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Der Nachlass

Die Seidenfetzerln

Ich schrieb an das Modewarenhaus G.: »Seit einigen Tagen breitet meine heilige 13jährige Freundin mit den aschblonden Haaren, den hellgrauen Augen und den schwarzen Wimpern auf der automobilbestaubten Wiese acht bis zehn kleine, unscheinbare Seidenfleckchen vor mir aus, und sagte: ›Welches ist das schönste?! Nicht wahr, das graue mit den lila Fäden – – –.‹ Ich fragte sie, was diese Fleckchen zu bedeuten hätten, worauf sie erwiderte: ›Die sind schwer zu bekommen. Eine Freundin von mir hat eine Schwester, die ist in Wien in einem Schneidergeschäft bedienstet. Und da hat mir meine Freundin, weil sie mich gern hat, zehn Stück davon überlassen. Aber den andern Mädeln sagen wir nur, daß es Fetzerln sind, um die Tintenfedern abzutrocknen. Denn wenn sie wüßten, daß es für gar nichts ist und wir uns nur so damit freuen, möchten sie sich zu sehr kränken, daß sie nicht auch welche haben – – –.‹« Das Modewarenhaus G. schickte mir infolge dieser Bemerkung für meine 13jährige Freundin einen großen Karton mit den herrlichsten Seidenrestchen, Seidenfleckerln, besonders schöne japanische, indische. Abends auf der Wiese kamen zehn Schulmädchen zusammen, kauerten sich in einem Kreise, in dessen Mitte meine kleine, fanatisch verehrte Freundin, Schuhmachermeisterstochter, mit dem Karton gleichsam thronte und »Cercle« hielt. Sie hob ein jedes Seidenfleckerl hoch und zeigte es im Kreise herum den erstaunten, stummen, in Bewunderung versunkenen Mäderln. Das älteste Mäderl sagte: »Kriegt man von jedem Fetzerl so viel Stoff zu kaufen, daß man sich ein ganzes Kleiderl machen kann?« – »Was brauchst dös, dumme Gans, san die Fetzerln nit viel schöner?!?«, erwiderte meine 13jährige Heilige. Der Automobilstaub der Reichen hüllte Wiese und Ortsstraße in dicke, weiße Nebel ein, während die Wolken blutrote Zickzacklinien hatten von der untergehenden Sonne. Da schloß meine Freundin den Karton, sagte: »Schluß der Seidenfetzerlvorstellung für heute, meine Herrschaften – – –«, nahm den Karton auf ihr geliebtes aschblondes Haupt und sagte zu mir: »Heute werde ich gut schlafen und süß, süß träumen, aber net von Ihnen, sondern von Ihren wunderschönen Seidenfetzerln – – –!«

Ein Brief

Liebe Pepi Lussi, ich kann mich an Anna nicht brieflich wenden, denn als ich ihr einmal einen ganzen Pack Briefe gezeigt habe, die ich jede Nacht an sie geschrieben habe, sagte sie mir, sie werde diese Briefe nicht lesen, und so behielt ich alle diese Briefe, die eigentlich nichts enthielten als Sehnsucht, Trauer, Verzweiflung und eine überirdische Anhänglichkeit meiner armen, alten, gemarterten Seele an dieses Ideal von menschlicher Schönheit und Eigentümlichkeit zugleich, Dinge, die nur ein Dichterherz ganz verstehen kann!

Ich habe nun alle diese Briefe zerrissen, und niemand wird es nunmehr erfahren, wie sehr meine Seele leidet und sich abhärmt um dieses irrsinnig und allerzärtlichst verehrte Geschöpf!

Ich denke immer in tiefster Verzweiflung an die Jahre, die kommen werden, wo kein Peter Altenberg erschauern wird vor Seligkeit, wenn er den Blick dieser unbeschreiblich geliebten Augen, dieses geliebte blonde runde Haupt, diesen müden und dennoch so wild-elastischen Schritt und jede dieser vergötterten Bewegungen, diese laut tönende herrliche Stimme erleben wird! Möge Gott und unser Heiland dieses von mir fanatisch geehrte Geschöpf behüten vor allen miserablen Hundsföttern und Gaunern, schlechten Kerlen und Betrügern, die sich unter der Maske der Liebe an sie heranmachen werden! Möge eine leidensvolle Seele über ihr schweben, dieser Allerliebsten!!!

Amen – – –

Tanz

Gibt es eine moderne Tänzerin, die einfach und natürlich ihre ganze innere Beweglichkeit, ihre versteckte geheimnisvolle Persönlichkeit in Tanz umsetzen könnte?! Diese zwei vollkommen getrennten Welten: » Ich bin« und » ich tanze«. Das darf es eben nicht geben. Denn was ich bin, und nur das, was ich bin, das tanze ich auch, ganz von selbst! Da ich nicht »Chopin« bin, nie war und nie sein werde, so kann ich auch »Chopin« nie tanzen. Eine Liga von Frechlingen hat sich das auserlogen! Mit zwei noch so formvollendeten Armen und Beinen, einem süßen, anmutigen Lächeln ist nicht viel anzufangen, außer man hat seine eigene aparte außergewöhnliche Natur vom Schicksal schon mitbekommen. Toilette, Musik, alles beim Tanzen ein frecher Schwindel; ich sah Gazellen im Schönbrunner Parke so elegant-anmutig-selbstverständlich-besonders gehen, daß sich alle unsere modernen Tänzerinnen vor Scham verkriechen müßten! Statt dessen tanzen sie exotische Tänze, Frechheit! Aber über die Ringstraße können sie nicht einmal gehen, wegen Dehors und Dessous. Von Leichtigkeit keine Idee. Erdgebundene Sklavinnen ihrer eigenen Schwere, die sich mühselig bemühen, sich selbst zu überwinden, Kriecherinnen, keine Tänzerinnen! Und die Schar begeisterter krummer Rücken, begeisterter eingedrückter Brustkasten, die sie um sich herum haben, keine Seiden-Trikot-Seebad-Welt, sondern in schlecht gelüfteten Konzertsälen. Tanzen ist eine Gnade unverdienten merkwürdigen Schicksals wie Hugo-Wolf-Lieder! Habt ihr sie?! Nein! Beine habt ihr, Arme habt ihr und – – Bewunderer!

Weshalb

Weshalb dieser merkwürdige Haß der Menschen gegen alle jene, die in irgendeiner Sache »der Zeit vorausgelaufen sind«?! Erstens kommt ja die Zeit, wenn auch sehr schleichend-argwöhnisch, nach, zweitens braucht man sich ja um diese kecken Vorläufer überhaupt nicht zu kümmern!? Aber nein, man feindet sie an, weshalb, weil man sich seiner eigenen Gewöhnlichkeit, seiner Zurückgebliebenheit im Laufe der Lebensbegebenheiten schämt und sich dafür am anderen rächt, der rascher, richtiger gedacht hat!

Splitter

Taktvoll sind Frau K..., Fräulein W..., Frau A..., Frau Fr...! Wie beschämend, daß man in der Lage ist, einzelne zu erwähnen!

— — — — —

Wenn ich des Morgens erwache, erlebe ich lauter Wunder und Rätsel: daß ich noch bin, daß ich einen Waschtisch habe, Seife, daß der gestrige Tag wie ein zu Ende gespieltes merkwürdiges langes, oft langweiliges, ziemlich unverständliches Stück ohne rechten Abschluß gewesen ist, die unangenehme Spannung des neu anbrechenden Tages, der allzu lang werden dürfte und arm an reichen Erlebnissen, kurz, schon das Erwachen ist ein Mysterium für den, der eine richtig funktionierende mystische Seele mitbekommen hat!

— — — — —

Tue niemandem zufällig weh, sondern nur, wenn du es willst und mußt!

— — — — —

»Ich hoffe Sie recht bald wiederzusehen!«, heißt meistens, in die Sprache des Herzens übersetzt: »Gott sei Dank, daß du jetzt weggehst!«

Der Besuch

»Die Menschen, P. A., sind in bezug auf Ihre Lebensart, Ihre Anschauungsweise von Ihnen so grundverschieden, daß ein sogenannter freundschaftlicher Verkehr eigentlich mit Ihnen eine Unmöglichkeit ist!«

»Ja, das ist es allerdings! Denn die ›Komödie‹, die ich zu spielen gezwungen bin, reibt mich auf!«

»Und finden Sie niemanden, der zu Ihnen irgendwie paßt?!?«

»Nein, niemanden! Ich finde nur Idioten ihres eigenen Daseins

»Könnte man sich Ihnen nicht allmählich akkommodieren?!?«

» Ganz unmöglich, weil ich den infernalen Idiotismus jedes einzelnen in jeder Richtung zu genau durchschaue! Die Menschen leben ein vollkommen idiotisches leeres unnötiges, ihnen entgegengesetztes nichtiges und wertloses Leben! Worin sollte ich ihnen in ihren zahlreichen entsetzlich-blödsinnigen Irrtümern helfen?!? Von dem Idioten gar nicht noch zu sprechen, der sich für Pferderennen oder Markensammeln, oder eine bestimmte Frau interessiert und sogar Opfer bringt!?!«

»Ist uns also gar nicht zu helfen?!?«

»Nein, gar nicht! In eure eigenen vollkommen unnötigen Abgründe stürzt ihr stündlich ab, erretten könnte euch nur die einfache Erkenntnis eures eigenen wirklichen Seins, und gerade diese habt ihr gar nicht! Eitelkeit und frechster Ehrgeiz sind eure stupiden ewigen Beweggründe! Welche Operation soll man da vornehmen, um diese schrecklichen Stupiditäten aus euren Gehirnen zu entfernen?!? Eure Dummheit ist unausrottbar

Der Lebensabend

Jeder Mensch kann sich vor sich selbst und seinen zahlreichen Irrtümern (in welcher Sphäre, mein Gott, mein Teufel, gäbe es keine denn?!?) noch erretten, zumal in einem späteren Alter, wo es ihm endlich zum Bewußtsein kommt, daß er zeit seines unglückseligen Lebens direkt irre gegangen ist in fast jeglicher Beziehung! Aber »geistige« Erkenntnis (gnôthi seautón) gehört unbedingt dazu. Denn von selbst geht die sogenannte Lebensmaschinerie in tausend wertlose Trümmer!

Sich wiederherstellen ist alles, kein Arzt kann es, nur du selbst! Und dein Geistigstes in dir.

Welche Kunst, seine eigenen Bedürfnisse endlich klar zu erkennen?!?

Die meisten sind zu feig dazu, es auch nur zu wollen! Sie verkriechen sich vor ihrem besseren Selbst in ihnen, gerade wenn es reif wäre, sie endlich vor sich selbst und ihren feigen Labyrinthen zu erretten ins Freie ihres eigenen freieren Menschentums! So bricht dein Lebensabend plötzlich an, nutzlos tragisch eingeschrumpft liegen deine tausend unnötigen dummen Erfahrungen hinter dir, um dich vermodernd herum, und statt eines Goetheschen erhabenen Lächelns hast du nur das Grinsen deines eigenen Schafskopfes beibehalten, der du seit jeher warst!

Oktobertag

Man hörte auf allen Stockwerken nichtssagende bedeutungslose Gespräche der Bediensteten, die gar nichts ahnten von den Komplikationen des sogenannten reich bewegten Tageslebens. So eingesponnen sein in sich selbst, mit Teppichen und Vorhängen beschäftigt, und daß die Motten ja nicht überhandnehmen, und jedes böse Schicksal tragen als Unabwendbares, nicht gerade selbstverständlich freudig bewegt, aber noch weniger tragisch niedergeschlagen, eigentlich lauter ergebene Helden des Tagesdaseins. Wozu aufbegehren und mit wem, mein Gott?! Der müde Abend kommt ja doch, der unbewußt erlöst, entlastet. Was haben die anderen von ihren ewigen Ambitionen, die nur Enttäuschungen bergen, so oder so?!? Unsere »Draperien« sind uns wichtiger, und daß der Samt nicht allzu staubig werde. Was kümmert uns die angeblich bekümmerte Welt, wenn unsere Zimmer in anständiger Ordnung gehalten sind?!? Wir tun unsere Pflicht und denken nicht dabei; denken bei seinen Pflichterfüllungen, wie beschwerlich! Der Frühling kommt, der staubige Sommer kommt, der fade Herbst, der ewig währende Winter. Was kümmert es uns?! Die Zimmer sind in Ordnung, und wir haben gerade genug zu essen, wenn auch manchmal zu wenig. Diese Gespräche der reichen Gäste!? Ist es verlockend?! Ein Pferd hat gesiegt, ein Pferd ist niedergebrochen, wer trägt die Schuld, Unsinn!? Man hätte 500 Kronen verdienen, gewinnen, ergattern können, aber, siehe, man hat eben nicht. Man ist niedergebrochen. Ein anderer Idiot hat es erreicht. Sie wird es ihm abnehmen. Wir aber ordnen unsere zwölf Zimmer, und der Abend ist eine Erlösung von der Tagesmühe. Acht Stunden wohlverdienten Schlafes sind wichtiger als eure faden Geistigkeiten. Pflichtwesen sind wir ohne Ansprüche. Übrigens soll es neue wunderbare Mottenkugeln geben, die gar nicht schlecht riechen. Und die Teppichbürste »Bissel« ist ideal. Freilich gehört zu allem Liebe, von selbst geht nichts, wird nichts. Jede Sache muß uns erfreuen, auch wenn sie uns nichts angeht. Ohne Interesse kein Leben, keine Arbeit. Man schrumpft in sich selbst allmählich zusammen. Wer bei der Arbeit singt, ist ein Geretteter vor sich selbst. Das laue Wasser für die emaillierte braune Fußwanne, von anderen Dingen gar nicht zu reden, aber immerhin, es sind reelle, dem anderen, der anderen zugute kommende Beschäftigungen. Aber auf einen warten, der nicht kommt?! Nimm die dir zugewiesene Bürde dieses faden nichtssagenden Lebens auf dich und begehre ja nicht auf, zumal es dir nichts nützt, sondern nur schadet. Die wenigen Rosen, die man auf dein Grab legen wird, werden dich entschädigen!

Ein Bild

In meiner Kindheit die Sonnenaufgänge auf dem Schneeberg, Kaiserstein. In meinem Alter die Sonnenaufgänge hinter der Lagune, Lido. Beides blutrot, und leuchtender, dampfender Nebel. Dazwischen mein ganz kompliziertes Leben. Damals unwissend glücklich, jetzt wissend glücklich. Damals konnte es verlorengehen, jetzt nicht mehr. Das ist alles. Damals liebte ich meinen Hofmeister, meine Gouvernante, meine Mama. Jetzt liebe ich Frau R. R. Blutrot in dampfendem Nebel ging die Sonne auf, Schneeberg, Kaiserstein. Blutrot geht die Sonne unter, Lagune, Lido. Dazwischen liegt mein Leben!

Grüne Strümpfe

»Und weshalb gerade heute morgens diese grünen seidenen Strümpfe?«

»Weshalb?! Nun, weil ich sie habe! Sind sie nicht hübsch?!?«

»Ja, aber weshalb gerade heute, heute?!«

»Weshalb heute nicht! Ein Morgen wie ein andrer!«

»Nein, nicht ein Morgen wie ein andrer! Du weißt es genau, Kanaille!«

»Sie sind verrückt! Habe ich Ihnen Rechenschaft zu geben?! Nun also!«

Es kommt der, für den die grünen seidenen Strümpfe bestimmt waren.

Der bemerkt gar nichts.

Und dennoch so viel Verzweiflung, Haß, Demütigung und Liebe!?!

Ja, dennoch und immer dennoch!

Die Frau könnte es einem ersparen! Aber wo bliebe ihre Macht, wenn sie es einem ersparte!?!

Konversation

Es gibt notwendige unentrinnbare kleine winzige riesige Tragödien in unserem privaten Alltagsleben, Stunden leben sogar. Diese wollen wir nun mal gefälligst ausschalten aus der Berechnung unseres tragischen Geschickes im Tag und in der Stunde. Aber wie ist es mit dem schauerlichen uns aufgebürdeten Geschicke der eventuell entrinnbaren und ganz unnötigen Tragödien in unserem Tages-, unserem Stundendasein?! Alle »Taktlosigkeiten«, zum Beispiel »nicht genug Distanz halten«, » angeblich lustige, aber nur freche Anspielungen«, »absichtlich in Verlegenheit bringen wollen« und tausend ähnliche » Schwerverbrechen« an unseren Gott sei Dank überempfindlichen und deshalb schon höchstkultivierten Nerven, sind die düster-tragischen, nicht zu bannenden Gespenster, die die Nacht unserer Melancholien zu einer ewigen ausdehnen!? Mit welcher Geschicklichkeit quält ihr uns Wehrlose, weil Anständige, weil Gesittete, in verbrecherischer versteckt aggressiver Konversation stundenlang?!? Und ihr, Feiglingste, habt dabei noch die Ausrede, daß es nur leichte flüchtige Konversation gewesen wäre?!? Ja, ihr triumphiert über unsere adelig-anständige Wehrlosigkeit! Wir erbleichen, aber wir kämpfen nicht, wir werden krank, denn wir haben keine Waffen!

Italienreise

Wer die Naturliebe erst in Italien befriedigen kann, der hat keine! Auf Pinien, Orangenhaine, Zitronenwälder, Ölbäume wird gepfiffen! Heil der Zirbelkiefer im Hochwalde! Was die alten Gebäude, Paläste betrifft, vor deren gewesener Pracht die Menschheit bisher ihre Krokodilstränen geweint hat, so erkläre ich, daß es in Wirklichkeit nur eigentlich zwei Gebäude gibt, die, unter Gottes weiser genial-mystischer Führung erbaut, die Bewunderung erregen können durch ihre höchste Zweckmäßigkeit, also höchste Schönheit, den Bienenkorb und den Ameisenhügel! Was die Landschaft betrifft, so erkläre ich hiermit jeden für einen herzensrohen Schmock und Parvenü, das heißt »non parvenu«, der nicht zeitlebens mit der romantischen Pracht des Gmundener Sees, des Hallstätter-, des Lambach-, des Wolfgang-, des Atter-, des Grundl-, des Toplitzsees sein gutes gesundes Auskommen findet! Dem ganz Feinfühligen wird aber bereits die Vorderbrühl und Baden und das Höllental genügen! Vom Semmering gar nicht erst zu reden. Die alten, herrlichen, ewigen Gebäude dort zum Anstaunen sind: eine uralte Linde, eine alte Buche, ein alter Ahorn, eine windgemeißelte Fichte und Büsche in allen Farben! Pereat der Weltreisende mit kaltem Herzen, für warme Herzen ist die Welt bereits der Wiener Rathauspark!

Sanatorien

Vor allem begann man mir meine »heiligen Abführmittel« (Kurella, Süßholz) zu entziehen, diese Urquelle meiner Dichterkraft, meiner Elastizitäten, meiner fast pathologischen Lebendigkeiten. Ich wurde sogleich irrsinnig. Man gab mir Opium als Beruhigungsmittel, dieses schauerliche Entgegengesetzte von Kurella. Ich wurde dreifach irrsinnig. Ich bat, ich flehte, ich kniete weinend nieder um mein einziges Erlösungsmittel »Kurella«, vergeblich! Alle waren im Bunde gegen mich und mein Genesenkönnen! Eines Tages saß ich mit meinem Pfleger (?!?) auf einer Gartenbank. Da setzte sich ein zwölfjähriges Mädchen, das Porträt der Kaiserin Elisabeth von Österreich, zufällig auf dieselbe Gartenbank. Ich sagte: »Wem gehören Sie an?! Sie sind das Porträt der ermordeten Kaiserin Elisabeth von Österreich!« Ich erfuhr, daß sie das Töchterchen meines behandelnden Arztes sei. Bei der Abendvisite sagte ich zu ihm: »Ihr Töchterchen wird die schönste Frau dieser ganzen Erde werden!« Da erwiderte er sanftmütig: »Wie heißt doch gleich dieses Abführmittel, auf das Sie einen so fast pathologischen Wert für Ihre Gesundung legen?!?«

» Kurella

»Ich bringe es Ihnen morgen bei der Abendvisite. In welcher Dosis pflegten Sie es zu nehmen?!?«

Das Lachen, das Lächeln

Wie ich alle diese Menschen (?!?) hasse und verachte, die lachen und lächeln können! Die Todeskrankheit arbeitet so oder so seit Jahren heimtückisch geheimnisvoll (besonders für den behandelnden Arzt) an ihrem grauenhaften, Lebensenergien zerstörenden Ende, jeder legt ihnen etwas in den Weg, aber sie lachen, sie lächeln! Es täuscht sie in den Tod hinüber, statt unerbittlich ernst zu bleiben, wenn die anderen sich angeblich unterhalten!?! Dieses Lachen, dieses Lächeln gellt mir stets in die Ohren wie die schallende ganze Dummheit des Teufels im ganzen Menschen! Wozu lachen, wozu lächeln, wozu sich amüsieren wollen?!? Weshalb nicht gelassen dahinleben, kommender Dinge tragisch gewärtig?!?

Eine »lustige Gesellschaft« ist nur eine dumm »teuflische Gesellschaft«, die ihre ewigen Sündhaftigkeiten und schauerlichen Stupiditäten im eigenen » Kichern« begraben möchte! Lachet nicht, lächelt nicht, das Leben ist nicht dazu angetan, bleibet gelassen-würdevoll!

Reissnägel

»Lieber Herr Peter, können Sie mir nicht mit einigen Reißnägeln aus der Verlegenheit helfen?!?«

»Ich brauche selbst drei Reißnägel und kann mir leider keine verschaffen!«

»Wo bekommt man denn welche?!?«

»Nirgends. Rothschild hat, glaube ich, noch zehn. Aber er gibt sie in diesen schweren Zeiten nicht her!«

»Das sind also unsere Friedenstragödien, immer noch tausendmal besser als abgeschossene Arme und Beine. Sobald ich Reißnägel auftreiben kann, bekommen Sie welche. Früher wünschte man sich Schmuck und Seide, jetzt Reißnägel für Wandbilder! O Menschheit, vielleicht wirst du genügsam werden! Oder werden müssen

Krankenbesuch

Sie hatte das Bedürfnis, zu sehen, wie es ihm gehe. Gott, der Arme, Verlassene! Das heißt, sie hatte natürlich gar nicht das Bedürfnis, den Armen, Verlassenen zu sehen, sondern »von 12-2 habe ich wirklich gar nichts anderes zu tun als eventuell menschenfreundlich zu sein. Er empfing mich nicht, er war zu krank, Frechheit! Er bedurfte der Ruhe, wozu?! Wenn ich persönlich da bin?! Ich ließ meine Rosen vor seiner Türe.« Auch keine schlechte Romantik. Sie schrieb auf einen Zettel: »Ich war da!« Er dachte: »Also was ist es mit dem Sprung aufs Pflaster von meinem fünften Stocke?!?«

Sanatorium

Das Sanatorium hat gar keinen Wert, da kein einziger Arzt das wissenschaftlich-menschenfreundliche Interesse hat, den Individualfall eines besonderen Kranken gleichsam als eine »neue bisher unbekannte« Welt zu studieren und selbst daran erst zu lernen. Im Gegenteil, sogleich versucht er es heimtückisch-mechanisch, dich zu »subsumieren«, dich zu rubrizieren, und das Wort: »solche Fälle sind mir leider seit Jahren nur allzu bekannt«, rinnt ihm liebenswürdigst von den verbrecherischen Lippen! Ihm ist aber eben garnichts bekannt. Der Kranke ist ihm kein willkommenes Objekt, seinen Gesichtskreis (?!?) naturgemäß zu erweitern, sondern, im Gegenteil, der unglückselige Kranke muß das sein, was der bequeme Idiot von ihm seit jeher geglaubt hat! Äußerste Interesselosigkeit für den merkwürdigen komplizierten Individualfall ist fast seine eigentlichste wissenschaftliche Lebensdevise. »Jeder hält sich für besonders erkrankt, na, das wollen wir baldigst austreiben!« Die Beobachtung eines mehr oder weniger unverständlichen Falles müßte eine Art von besonderer Wissenschaft werden! Aber wird sie es?! Keineswegs.

An die Jungen

Weshalb, weshalb entfernt ihr euch ewig so krankhaft fast gern von der Pracht oder der einfachen Melancholie des gewöhnlich Irdischen?!?

Gibt es denn da um Gottes willen nicht genug zu schauen, zu lauschen, zu spüren, zu denken?! Tag und Nacht?! Welche schrecklich unnötigen Verstiegenheiten sind nun, ihr Jungen, eure angeblich neuen wertvolleren Welten geworden?!?

Ausgeburten eines überflüssigen Größenwahnes, um »Persönlichkeit« zu markieren, die man ja doch nicht besitzt?!? Diese Gedichte sind ja gar keine Gedichte, sondern Worte, leere, dürre, wenn auch scheinbar klangvolle Worte!

Die Seele, siehe, sei einfach, und ebenso der Geist! Aber ihr wollt irgendwohin hinauf, wohin ihr durchaus nicht hingehört! Das ist euer, nein, unser Unglück. Kehret zurück zu den romantischen Halmen der Bergwiese und lasset ab von der Philosophie des Nichterlebens und des Falschexistierens!

Der Tag, die Stunde bieten dem Dichterherzen genug an Leid und Freud;
wohin ihr aber flüchtet, ist weg von euren eigenen Nichtigkeiten und Leeren! Irgendwohin möchtet ihr, ja, aber wohin?!

Wen wollt ihr täuschen mit eurem schäbigen Wortgeklingel?!

Schämet euch, eine Welt, die sich vor Komplikationen nicht mehr auskennt,
noch zu komplizieren!

Und das nennt man: moderner Dichter, pfui?!

Der Glaube

Dieser verfluchte Glaube an die » Gutmütigkeit« der Menschen!? Wie alt bist du, um noch stets daran zu glauben, Verbrecher also an dir selbst, Irrsinniger, vor allem Dummrian! Wie alt warst du, als du noch daran glaubtest, also ein »unmündiges Kindchen« warst mit den allzu billigen Hoffnungen!? Dem unerbittlichen Dasein in sein starres ehernes Antlitz schauen und sich ihm unterwerfen auf Gnade und Ungnade! Es gibt keinen Kampf mit 1000 zerfleischenden, hungrigen, beutegierigen Wölfen. Es gibt nur ein geschicktes Sich-rechtzeitig-fügen! Aber diese Hoffnungsreichen, Kindlichen, Armen, die büßen müssen!? Das Leben des Erwachsenen ist eine ewige schreckliche Schlacht, keine gutmütige Verhandlung, bei der dir irgendein Profit winkt von der Gegenseite. Man besiegt dich, es sind so viele, und du bist nur einer. Willst du auf das »Glück des zufälligen Schicksals« bauen?! Das steht ganz nett in »Lesebüchern«. Im Leben selber steht es nicht. Gib rechtzeitig nach und bescheide dich, es dauert das Ganze sowieso nicht so lange. Du kannst nicht siegen gegen eine dich anfallende Herde von hungrigen, unerbittlichen Wölfen! Das ist unmöglich. Bescheide dich, füge dich in dein nun einmal aus tausend Gründen bestimmtes Lebensschicksal!

Sunt certi denique fines

Ich werde am 9. März 1919 60 Jahre alt, gehe ohne Hut, mit nackten, niemals nach dem Fußbade abgetrockneten Füßen in Holzsandalen, besitze weder Unterkleider noch Nachthemden, schlafe stets bei weitgeöffneten Fenstern, kurz, bin der abgehärtetste Organismus, den je ein von 19 bis 25 Jahren an schwersten Bronchialkatarrhen Erkrankter und von den Ärzten Aufgegebener gehabt hat! Vorgestern nacht, 1 Uhr, 19. Dezember, fiel ein volles Glas Wein auf mein Leintuch, und ich schlief in der eisigen Nässe ruhig weiter bei weitgeöffneten Fenstern. Des Morgens hatte ich meinen Bronchialkatarrh aus der Jugendzeit. Sunt certi denique fines!

Der Tod

Die Todesstunde naht dir
mit leichten, weichen, etwas zögernden Schritten,
als ließe sie dir absichtlich Zeit, noch einmal deiner Sünden Last zu rekapitulieren!

Sie war zu groß die Last, und
deshalb kein Vergeben,
trotz körperlicher Tadellosigkeit!

Alkohol und übertriebenste Schlafmittel trugen dich, idealen Leib, gleichsam in die Arme des in diesem Falle widerspenstigen Todes!

Den kerzengeraden Handstand unter Wasser konntest du noch machen, auf Stelzen rückwärts gehen, und dennoch stand bereits der Tod tief betrübt, schädelschüttelnd, hart an deiner Seite, Peter! Von deinen leiblichen, seitdem die Welt besteht nie vorhandenen Elastizitäten ließ er sich nicht düpieren, er blickte dir verzweifelnd in Gehirn und Rückenmark, schädelschüttelnd! Je elastischer mein tadelloser 60jähriger Leib, desto gelähmter Hirn und Rückenmark.

Der Tod sagte: »Weshalb hast du dich selbst allmählich zugrunde gerichtet, so daß ich gegen meinen Willen vor einem »lebenden Leichnam« zu stehen gezwungen bin, diesmal gegen meinen Wunsch und Willen!?!«

Ich erwiderte: »Es war mein Verhängnis, und du, Tod, bist unschuldig an dieser unentrinnbaren Katastrophe meines Daseins! Komme und entführe mich dorthin, wohin ich nunmehr gehöre für ewig!«

3. 8. 1918

Ich fühle mich vollkommen verlassen, vereinsamt, in die Ecke gestellt. Nicht als ob ich irgendwelche übertriebene, in bezug auf eine ziemlich mäßige Organisation übertriebene Ambitionen irgendwelcher Art jemals gehegt hätte, keineswegs. Aber das ganz gewöhnliche Leben des Tages und der Stunde hat mir Überempfindlichem nichts, nichts gehalten. War ich wertloser als die vielen anderen?! Nein, ich war wertvoller! Ich dachte Richtiges, empfand zu tief und wünschte zu helfen, selbstlos. Ich besaß Erfahrungen, leidvolle Erfahrungen, und wünschte es sehnlichst, fast pathologisch, daß die anderen davon profitierten! Aber es ging leider nicht, ein jeder ging seinen dumm-brutalen ungenialen Weg. Niemand folgte mir, obzwar ich gutmütig-ängstlich-liebevoll-eindringlich riet. Niemand wollte, konnte den richtigeren Weg beschreiten, sondern folgte seinem tragischen Schicksale. Weshalb bin ich vereinsamt, verlassen?! Niemand will »sein besseres Selbst erklimmen«, vielleicht nach meinem Tode, wenn ich endgültig ausgelöscht sein werde und man an meine »selbstlose Bemühung« glauben wird. Die »Materie« ist zu dumpf, träge, in sich beharrend, stumpf, entwicklungsunfähig, unelastisch, um sich vom »Geiste« und den lichten Neuerungen regenerieren zu lassen! Sie kriecht am Boden ihrer bleischweren Vorurteile, und wenn es zu spät ist zu tieferer Erkenntnis, ist es bereits zu spät. Für den Menschenfreund gibt es daher nur Qualen.

Jeder torkelt in seinen eigenen Abgrund. Der objektive Betrachter ist verzweifelt darüber, aber helfen, schützen, erretten kann er nicht. Er setzt sich nur in grellen Gegensatz und macht sich unbequem. Ein tragisches Schicksal, nirgends Hilfe bringen zu können. Manche, besonders Mädchen, horchen gespannt, erstaunt, interessiert auf. Aber das Leben des Tages und der bösen Stunde schwemmt alles wieder fort. Es gibt wenig »Heilige«, die ihr Leben von innen heraus radikal verbessern, verändern. An den meisten gleiten Kunst, Wissenschaft, eigene Erfahrung ab wie Öl an Wasser. Viele flüchten ins Kloster vor dem unenträtselbaren Leben, viele begehren vergeblich trotzig auf und erleiden ihre notwendige Niederlage.

8. 8. 1918

7 morgens. Gott sei Dank, es ist wenigstens feucht-kühl, eine Art unverdienter Gnade des Schicksals. Feucht-kühl, eine Art von Errettung von tausend Bedrückungen. Das Thermometer vor dem Fenster zeigt 12½ Grad an, meine Idealtemperatur. Es ist ein trüber, grauer Selbstmordtag ohne die notwendigen Konsequenzen. Die stupideste Hoffnung, es könnte jemals lichter, freundlicher, annehmbarer, erträglicher werden, ist noch nicht erdrosselt. Etwas Leben zeigt sich noch in dem Kadaver. Briefe der Anerkennung des letzten Buches (Vita ipsa) kommen, Briefe der Anerkennung für den, für die, die sie geschrieben, gedacht, empfunden haben! Aber nicht für mich. Ich leiste, was ich leisten kann und muß. Wenig, spärlich genug. Mein 23jähriges hübsches mir treu ergebenes Stubenmädchen leistet Dienste für ganz Fremde, von 6 morgens bis 11 abends. Niemals eine Anerkennung. Klaglos, wenn auch nicht heiter, verrichtet sie ihre alltäglichen Verpflichtungen. Niemand sagt zu ihr: »Heute war das Zimmer aber ganz besonders sorgfältig aufgeräumt, kein Stäubchen!« Automatisch-genial erfüllt sie ihre für ihre armen jungen Nerven gleichgültigen, ja vielleicht widerwilligen Verpflichtungen. Sie hat das Nachdenken über dieses »verfluchte« Dasein ausgeschaltet. Wie man das zuwege bringt?! Es ist fast die Kraft einer Genialität. »Sich still bescheiden« ist genial-religiös. Was wäre sie geworden in günstigeren Lebensverhältnissen?! Eine gelangweilte Hetäre. Wenn sie sich alle 14 Tage Sonntags zum Ausgang irgendwohin, hoffnungsfreudig, wäscht, frisiert, ankleidet, streift sie die Hüllen ab der adeligen bemitleidenswerten edlen süßen, ja sogar begehrenswerten Dulderin. Sie nimmt Fühlung mit der Welt, die keine ist. Ihre Hoffnungsfreudigkeit ist tragisch-trügerisch, eine leere, nichtige Betäubung. Wenn sie abends müde in ihr Betterl fällt, ist sie zu erschöpft, um über ihre zahlreichen Irrtümer und Enttäuschungen nachzudenken. Der Morgen findet sie wieder als aufmerksamstes Stubenmädchen. Die »Hüllen der angeblichen Freiheit« sind gefallen, niemand zahlt ihr etwas freiwillig, gutherzig oder sonstwie, sie muß sich alles streng-ernst verdienen. Welches Leben ist dein bequemeres?! Du wirst es mir nicht glauben, dein jetziges. Losgelöst von des Gedankens tragisch-hemmender Blässe, erfüllst du fast rosig-trällernd deine Pflicht. Ich sah dich alle 14 Tage wie eine »entthronte Königin« (warst du es denn nicht?!) und Dienstag bereits gutmütig-demütig-ergeben! – –

Allerheiligen 1918

Möge ich Lebensverzweifelter noch mein letztes Buch »Mein Lebensabend« zu meinem 60. Geburtstage, 9. März, erleben!!! Ich fühle mich bereits vollkommen lebensunfähig. Meinen 60. Geburtstag erleben und dahingehen! Möge Georg meine Sachen in guter Verwahrung halten!

2. 11. 1918

Mein letztes Buch noch erleben! Wozu?! Weshalb aber eigentlich nicht? Für die anderen, nicht für mich, denn ich kenne mich!

Die Menschen um mich herum sind vollkommen verständnislos, gleichsam eine ganz andere Rasse, die sich über ihre Nichtigkeiten betäuben will mit irgend etwas. Selbstmörder, die einen bequemeren Ausweg suchen. Ob er es aber ist?!? Die Menschen (?!?) um einen herum sind vollkommen dumme, verständnislose, böswillige Bestien, bereit, jedem sein Bestes in seinem Leben absichtlich zu vernichten oder zu bezweifeln!

Niemand schützt dich vor dir selbst, sondern im Gegenteile, er weidet sich sogar an deinem baldigen Untergange. Seine Ratschläge sind perfid und blöde, jedenfalls aus einer Welt, die nicht die deine ist und nicht sein kann, Gott sei Dank! Wozu also kämpfen und existieren?!? Weil man einfach nicht den Mut hat, sich aus dieser blöden, frechen, unanständigen, herzlosen, stupiden Welt herauszuschaffen! Diese ewigen, peinlichen, elenden, feigen Konzessionen von wirklichen Menschen an Untiere! So viele Fußtritte gibt es ja eben leider gar nicht, die nötig wären, das »Gesindel« von sich fernzuhalten! Gerade dort aber setzen sie sich mit Vorliebe an.

Ich hasse die Menschen, die überhaupt gar keine sind! Sie sprechen von Geld, von Weibern, und von Erreichtem, durch Ehrgeiz Ergattertem. Nie eine objektive Beobachtung. Immer »mein Speisezimmer, mein Salon, meine Tochter – – –«.

23. 12. 1918

Die Nacht. 1 Uhr vor dem Weihnachtsabend. Das Ende meines Dichter- und Menschenlebens.

Ein grauenvolles Verhängnis meines vollkommen pathologischen Gehirnes von Mamas und Papas Ungnaden aus! Solche Exzeptionen jeglicher Art dürfen eben keine Kinder in die Welt setzen, in denen sich dann naturgemäß der geistig-seelisch-körperliche Fluch des Andersseins als alle Millionen um einen herum sofort ins Unermeßliche, Tragischeste, weil Schuldloseste, steigert, und unüberbrückbare Abgründe sich überall irgendwo auftun, in allen Sphären, und dich irgendwie vernichten müssen!

Eltern haben heilige Verpflichtungen denen gegenüber, die sie in diese mittelalterlich-blöde, raffinierte Folterkammer »Leben« grundlos setzen. Was ahnten meine Eltern, diese Viertel- oder Achtelidealisten (Antisexualisten vor allem und fanatische Naturfreunde – Papa als Kaufmann jedesmal in sechs Wochen Ferien als wirklicher Holzknecht im selben echtesten Kostüme auf der Hochalm Lockerboden des Grafen »Hoyos«, von »der Welt« sich vollkommen genial = nie dagewesen abtrennend –) von dem von ihnen, dem unglückseligen Erstgeborenen, tadellos an Leib und Seele, und eben deshalb mitgeschenkten, mitverliehenen, unüberwindbaren Fluche des » Ganzidealismus«? Dieser fanatische Naturfreund, ewige Sucher nach Gottes Willen und Plänen, dieser ewig Enttäuschte und innerlich Betrogene mußte »Dichter« werden, das heißt an dieser Welt, an diesem Leben, an diesen Menschen schmählichst, unter unendlichen Qualen scheitern!!! Es war das Ungnadengeschenk pathologischer Eltern! Er suchte deshalb unwillkürlich, als Erbteil seiner Eltern, als Fluch, die Wahrheit, die Romantik, die innerste Begeisterung für Begeisterungs wertes! Wozu?! Ist das der Zweck eines nervenkranken, bettelarmen ohne Stütze Dahinwankenden, mühevoll sich Durchschleppenden?! Oh kranke Eltern eines kränkeren Sohnes, der dadurch allein den Leidensweg eines unerbittlichen Dichters zu gehen gezwungen war, aus unüberwindlichen innersten Gründen, aus verhängnisvollster, fatalster, dem Untergange zuführender, unentrinnbarer Bestimmung!? Begeisterung verzehrte alle seine wenigen Lebensenergien, die zu dem naturgemäßen »Kampf ums Dasein« hätten selbstverständlich verwendet werden müssen! So brach er etwas vorzeitig, unmittelbar vor dem 60. Geburtstage, 9. März 1919, in jeder Beziehung zusammen, ein »lebender Leichnam«, den man waschen mußte und die Krawatte binden und ein neues Taschentuch aus dem Wäschekasten geben. Und anderes. Noch fanden sich drei »heilige Verehrerinnen«, Johanna St. und Josefine Kirchoff und Lina Ertl, die ihm ihre heiligen Selbstlosigkeiten weihten. Aber auch sie waren naturgemäß Belastete, vom Leben durch Pflicht und Arbeit, und durften nicht in meiner heiligen Betreuung selbst zusammenbrechen. Und dennoch retteten sie noch das armselige flackernde Flämmchen dieses erlöschenden tief gemarterten Dichter- und Sünderlebens, soweit diese drei heiligen Frauen, moderne Heilige, es überhaupt konnten mit ihren sanften, selbstlosen Seelen.

Ein Sonntag (29. 12. 1918)

Da saßen sie denn alle um ihn herum, in dem kleinen, lieben Café mit den braungelben Tapeten, und wollten alle, alle gern helfen, und niemand hatte naturgemäß auch nur die allergeringste Ahnung, was ununterbrochen in diesem von übertriebensten Schlafmitteln (Paraldehyd) untergrabenen, zerstörten (lebender Leichnam!) Gehirn und Rückenmark – alle anderen Organe waren trotz der 60 Jahre tadellos gesund – vor sich ging an unscheinbaren Vernichtungen. Sie tranken Tee mit Himbeersaft, Schokolade, Kaffee, sie aßen Butterbrot, und einer aß sogar Schinken und Butterbrot. Niemand ahnte, was in dem Dichter zerstörend, vernichtend vorging, aber alle wollten naturgemäß auf die allerungeschickteste Weise diesem speziell ihnen für ihr eigenes Sein und Trachten, Hoffen und Verzweifeln, ja eigentlich für alles in ihrem ach so komplizierten und ihnen selbst mysteriösen Dasein merkwürdigen Organismus helfen, ja gerade ihn vor seinen eigenen Lebensabgründen gleichsam für ihr eigenes Leben erretten helfen! Vergeblich.

Er war zu tief hineingeraten in den Sumpf der Sündhaftigkeiten seiner Schlafmittel, und die Sorge seiner wenigen wirklichen Freunde glitt bereits an ihm ab wie Quecksilberkügelchen von einer Glasplatte!

Alle saßen tief besorgt um ihn herum in dem kleinen, lieben Café mit den braungelben Tapeten, tranken Tee mit Himbeersaft, Schokolade (1918!), Klein-Schwechater Doppelmalzbier usw. usw. usw., wollten helfen, helfen, helfen und hatten vor allem dennoch keine Ahnung, wie der Dichter bei lebendigem Leibe von innen heraus in seinen Wesentlichkeiten zerstört wurde! Es gibt keine Hilfe, keine Freundschaft, keine selbstloseste Ergebung, wenn das Gehirn alles renitent, aus eigener Krankhaftigkeit fast absichtlich scheinbar, versagt, was es noch erretten könnte! Alle also in gewissen Zeiträumen verlassen dich tief enttäuscht, und vereinsamt bist du gezwungen, deine letzten Qualen zu tragen, zu erleben! In deinen Lebens-, nein Todesabgrund wirst du niemanden mit hineinzerren, jeder, jede flüchten in letzter banger Stunde vor dir, Gezeichnetem, mehr können sie nicht leisten für dich, als sie geleistet haben! Lebe wohl, unglückseliger Dichter, der uns allen seine Seele schenkte und an sich selbst zugrunde ging!

Lebe wohl!


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