener, ein Handwerksgeselle, oder so was, wer mag's wissen – weinte, weinte und nahm dann einen Stein auf und bauz! läßt er 'n durch die Luft fliegen. Aus lauter Gram tat er's, nicht anders.«

»Sie werden mich töten, und dann wird's ihnen selbst leid tun« – sagte der Gouverneur nachdenklich, indem er sich das Gesicht seines Sohnes Alexej Petrowitsch vorzustellen suchte.

»Leid wird's ihnen schon tun, das ist sicher. Und wie wird's ihnen leid tun: bittere Tränen werden sie weinen.«

Ein Strahl der Hoffnung blitzte auf:

»Warum töten sie mich denn also? Das ist doch töricht, Alter!«

Der Blick des Arbeiters verlor sich rasch ins unermeßlich Weite, umflorte sich mit einem Nebelschleier, verhärtete sich gleichsam. Und für einen Moment erschien er ganz wie aus Stein gemeißelt; die weichen Falten des abgetragenen Baumwollhemds, und das pelzartig weiche Haar, und diese Hände, von Erde beschmutzt und ganz wie lebend – alles das war wie eine Täuschung, von einem ungemein talentvollen Künstler ersonnen, der den harten Stein mit flaumigem, leichtem Gewebe bekleidet hatte. ...

»Wer kann das wissen!« antwortete Egor, ohne ihn anzusehen. – »Das Volk scheint's eben zu wünschen. Machen Sie sich keine Gedanken weiter, Exzellenz, was für unnützes Zeug wird nicht zusammengeschwatzt. Sie werden 'ne Zeit lang reden und reden, und dann werden sie von selbst vergessen.«

Der Hoffnungsstrahl erlosch. Es war nichts Neues oder besonders Kluges, was Egor da gesagt hatte; es lag jedoch in seinen Worten eine seltsame Überzeugtheit, wie in den Halbträumen, die den Gouverneur auf seinen langen, einsamen Spaziergängen heimsuchten. Die eine Phrase: »Das Volk wünscht es«, brachte klar und deutlich das zum Ausdruck, was Peter Iljitsch fühlte, und war ganz besonders überzeugend, unwiderleglich; aber vielleicht lag diese seltsame Überzeugtheit nicht sowohl in den Worten Egors, sondern in seinem Blick, in dem Gelock seiner taubengrauen Haare, in den breiten, spatenartigen, mit frischer Erde bedeckten Händen.

Und die Sonne schien.

»Nun, leb' wohl, Egor. Hast du Kinder?«

»Bleiben Sie gesund, Peter Iljitsch!«

Der Gouverneur knöpfte den Rock fest zu, zog die Schultern empor und holte einen Silberrubel aus der Tasche.

»Da, nimm Alter – kauf' dir irgendwas dafür!«

Egor hielt ihm die flache, brettartige Hand schräg hin, von der das Geldstück leicht, wie von einem Dache, herunterrollen konnte, und dankte.

»Sonderbare Menschen sind das doch,« dachte der Gouverneur, während er auf der von der Sonne in lichte und schattige Streifen zerschnittenen Allee daherschritt und selbst von ihr in helle und dunkle Stücke zerteilt wurde. »Sehr sonderbare Menschen: sie tragen keine Trauringe, und man weiß nie, ob sie verheiratet sind oder nicht. Übrigens, nein, sie tragen doch Ringe: aber silberne. Oder gar zinnerne. Wie seltsam: zinnerne Ringe! Solch ein Mensch heiratet und ist nicht imstande, sich für drei Rubel einen goldenen Ring zu kaufen. Welche Armut! Ich habe nicht hingesehn: die in dem Speicher hatten vermutlich gleichfalls zinnerne Ringe. Zinnerne mit einem ganz feinen Streifen rings herum, jetzt erinnere ich mich.«

Immer niedriger und niedriger kreisend, wie ein Habicht über einem Gebüsch, das er aufs Korn genommen, und die Kreise immer verengernd, schwebte der Gedanke in die Tiefe; die Sonne erlosch, die Allee verschwand – ein Specht hämmerte, ein Blatt schwebte herab, entschwand; und er selbst verschwand gleichsam in einem seiner peinvollen, quälenden Halbträume.

Ein Arbeiter, sein Gesicht ist jugendlich, schön, doch unter den Augen lagert in allen Vertiefungen und Fältchen schwarzer Metallstaub, der sich eingefressen hat, gleichsam den Schädel vorzeitig markierend; der Mund ist weit und grausig geöffnet – er schreit. Irgend etwas schreit er. Sein Hemd ist auf der Brust zerrissen, und er reißt es noch weiter auf, leicht, ohne Geräusch, wie weiches Papier, und entblößt die Brust. Die Brust ist weiß, und auch der Hals ist bis zur Hälfte weiß, und von da bis zum Gesicht ist er dunkel – wie wenn sein Rumpf dem aller andern Menschen gliche und nur ein anderer Kopf, den man irgendwo hergeholt, aufgesetzt wäre.

»Warum zerreißt du das Hemd? Es ist peinlich, deinen Körper anzusehn.«

Aber die nackte weiße Brust dringt blindlings auf ihn ein.

»Da nimm! da ist sie! Aber gib das Recht! Das Recht gib her!«

»Aber woher soll ich es denn nehmen? Wie sonderbar du bist.«

Eine Frau spricht.

»Die Kinder sind alle gestorben. Die Kinder sind alle gestorben. Die Kinder – die Kinder – die Kinder sind alle gestorben.«

»Darum ist es in eurer Gasse so einsam.«

»Die Kinder – die Kinder – die Kinder sind alle gestorben. Die Kinder...«

»Aber das ist doch unmöglich, daß ein Kind Hungers stirbt! Ein Kind, ein kleiner Mensch, der sich nicht selbst die Tür öffnen kann. Ihr liebt eure Kinder nicht. Wenn mein Kind Hunger litte, würde ich es satt machen. Ja, aber ihr tragt eben zinnerne Ringe.«

»Wir tragen eiserne Ringe. Unser Leib ist gefesselt, unsere Seele ist gefesselt. – Wir tragen eiserne Ringe.«

Auf der Hintertreppe, im Schatten, säubert das Stubenmädchen Maria Petrownas Kleid; die Fenster der Küche stehen offen, man sieht den Koch in seiner blinkend weißen Jacke. Es riecht nach Spülicht, es ist schmutzig.

»Wo bin ich denn da hingeraten!« sagt sich der Gouverneur verwundert. »Das ist ja die Küche. Woran dachte ich eigentlich. Ach ja: ich wollte nach der Uhr sehn, um zu wissen, ob's bald Frühstück gibt. Es ist noch früh, zehn Uhr. Aber es scheint ihnen unangenehm, daß ich hierher gekommen bin. Ich muß fortgehen!«

Und lange noch ging er in den Alleen auf und ab und dachte in einem fort nach. Und in der Art, wie er dachte, glich er einem Menschen, der an einer Furt einen breiten, unbekannten Strom überschreitet: jetzt geht ihm das Wasser bis an die Kniee, dann verschwindet er für eine ganze Weile unter der Oberfläche und taucht bleich und atemlos wieder empor. Er dachte an seinen Sohn Alexej Petrowitsch, versuchte an den Dienst, an die Geschäfte zu denken, aber worauf auch sein Denken sich lenkte, stets kehrte es unversehens wieder zu dem Ereignis zurück und begann darin zu wühlen wie in einer unerschöpflichen Erzgrube. Und es war sogar höchst seltsam – woran er auch früher, vor dem Unglück, gedacht haben mochte – alles erschien ihm daneben so überflüssig und nichtssagend, so ganz und gar ungeeignet, sein Denken anzureizen.

Das war vor etwa fünf Jahren, im zweiten Jahr seiner Gouverneurschaft, gewesen, daß er die Bauern von Sensiwejewo hatte prügeln lassen. Auch damals hatte er eine Anerkennung vom Minister erhalten, und eben seit jenem Vorfall hatte die rasche und glänzende Karriere von Alexej Petrowitsch begonnen, auf den man damals als auf den Sohn eines sehr energischen und umsichtigen Mannes aufmerksam geworden war. Er erinnerte sich – es war ja schon lange her – nur noch dunkel, daß die Bauern dem Gutsherrn gewaltsam irgend welche Getreidevorräte weggenommen hatten, und er war mit Militär und Polizei gekommen und hatte den Bauern das Getreide wieder abgenommen. Die Sache hatte damals nichts Schreckliches, nichts Bedrohliches an sich, sondern eher etwas Albern-Spaßiges. Die Soldaten schleppten die Kornsäcke weg, und die Bauern legten sich mit der Brust auf diese selben Säcke und wurden mit ihnen zugleich mitgezogen, unter dem Lachen und Scherzen der Polizisten und Soldaten, denen die Sache einen Heidenspaß machte. Dann schrieen sie auf, schlugen wild mit den Armen um sich und rannten wie blind gegen die Zäune, die Wände, die Soldaten an. Ein Bauer, der sich von dem Sacke losgerissen hatte, wühlte schweigend mit den zuckenden Händen im Grase, einen Stein suchend, den er werfen könnte. Auf eine Werst ringsum war nicht ein einziger Stein zu finden, er aber suchte in einem fort, bis auf einen Wink des Kreischefs einer der Polizisten ihn verächtlich gegen den vorgestreckten Hintern stieß, daß er auf alle Viere hinfiel und so, auf allen Vieren, irgendwohin kroch. Und sie alle, diese Bauern sowohl wie all die andern, schienen gleichsam aus Holz gemacht – so schwerfällig, fast knarrend waren sie in ihren Bewegungen; um einen Bauern mit dem Gesicht dahin zu drehen, wohin sich's gehörte, mußten ihn immer zwei Mann drehen. Und wenn er schon richtig stand, wußte er doch noch immer nicht, wohin er sehen sollte, und wenn er sich endlich zurechtgefunden hatte, konnte er sich nicht wieder losreißen, so daß ihn wieder zwei Mann mit Gewalt umdrehen mußten.

»Na, Onkel, herunter mit den Hosen! Wirst baden gehen!«

»Wie?« fragte der Bauer verdutzt, obschon die Sache ganz klar lag. Eine fremde Hand löste den einzigen Knopf, die Beinkleider fielen herab, und der magere Bauernhintere trat unverschämt ans Licht. Es wurde leicht geschlagen, nur um zu drohen, und die Stimmung war mehr spaßhaft. Beim Abmarsch stimmten die Soldaten ein munteres Lied an, und diejenigen von ihnen, die dem Karren mit den arretierten Bauern näher waren, blinzelten ihnen zu. Es war im Herbst, und die Wolken zogen windig über das schwarze Stoppelfeld. Und sie marschierten alle ab nach der Stadt, dem Lichte zu, das Dorf aber blieb nach wie vor Dorf, unter dem niedrigen Himmel, inmitten der dunklen zerwaschenen lehmigen Felder mit den kurzen, dürftigen Stoppeln.

»Die Kinder sind alle gestorben. Die Kinder – die Kinder sind alle gestorben. Die Kinder.«

Der Gong rief zum Frühstück. Die durchdringenden, heiteren Töne klangen hell durch den Park. Der Gouverneur wandte sich jäh zurück und blickte scharf nach der Uhr – es fehlten zehn Minuten an zwölf. Er steckte die Uhr ein und blieb stehen.

»Schändlich!« rief er laut und zornig, seinen Mund verziehend. »Schändlich! Ich fürchte beinahe, daß ich ein Schurke bin.«

Nach dem Frühstück erledigte er in seinem Kabinett die aus der Stadt angelangte Korrespondenz. Mürrisch und zerstreut, mit der Brille blinkernd, sortierte er die Kuverte, legte die einen zur Seite, schnitt die andern mit der Schere auf und überflog oberflächlich ihren Inhalt. Ein Brief in einem schmalen Kuvert aus billigem, dünnem Papier, über und über mit gelben Kopekenmarken beklebt, geriet ihm unter die Hand und wurde, gleich den andern, sorgfältig am Rande aufgeschnitten. Nachdem er das Kuvert zur Seite gelegt hatte, entfaltete er den dünnen von Tinte durchnäßten Briefbogen und las:

»Kindermörder!«

Immer weißer und weißer wurde sein Gesicht, bis es fast so weiß war wie sein Haar. Und die geweiteten Pupillen lasen durch die dicken, konvexen Brillengläser:

»Kindermörder!«

Die Buchstaben waren groß, schief und spitz und furchtbar schwarz; sie schwankten gleichsam auf dem rauhen, an Packleinwand erinnernden Papier und sprachen:

»Kindermörder!«

 


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