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Mein Lebensabend

Erinnerungen

Ich soll für ein großes Blatt meine » Memoiren« schreiben. Ja, sind denn nicht alle diese tausend Impressionen in meinen neun Büchern bereits meine »Memoiren?« Ach, Sie meinen zum Beispiel so:

Es waren einmal zwei gutsituierte hübsche Brüder, die einen Engroshandel mit kroatischer Bauernware hatten. Es war im Jahre 1857. Da begab es sich, daß die beiden eleganten Brüder in Wien auf einem »Eliteball« waren, wo zwei Schwestern ob ihrer Schönheit dem Erzherzog Karl Ludwig vorgestellt wurden. Um die Jüngere hielt nun der jüngere Bruder am nächsten Vormittag an. »Ja, mein lieber Herr, das wäre ja ganz prächtig, denn Sie sind wohlsituiert, und unsere Töchter besitzen nur ihre Schönheit. Aber vor Hermine muß Pauline, die ältere, Achtzehnjährige, verlobt sein!« Da ging der jüngere Bruder denn hin zu dem älteren Bruder und erzählte ihm diese Angelegenheit. Da sagte der ältere Bruder: »Ich darf deinem Glück nicht im Weg stehen, Pauline ist ebenso schön wie deine Hermine, ich werde heute noch mich mit ihr verloben!« Dieser ritterlichen Bruderliebe verdanke ich meine Anwesenheit auf Erden! Meine Mama hieß Pauline.

Matura

Interessiert es Sie, daß ich bei der »Matura« im Wiener »Akademischen Gymnasium« für meinen Aufsatz: »Inwiefern ist ›Iphigenie‹ von Goethe ein › deutsches‹ Drama?!« »ganz ungenügend« erhielt? Sie glauben doch hoffentlich nicht, daß ich heute, nach vierzig Jahren, nicht bei diesem Thema durchfiele! Die anderen, meine werten, eigentlich unwerten Kollegen, merkten sich einfach alles, was man ihnen so im Laufe der »Oktava« darüber beigebracht hatte! Ich aber hörte nie zu. Denn »Iphigenie« gefiel mir aufrichtig, aber » inwiefern« interessierte mich nicht. Nach einem halben Jahre mußte ich im »Theresianischen Gymnasium« die Prüfung wiederholen.

Das Thema des »Deutschen Aufsatzes« lautete diesmal: » Einfluß der Entdeckung Amerikas auf die Kultur Europas.« Ich schrieb, nach längerem Nachdenken, das gewichtige Wort: Erdäpfel!

Es ist merkwürdig, weshalb man an 18 bis 19jährige Gehirne Anforderungen stellt, noch dazu bei Prüfungsaufregung, die die 40jährigen unaufgeregten Gehirne auch nicht so ganz leisten könnten?!? Was Wunder, daß man unter diesen Umständen aus Verzweiflung zum Dichter wird?! Da braucht man Gott sei Dank nichts »Positives« zu wissen.

Die Kindheit

Als ich acht Jahre alt war und »Privatunterricht« genoß, sagte man meinen Eltern, es sei für meine »Entwicklung« notwendig, daß ich »öffentlich« unterrichtet werde! Man schickte mich daher in die »Herrmanns -Schule«, Schulerstraße. Ich verstand kein Wort von dem, was vorgetragen wurde. Nach acht Tagen war ich wieder »privat«. Überhaupt, wo ich auch öffentlich lernte zeit meines Lebens, ich verstand nie ein einziges Wort. Das war bei mir »pathologisch«. Es begann schon im Gymnasium. Ich hielt alles für chinesisch. Ebenso auf der »Universität«. Ich hielt vor allem alles für überflüssig und verzwickt. Ich wollte »das Leben direkt, nicht auf gelehrten Umwegen«! In Stuttgart in der Hof-Buchhandlung wollte ich in drei Monaten das theoretisch erlernen, was die »angestellten Kommis« in fünf Jahren erst nicht erlernen! Man sagte mir: »Die Praxis ergibt es!« Ich erlernte weder Theorie noch Praxis. Es war langweilig und geisttötend, obzwar man wenigstens mit »geistigen Werten« handelte. Ich floh von Stuttgart mit ausgeborgtem Geld und hielt es in »Reichenau bei Payerbach, Hotel Thalhof,« für fördernder. Da war herbstlicher Wald, feuchtes Moos, Bergnebel, des Brünnleins Plätschern bei Nacht. Ich vermißte »die Arbeit« gar nicht, mein Vater sagte, er wisse nicht, wohin ich steuere, aber es sei nicht seine Sache. Ich steuerte in die Almen des Schneebergs. Wohin steuern die andern? Pfui!

Der Hofmeister

Ich hatte einen Hofmeister, den ich fanatisch verehrte, den jetzigen Augenprofessor L.K. Meine um zwei Jahre jüngere Schwester Marie, also zehnjährig, hatte eine Schweizer Gouvernante, Amelie Leutzinger. Wir lebten infolgedessen drei Jahre lang ein wahres seelisches Paradiesleben und beneideten niemanden, denn wir waren zufrieden mit der ganzen Lebenskonstellation im Elternhaus. Plötzlich glaubte Mama zu erkennen, daß Hofmeister und Gouvernante sich nicht ganz gleichgültig seien. Obzwar meine Schwester und ich das schon längst als ein festigendes Band der gesamten Beziehungen im Elternhause nur mit Freuden begrüßten und konstatierten, war Mama, einer älteren und vorurteilsvolleren Generation entsprossen, anderer, vor allem skeptischerer Ansicht und sagte eines Tages ostentativ bei irgendeiner Gelegenheit zu meinem geliebten Hofmeister: »Sie sollen sich ausschließlich, ja ausschließlich auf die Freundschaft mit meinem Sohne konzentrieren, verstehen Sie mich?«

Ja, er verstand und kündigte.

Infolgedessen verweigerten meine Schwester und ich durch drei Tage die Nahrungsaufnahme. Am vierten Tag wurde die »Kündigung« seinerseits zurückgenommen, und Amelie Leutzinger ging freiwillig in die Schweiz zurück. Mein Vater sagte damals zu Mama: »Pauline, bitte, menge dich nicht mehr in so heikle Angelegenheiten unserer Kinder hinein!«

Mein Vater

Mein Vater war der überhaupt allergütigste Mensch, den es geben kann. Er war sogar den meisten ganz unverständlich, man kann sagen, mit den übrigen Sterblichen verglichen, hatte er eine Art von pathologischer und direkt aufreizender Gerechtigkeitsliebe. Er verteidigte zum Beispiel sein ganzes Personal, seine Dienstboten und ganz fremde Menschen gegen sogar jeglichen nur gesprächsweisen Angriff. Er sagte: »Bitte, lassen wir das. Sie wissen ja doch nicht das Genaueste darüber, also wozu?!« Mama sagte oft: »Papa, wir wissen schon, daß Victor Hugo dein Abgott ist, aber du bist monoton und langweilig mit deiner ewigen Gerechtigkeitsliebe, man meint es ja gar nicht so ernst, wenn man jemandem etwas Böses nachsagt, man will ja nur über das Einerlei hinüberkommen!«

Mein Vater wurde ganz verlegen bei solchen Ansichten, sagte nur ganz dezidiert: »Also gut, aber nicht in meiner Gegenwart!« Im Sommer lebte er, als »Holzknecht« verkleidet, in der Jagdhütte auf dem »Lakaboden«, Voralm des Schneebergs. Er stand um 4 Uhr auf und kochte Sterz und ging den Birkhahn betrachten in seinen Liebestänzen. Nie ging er mit dem Jäger. »Auf das schießen, pfui, so aristokratisch bin ich nicht, ich erfreue mich an ihrem schönen Leben

Einmal gab man ihm zwanzig Kronen, um Gepäck zum Baumgartnerhaus zu tragen. Man hielt ihn für einen »echten« Holzknecht, schönstes Geld seines ganzen Lebens! Mich hatte er besonders lieb, leider verstand er, wie viele viele andere, kein Wort in meinen »Skizzen«! Er sagte: »Dieser Victor Hugo! ›Les travailleurs de la mer‹, welche Phantasie, ›Les misérables‹, welche Spannung und Aufregung, ›1813‹, welche Historie, ›Han d'Islande‹, welche Katastrophe! Aber du, kaum fängt es an, ist es bereits zu Ende! Und um was dreht es sich?! Kein Mensch weiß es. Es tut mir leid, in das werde ich mich nie hineinleben! Wieviel verdienst du wenigstens mit diesen Sachen?!«

Er war der biederste, anspruchsloseste, beste, zarteste, gerechteste, unbewußt philosophischeste Mensch in einer Welt, die er nie verstand. Er zog sich daher auf seinen bequemen, rotsamtenen, von allen Seiten mit genialen Schrauben verstellbaren Lehnstuhl zurück, konzentrierte sein Glück auf »ausgesuchte Trabukos« und belästigte niemanden mit eigenen Angelegenheiten. Er war ein »Weiser« und ein »Heiliger«. Ich selbst hatte nie die konventionellen Sohnesempfindungen für ihn, aber ich wußte es stets, daß er ein »Weisester« und in dieser korrupten Welt ein »Heiliger« war. Er starb sanft ohne Krankheit in seinem 86. Lebensjahre.

Erste Liebe

Meine »erste Liebe« war Rosie Mischischek, gleichalterig mit mir, zwölf Jahre alt. Wir spielten täglich »Verstecken« auf den Stufen des Theseustempels im Volksgarten. Sonntags trug sie ein grünseidenes Kleid, geputzt mit schmalen schwarzen Samtbändern, nackte rundlich-eckige Schultern, offene Locken und war überhaupt vollkommen. Wenn sie sich einbildete, ein besonderes Versteck hinter Säulen gefunden zu haben, so übersah ich sie absichtlich, lief an ihr vorbei, auf die Gefahr hin, für einen Dummkopf gehalten zu werden!

Ihr Glück war mir eben damals alles.

Eines Abends hörte mich meine wunderschöne Mama in meinem Bette schluchzen und weinen.

»Was ist denn los?!«

»Rosie Mischischek hat mir beim Weggehen heute nicht die Hand gegeben!« Das sprach sich herum. Frau Mischischek machte ihrem Töchterchen sanfte Vorwürfe: »Einmal interessiert sich jemand ernstlich für dich, und du reichst ihm beim Weggehn vom Theseustempel nicht einmal dein Händchen?!«

Rosie hatte am nächsten Tag, obzwar es nur ein gewöhnlicher Wochentag war, das grüne seidene Kleid an mit den schmalen schwarzen Samtmaschen, nackte rundlich-eckige Schultern, offene Locken und ihr gewöhnliches süßes Wildkatzengesichterl.

»Du hast dich bei deiner Mama beklagt, daß ich dir gestern beim Weggehn nicht die Hand gegeben habe?! Da hast du sie heute zweimal, so, und für morgen gleich auch, wenn ich vergessen sollte, dummer Bub!«

Sie sah wunderbar erregt aus, eine kleine Furie, noch lieblicher, aparter als sonst. Sie sagte: »Mit dir spiele ich überhaupt nicht mehr ›Verstecken‹, du gehst absichtlich an mir vorüber, obwohl du mich ganz genau gesehen haben mußt! Glaubst du, daß das lustig ist für mich? Dummer Bub! Geh und tratsche es wieder!«

So endete meine »erste, zarteste, rücksichtsvollste Liebe« in meinem zwölften Lebensjahre. Alle späteren waren ebenso! Nein, ärger, kränkender.

Das Hauskonzert

Ich spielte meinem Vater zum Geburtstag (mein fanatisch geliebter Lehrer Rudolf Zöllner, derzeit zweite Violine im Hofopernorchester, nachmaliger beliebtester Bürgermeister von Baden bei Wien, begleitete am Klavier) »klassische Stücke« vor, von Gluck, Haydn, Bach, Händel, was weiß ich?! Ich hatte einen süßen wunderbaren Ton, einen edelmusikalischen Ausdruck, aber Technik Null, nein, nicht Null, überhaupt nicht. Mein geliebter Lehrer sagte über mich: »Ein Genie ohne Fähigkeiten! Gerade das, was dazugehört im Leben, fehlt ihm, schade, man wird ihn nie anerkennen! Obzwar er besser ist!« Mein idealer Vater, mein rührend idealer Vater, kaufte mir infolge dieses intimen Konzerts eine echte »Peter Guarnerius« für sechshundert Kronen, die gleichsam von selbst sang, jauchzte, weinte, wenn man auch nur die C-dur-Skala auf ihr spielte!

Eines Tages kam mein jüngerer Bruder Georg vom Gymnasium nach Hause, während ich gerade »Kreutzer-Übungen« zu bewältigen suchte. Er sagte gelassen: »Für deine Kratzerei hätte auch eine ›Marktgeige‹ um vierzig Kronen genügt!«

Infolge dieses kränkenden, durch nichts motivierten Ausspruches schlug ich ihm die Peter Guarnerius, 600 Kronen, auf seinen öden Gymnasiastenschädel. Leider zersprang nicht dieser, sondern die Geige. Bei Tisch sagte mein Vater: »Na, wenn er lieber auf einer Marktgeige weiterspielt! Ich habe es ihm gut gemeint! Georg, weshalb neckst du aber auch so einen exaltierten Burschen? Lasset ihn seinen Weg gehen, er wird ihn schon finden, hoffentlich! Er ist zwar mein Sohn, aber verantwortlich bin ich noch lange nicht

Der »Abgewiesene«

Es gibt tausend Gründe,
weshalb man dich abweist! Trotz deiner zarten Seele, deinem zarten Verständnis und sogar trotz deiner sozialen und ökonomischen Stellung!

Weißt du denn, was alles war, sich ereignet hat,
bevor du, innerlich erbebend, zum ersten Male sie erschaut hast als dein längst erträumtes Ideal?!?

Glaubst du, edler Törichtster, sie habe bis zu ihrem 19. Lebensjahre darauf gewartet, danach gleichsam hingestrebt unentwegt,
gerade dir zu begegnen am 12. Oktober 1915, abends ½8 Uhr, dort und dort?!

Willst du alles verschütten,
was sich aufgebaut hat
in ihrer tiefsten Seele seit ihrem,
sagen wir nur, 14. Lebensjahre?!

Weißt du, was sie in ihren geheimnisvollen jungen Märchen-Träumen sich erträumt hat?!

Kennst du die Hunde, die ihr das Köpfchen verdrehen wollten?!

Kennst du die Träumer, denen sie im Traum erschien?!

Kennst du das Auf und Ab, das Hin und Her ihres von dir zwar geliebten aber bisher nicht gekannten Lebens?!

Was bist du also außer Fassung,
daß sie dich, Glühenden, kalt abgewiesen hat?!?

Sei froh! Sie wird deinen tief traurigen Blick nie vergessen! Nie!

Und wenn sie ihn dennoch,
im Drang ihrer Ereignisse des mannigfaltigen Lebens einer süßen Begehrenswerten,
von allen Seiten stürmt man an sie nämlich naturgemäß heran,
vergessen sollte,
so wirst du, Tief-Trauriger, von diesem deinem vergessenen abgewiesenen Blicke
leben können,
falls du überhaupt seelisch lebensfähig bist!

Denn, siehe, was wirklich war, ganz tief drinnen, geht nicht verloren. Denn Gott selber schützt es dir in dir!

Splitter

De Amore

Der Freund des Geliebten ist für die Geliebte wie das Salz für die Speise. Jede noch so schmackhafte Speise wird überhaupt erst durch eine kleine Beimengung von Salz genießbar. Jede noch so nahrhafte Speise braucht einen Freund, pardon, ein Salz!

— — — — —

Die Ordnung

– – Wollt Ihr mich täuschen, mich,
mit eurer Ordnung, eurer scheinbaren, fadenscheinigen, Leben hemmenden Ordnung eurer Unordnungen, die sich nur versteckt halten?!

Der Vogel Strauß vergräbt seinen dummen Kopf im Sande
und merkt nicht, daß die geschickte Flinte auf sein dummes Herz gerichtet ist!

Die Meinung

In der »Gesellschaft« hält man es für sehr »anregend«, die verschiedenen Ansichten und Meinungsunterschiede über dasselbe Thema zu hören! Ich halte es für anregender, wenn einer die richtige Meinung darüber sagt und die andern lauschen!

Der Naturfreund

Der Ski-Fahrer hat eine solche Angst davor, den einzelnen Baum und den melancholisch-düsteren Bergwald bewundern zu sollen, daß er es vorzieht, an ihm pfeilgeschwind vorüberzusausen, zumal man ihn doch für einen »Naturfreund« halten wird, denn mitten drin hat man ihn ja gesehen!

Im Gasthaus

»Entschuldigen, mein Herr, ich sehe Sie Tag für Tag diese großen Bohnen in Speck gekocht essen, nur dieses eine Gericht. Es ist ja sehr lecker bereitet. Aber täglich und nur?! Mundet es Ihnen denn?!« »Nein, es › gehirnt‹ mir.«

Ideal-Kompliment

»Mein lieber Peter, alles kann man Ihnen nachsagen, aber weitschweifig sind Sie nicht

Die Dachdecker

Sie sind zwar nicht »eingerückt«, aber sie sind »eingerückt« ihr ganzes Leben lang, auch im stillsten, gesichertsten Frieden, sie arbeiten an den schadhaften Dächern, Dachrinnen, machen von morgens bis abends unverständliche Akrobaten-Kunststücke, schwindelerregende für den Zuschauer, der vom Gegenüber-Fenster aus nichts zahlt, sondern nur billige Weisheiten von sich gibt, wie: »Wie kann man sich so ein gefährliches Gewerbe aussuchen? Schrecklich!« Sie werden mich fragen, weshalb sie denn nicht mit »Sicherheitsgürteln« arbeiten?! Weil Menschen, die vom fünfzehnten Lebensjahr bis zum sechzigsten auf schadhaften Dachrinnen spazieren gehen, um Geld zu verdienen, Fatalisten werden und sich längst mit dem einfachen Gedanken vertraut gemacht haben, daß das ganze Leben überhaupt in jeder Beziehung und überall nur an einem reißbaren Faden hänge! An welchem, das ist doch wirklich schon ganz gleichgültig. Es gibt Schriftsteller, die bei dieser Gelegenheit die Poesie, die getönte Farbenpracht eines alten Daches beschreiben würden. Mir sei es ferne, denn ich sehe keine. Ich rief den Dachdeckern hinüber: »Wieviel verdienen Sie?!«, da ich die Absicht hatte, sie zu beneiden, nicht sentimental zu bedauern.

»Die Stunde eine Krone, also täglich neun Kronen! Sie, Herr Neugierig, zahln S' fünf Liter Bier: Sie gehn da bequem in Ihrem Kabinett herum und saufen auch!«

»Ja, verdiene ich stündlich eine Krone? Ich bin Schriftsteller!«

»No, was haben S' Ihnen aber auch so an dalkerten Beruf ausgewählt? Freilich, riskieren tut man nichts dabei!«

Der Auerhahn

Die Jagd-Leidenschaft ist der größte, der schrecklichste, der unerklärlichste Irrsinn aller zahlreichen menschlichen Irrsinne! Würde es dir passen, Jäger, wenn an deinem Hochzeits-Morgen eine »höhere Macht« dir auflauerte mit einem Gewehre in einem Verstecke und gerade in dem Augenblicke, da du »Glück« hast bei deiner »Henne«, pardon, Frau, dich niederknallen würde?! Was hast du davon, daß die Philosophen, die alles verstehen, das heißt nichts verstehen, sagen, es sei der »schönste« Tod?! Hoffentlich wirst du dieses Urteil nicht unterschreiben, sondern lieber gerade in diesem Momente etwas länger noch leben wollen!

Ich habe selbst in Reichenau, Schneeberg-Wäldern, Auerhahn- und Birkhahn-Balzung oft und oft belauscht, bewundert. Ich war zwar erstaunt, daß man um Frauen, pardon, Hennen gar so leidenschaftlich »balzen« könne, aber der Gedanke, den wahrscheinlich irrsinnig gewordenen Hahn gerade jetzt, bevor er sein Ziel ( haste Ziel!) erreicht hat, niederzuknallen, lag mir stets ferne. Wie kann man jemanden mitten in seiner Lieblingsbeschäftigung aus der Welt schaffen?! Man warte doch wenigstens, bis er » fertig« ist! Da hat er ja seiner eigenen falschen Ansicht nach dann wirklich nichts mehr zu verlieren vom übrigen Leben! Und kann ruhig sterben!

Zweiter Besuchstag

Sie kommt – – sie kommt nicht – – sie kommt – – sie kommt nicht – – sie kommt.

Es ist Mittag. Um Mittag soll sie kommen.

Festliche Beleuchtung des äußeren Schauplatzes: ein grauer Oktobertag schimmert durch die braunen Ajour-Vorhänge.

Ich höre den Aufzug rauschen (unserer rauscht ein wenig, wie ferner Sturmwind in Baumeswipfeln) –

Sie kommt. Es ist ein Dienstmann für die Dame nebenan.

Sie kommt nicht.

Ich ordne die braunen Disteln in den blauen Vasen. Mein Zimmerchen ist nämlich in Braun und Blau gehalten.

Beim ersten Besuche sagte sie: »Wahrscheinlich Ihre Lieblingsfarben?! Meine sind Erbsengrün und Taubengrau!«

Ich erwiderte: »Wenn meine nicht Blau und Braun wären, so wählte ich Taubengrau und Erbsengrün!«

Der Aufzug rauscht. Er bleibt im 3. Stock stehen.

Es ist ein Uhr.

Sie kommt – – sie kommt nicht – – sie kommt nicht – – sie kommt – – nicht.

Der 20. April

Ich habe blühende Fichtenzweige in meinem Zimmer, die »Kätzchen« daran blühen gelb bis himbeerfarbig.

Wenn man sie rüttelt, fliegt ein gelber Staub ins Zimmer.

Mein Stubenmädchen sagte: »Der gelbe Staub von den Fichten (sie sagte: von die Fichten, aber es ist undeutsch) hat uns noch gefehlt! Haben wir nicht genug an dem grauen von der Straße?!«

Ich erwiderte, es sei das, wodurch der Wald sich vermehre!

»In Ihrem Zimmer?! Das fehlt mir noch, daß ich an ganzen Wald zu reinigen hab'!«

»Aber es wird ja nichts daraus bei mir!«

»Bei Ihnen wird, mir scheint, aus gar nichts etwas draus!«

Religion

»Christliche Demut und Ergebenheit« ist durch nichts hienieden zu erzwingen; das ist eine zufällige Angelegenheit der von den Eltern und Urgroßeltern mitbekommenen zufällig genialen Nerven- Kräfte! In diesen Dingen gibt es keine »Philosophie«, nicht einmal eine » Anständigkeit«! Ob ich lieber mein Butterbrot einem noch Hungrigeren überlasse als ich es bin, ist » Schicksal meiner Nervenkraft«, das heißt ganz einfach, ob es mich mehr sättigt, daß er es ißt als ich! Über diese Art von » echtestem Christentum« darf man ja eigentlich naturgemäß gar nicht öffentlich sprechen oder schreiben, da sich ja jeder dritte, jede erste, empfindlichst getroffen fühlen würden, und vor allem verletzt, beleidigt! » Echtes Christentum« heißt, das Geschäft, das einzige richtige hienieden, zu machen, daß, einem anderen einen Lebens-Dienst zu erweisen, für ihn glückseliger, wertvoller ist, als ihn sich selbst zu erweisen! Ich beneide niemanden um seinen » scheinbar richtig kalkulierten Egoismus«. Er ist » falsch kalkuliert«.

Die Buchführung über fremde Lebens-Schicksale: Peter Altenberg, Wien I, Grabenhotel.

Wer in »seelischen Dingen« falsch kalkuliert, an dem muß es tragisch irgendwie, irgend einmal ausgehen! Der Heiland ist nicht umsonst für die Menschheit am Kreuze, leise ächzend, gestorben, sondern Er wußte, wofür Er zugrunde ging! Wehe den Menschen, die ihr eigenes Wohlergehen für wichtiger halten als das der Million Enterbter, Ausgeschlossener! Essìtai Hémãr, der Tag, das Tagen wird anbrechen, wo wir » Enterbten« die einzige Führung übernehmen!!! Möge es baldigst »Tag werden« in der düsteren Nacht der heutigen angeblichen Menschheit!

Der Krieg

Ein Krieg ist keine unentrinnbare organische, naturgemäße Sache, sondern die Irreleitung von Seiten absichtlich Irregeleiteter, die »im Trüben zu fischen hoffen«. Nie kann Waffengewalt entscheiden, erzwingen, sondern nur der allgemeine Geist der Gemeinschaft, und nur wenigen Genies ist es unter besonders günstig-ungünstigen Umständen gelungen, den natürlichen Weg der Menschheit zu verlegen scheinbar. Dieser Krieg hat genial bewiesen, daß es überhaupt keine sogenannten Waffentat-Genialitäten gibt, sondern nur merkwürdige Zufälle, und daß die arme Menschheit ihre Wege unter jeder Bedingung schließlich wandeln müsse zu ihrem Frieden! Unterseeboot-Spielereien, Zeppeline, Größenwahn, momentane Teil-Erfolge sind Kinderstuben-Ereignisse einer vollkommen unreifen Menschheit, die ihre eigenen organischen Bedürfnisse noch nicht annähernd erfaßt hat! Alles das muß sich einst blutig rächen, wenn nicht ein junger Gütiger die komplizierte Weltlage der darbenden Menschheit rechtzeitig erfaßt! Die Menschen wollen naturgemäß Frieden und friedevoll leben, und die »Macht« ist ein Irrsinn, dem sich leider die armseligen Völker stets unterwerfen, eine Art von absolutem Größenwahn. Jeder will leben so gut es geht, aber die »Macht« hat damit gar nichts zu schaffen! Das sind Irrsinne absichtlich Irregeleiteter, denen Millionen unglückseliger Schafherden nachblöken! Infolgedessen muß das Debakel, der Zusammenbruch kommen, unaufhaltsam. Größenwahn ist die schauerliche Krankheit der menschlichen Gehirne, von der nur der einfache Bergarbeiter befreit, erlöst ist! Lasset doch die arme Menschheit ihre friedevollen naturgemäßen Wege schreiten und verhindert die größenwahnsinnigen zufälligen Machthaber, als Zerstörer aufzutreten! Niemandem hat es noch je genützt, nur der ruhige Geist der Gesamt-Menschheit will seinen endgültigen Frieden! Wer sich dem naturgemäßen Laufe der Ereignisse gewaltsam entgegenstemmt, begeht ein Verbrechen an der ganzen Menschheit. Wehe, wenn ihr Irregeleiteten das nicht vorzeitig einseht! Alle wollen in Frieden leben. Das allein ist unser Sieg! Die Macht des philosophischen Geistes zersplittert die giftigen Chemikalien, und die arme Menschheit will zu ihrem Frieden kommen, bisher irregeleitet von Größenwahnsinnigen und Toren. Friede sei auf Erden, und die Genialitäten von Unterseebooten, Zeppelinen, Menschheits-Unterdrückungen sind Größenwahne irregeführter Nicht-Gehirne! Die kurze, knappe Zeit, die zu leben gegönnt ist, will man verhältnismäßig friedevoll leben, und »Macht« ist ein Irrsinn, dem sich die unglückselige Herde ewig unterwirft! Worin bestünde der Friede, wenn nicht im Frieden?! Jeder wandle geruhig seine Wege, die das Schicksal ihm zugewiesen hat! In Tyrannos! Der Hirte bläst die Flöte, und die Herde grast, was abzugrasen ist! Unterseeboote zerstören nicht den Gang der Dinge! Dichter träumen falsch und billig, aber die Welt wacht, leidet und will erlöst werden aus geistiger Kraft. Amen. Nur aus dieser! Waffengeklirre der Gehirne, aber keine Stinkbomben in unglückseligen Arsenalen!

Gmunden

Wann ich sterbe, ist mir im Gegensatz zu den meisten Menschen, die wirklich gar nicht wissen, wozu sie leben, ganz gleichgültig. Denn einmal, irgend einmal muß es ja doch sein, nicht?! Nimm an, daß dieses »morgen« schon heute ist. Ein Aufschub aber ist kein Gewinn. Und dennoch möchte ich noch einmal Gmunden im Vorfrühling erschauen und im Spätherbst, kurz, bevor die Menschen kommen, die nichts erschauen! Die, die immer da sind, also die Einheimischen, besitzen nicht die Gnade des Schicksals, dem Schicksale zu danken, daß sie immer da sind. Sie halten es für selbstverständlich. Die, die für Wochen kommen in Sommers vorgeschriebener Zeit, betrachten es auch fast als selbstverständlich, daß sie da sind. Ich aber betrachte es als ein » Märchen meines sonst ziemlich unmärchenhaften Lebens«, daß es mir nach 23 Sommern noch immer gegönnt ist, dieses geliebten Sees bewaldete Ufer mit meinen Augen tief-freudig zu genießen! Die Bretter, die Kieselsteine, wo man landet, liebe ich und jedes Strauches unscheinbares Sein. Und die Bänke, die seit Jahren sich nicht verändert haben, und Wälder, die man sieht und rauschen hört und nie betritt. Solange ich bin und sehen und empfinden kann, habe ich die Möglichkeit, das zu erleben! Wenn ich nicht mehr bin, so weiß ich nicht genau, ob andere meinen allergeliebtesten See und seine lieben Ufer geradeso herrlich finden werden und geradeso Gott danken werden, daß sie ihn sehen dürfen!? Und besonders im Vorfrühling, im Spätherbst, wenn die »Gäste« sich verzogen haben. In Sommers Prächten mag er allen gehören, er ist dazu da.

Aber vorher und nachher, da gehört er uns, uns, die wir ihn anders lieb haben als die anderen. Anders?! Ja, anders! Das versteht nur der, der es versteht.

Die Seele

Seele des Menschen,
du kannst nur durch Leid wachsen,
dich vertiefen, stark werden, gedeihen.

Weshalb sträubst du dich also gegen dein Leid, das dir nur Segen bringt und Menschentum?!

Betrachte doch einmal genau die Seelen, die ohne Leid sind! Ausgedörrt sind sie, ohne Tränen -Tau!

Hunger tut weh, aber »Sattsein« tut vielleicht noch weher, deinem Menschentum nämlich in dir!

Saget mir ja nichts vom gesunden und wichtigen »Erhalten der Kräfte, die man hat«.

Nein, Stoff- wechseln, auf daß durch Gnade deines Schicksals
du aus deinen engen grauen moderigen Hüllen
endlich beweglich in die lichte Wahrheit fliegest!

Diogenes kann bleiben wie er ist, und Sokrates.

Aber ihr anderen, Millionen, sputet euch doch
aus euren Lüge-Fetzen-Hüllen
zur wärmenden Sonne der Wahrhaftigkeiten!

Bleibt ihr am Wege dabei kraftlos liegen, ist's immer noch
bei eurer schamlos-konservativen Trägheit eine Art von Sieg!

Stunden der schlaflosen Nacht

Nun richtig, du hast dein » heiliges Schlafmittel« zur Benützung, Paraldehyd 20 Gramm, du könntest dir sogleich, blitzschnell, Schlaf, Vergessen für 11 Stunden verschaffen. Aber, eben weil du es kannst, willst du erfahren, wie es ist, wenn du schlaflos bleibst. Die Fenster sind weit offen, und die Nachtluft ist angenehm, staubfrei ...

So mancher jedoch glaubt, man müsse bei »Goldman und Salatsch« ausstaffiert werden, bei »Wundderer« seine »Dessous« beziehen und bei »Helene von Zimmerauer« oder »Franz Löwy« seine Photographien; alles dieses erscheint in schlaflosen Nachtstunden unnötig. Das Leben erscheint dir, da du das »Paraldehyd« nicht rechtzeitig nimmst, als eine lächerliche Aufgeblasenheit, und das Wort »Exzellenz« macht dich nicht mehr erschauern. Du erhältst den Mut, richtig, logisch, folgerichtig zu denken, du verachtest deine Geliebte oder bist wenigstens nicht mehr eifersüchtig, du hältst einen guten Wolle-Mantel für ebenso wärmend wie einen Pelz, und bewunderst keine Dame, die einen ganzen Paradiesvogel auf ihrem Hute befestigt hat. Paradiesvögel sind kostbar schön lebend in Tiergärten. Wenn du aber »schlaflos« bist, erscheinen dir als »Gespenster« alle lächerlichen Eitelkeiten, Borniertheiten, Vorurteile dieser schamlos frechen Welt! Wenn du schläfst, überschläfst du es. Aber wenn du, statt zu schlafen, wachst, dann erwachst du! Nimm also lieber doch rechtzeitig Paraldehyd, 20 Gramm, 8 Uhr abends, auf daß du um 6 Uhr morgens für die Blödsinne dieses Daseins ausgeschlafen und gewappnet bist!

Gutmütigkeit

Alle Menschen sind gutmütig, ich meine damit, gutmütiger als ich, denn so beurteilt man alles, von sich aus. Ich könnte demnach auch sagen: sie sind dümmer, beschränkter. Wie kann man denn gutmütig sein, wenn man genügend intelligent ist?! Wie kann man Dummheiten, die ringsum geschehen und gar nicht geschehen müßten, verzeihen, übersehen, als selbstverständlich betrachten?! Ist das Gutmütigkeit?! Nein, es ist Dummheit oder Bequemlichkeit oder Mangel an Interesse, also Egoismus! Gutmütigkeit ist also entweder Stupidität oder Gleichgültigkeit gegen fremde Ereignisse, also frecher Egoismus. Der geistvolle Mensch ist nie gutmütig, alles irritiert ihn, wie wenn es sich um sein eigenes Glück handelte! Gutmütig ist nur der Menschenfeind, der gern und gelassen alles drunter und drüber gehen sieht und sich nicht rührt, zu helfen, aus Gutmütigkeit. Schamlose, feige Egoisten sind es, die den Wirrnissen dieses Daseins nobel-korrekt-feig anwohnen, ohne es je zu versuchen, Ordnung zu bringen in diese Unordnung! Sie sind angeblich zu wohlerzogen, um zu kreischen und aufzubegehren! Ihre »guten Manieren« sind ein feiges Geschäftchen, das sie mit dem rohen Leben abgeschlossen haben!

Das Stubenmädchen

Mein auf mich kolossal eifersüchtiges schönes junges Stubenmädchen (ohne Grund und ohne Recht, aber bitte, solche Kleinigkeiten!?): »Sie, Herr Peter, san a wahrhaft glücklicher Mensch! Ihnen g'fallt amal ane jede

Ich erwiderte sanftmütig: »Kennen Sie, Anna, die Legende vom Heiland und dem toten Hunde?! Nun, der Heiland ging an einem heißen Augusttage durch eine staubige Dorfstraße. Er blieb vor dem übelriechenden Kadaver eines Köters stehen und betrachtete ihn lange. Das sich herumdrängende Dorf-Volk sagte: ›Herr, was findest Du Besonderes an diesem Kadaver?!‹ Da erwiderte der Herr: ›Oh, seht doch die blinkende Reihe von fast unsterblichen weißen Zähnen!‹«

»Dös versteh' i aber schon gar net!«, sagte mein schönes süßes Stubenmädchen.

»Nun siehe, an jedem Menschen, an jeder Frau kann etwas Besonderes, Apartes, Schönes, Wertvolles sein! Daran sich zu halten und es herauszufinden, ist Sache großer tiefer Herzen!«

»Ach so, no ja, tief und groß is dös schon, aber merken S' Ihna, uns paßt's halt doch net

Ort Altenberg

Ich war heute, nach 30 Jahren, in dem kleinen lieben Orte »Altenberg« an der Donau. Heißt er so nach mir, heiße ich so nach ihm, gleichviel! Die Gebüsche der Weiden und der Birken sind Waldungen geworden, und niemand schwimmt mehr in der »freien, großen, breiten Donau«, sondern in den sogenannten reizenden »toten Lacken«. Wo ist Emma, wo ist Berta, wo ist Hilda, wo ist Elsa?! Ja, Emma hat eben hier, eingedenk ihrer holdesten Kinderzeit, mit Hilfe ihres berühmten Mannes (Hofrat Professor Adolf Lorenz) sich hart an diesen lieblichsten Donautümpeln ein herrliches Garten-Schloß erbaut mit weißer hoher Aussichtswarte über die Donau-Auen. Frische feuchte Luft kommt abends von den Hügeln. Was man da alles sich einst erträumte, ist verweht. Alle, alle haben sich gerettet, irgendwohin, nur ich nicht. Ich mache eine Landpartie hinaus, in dieses Land meiner heiligen Jugendträume, und bemerke, daß die Weiden, die Birken dichte Waldungen geworden sind mit der Zeit!

Treulosigkeit

Geliebte oder Ungeliebte, je nachdem,
du hältst mich auf in den Erneuerungen meines unruhigen rastlosen Selbst! Du fürchtest mein werdendes Werden!

Du weinst?! Du kränkst dich?! Du siehst mich deinem Zauber vorzubeugen freundschaftslos beflissen?! Nur dem Zauber, der mich leider fesselt!

Was liebtest du denn an mir, achtetest, ja verehrtest du einst sogar romantisch?! Meine Wege,
nach irgendwo anders, stets aber aufwärts!

Ja, Marie Susanne, so begann es!

Für mich aber muß es so bleiben und so enden! Enden, um zu bleiben! Also bin ich treu.

Man liebt nicht einen Geigenspieler um seines tiefen Geigens willen,
und später wird man eifersüchtig auf die Geige!

Wer dich berauscht, Frau, in seinen höchsten Menschlichkeiten, die er zu bieten hat hienieden, nicht nur dir,
den darfst du später, ängstlich zaghaft,
unsicher deiner eigenen einstigen unbegrenzten Seelenkräfte und Opferfreudigkeiten,
nicht herunterzwingen wollen in das Speisezimmer,
wo der Tisch bequem und einladend für ihn gedeckt ist!

Schreite mit ihm, indem du ihn allein schreiten läßt.

Und der ewige Schimmer deiner Märtyrer-Krone
wird sich mit dem Licht vereinigen, bei dem er am Ende seines Weges anlangt, ohne dich!

Premiere

»Der Kirschgarten«

Tragikomödie in 4 Akten von Anton Tschechoff

Lauter Menschen, die sich nicht auskennen im Leben und in sich selbst. Momentane Selbsterkenntnisse und der allgemeinen Lage flüchtiger Dämmerblick! Aber es hilft nichts. Weshalb starrt mein Mädchen den Schauspieler G. F. mit dem Opernglase an?! Spielt er besonders?! Weshalb starrt sie nicht den Schauspieler K. J. an, der besonders spielt, oder den W. St. oder den K. P.?!

Wie gesagt, in diesem tiefen, tief-ernsten Stücke, das gar nicht lustig ist, obzwar es ganz lustig ist, insofern Menschen, die sich nicht auskennen, stets ein wenig tragisch-lustig, bedauernswert-lächerlich sind, nicht?! Also in diesem Stücke »Der Kirschgarten«, weshalb starrt mein Mädchen mit ihrem notabene von mir geschenkten Opernglas unaufhörlich, sage und schreibe »unaufhörlich«, auf diesen Schauspieler G. hin?! Ist er so besonders gut?! Ist J., ist St., ist P. nicht besonderer?! Also lauter Menschen in dem herrlichen Stücke, die dahintorkeln, dahinschwanken, aber niemals den Fuß sicher und elastisch dorthin setzen, wohin er gehört. »Du, meine Liebe, das Opernglas habe ich dir geschenkt, mißbrauche es also nicht!«

Das Stück hat trotz allem so merkwürdige Zartheiten. Ich ging vor dem letzten Akte weg wegen des von mir geschenkten Opernglases. Ich sagte auf der Straße zu ihr: »Schäme dich!« Im letzten Akte wird aller Wahrscheinlichkeit nach der alte Kirschgarten, um den es sich dreht, verkauft und abgesägt, um einer neuen Welt, einem Villen-Viertel Platz zu machen. Man soll nur absägen! Und Platz machen! Bravo, ein feines, ein zartes, ein aus dem Leben gegriffenes Stück!

Worte

Eines der schrecklichsten Worte der bürgerlichen Gesellschaft ist: »Ja, sie ist eine Selbstmordkandidatin!« Wenn also eine durch alle Enttäuschungen dieses direkt »unheiligen«, barbarischen, unnötig grausamen Lebens die Lust an dieser Art von Dasein endlich verliert, gegen ihren Willen und Wunsch, dann erhält sie von der bürgerlichen Gesellschaft, die sich eben dafür rächt, daß sie diesen Saustall »Leben« bequem oder selbstverständlich demütig-ergeben erträgt als eine einfach » gegebene Sache«, den Ehrentitel: »Ja, sie ist eine Selbstmordkandidatin, sie ist den Erfordernissen dieses Lebens eben nicht gewachsen!«

Gott sei Dank ist sie anders gewachsen!

Und läßt sich nicht biegen und brechen, aus »ökonomischen« oder »sozialen« Gründen, sondern begehrt innerlich auf, mit oder ohne Tränen, und verzichtet anständig-ehrlich darauf, sich irgendwie einreihen und einordnen zu lassen! Wohin sie Gott sei Dank nicht gehört!

Wehe allen jenen, die in irgendeiner Form nachgeben! Gott und Natur und inneres Schicksal straft sie nachsichtslos, wenn auch erst nach Jahrzehnten, für ihren heimtückischen Abfall vom eigenen Lebens-Idealismus! Sie gehen zugrunde, ohne es selbst direkt zu spüren; ihre eigenen von ihnen im Stiche gelassenen Lebens-Ideale erwürgen sie langsam, unmerklich, und niemand, außer der Dichter, ahnt es, woran sie altern, verfallen, und zugrunde gegangen sind!

Gespräch

9./6. 1918, 10 Uhr abends

Ich lag bereits im Bett, von schauerlichen Lebens-Melancholien zerstört, nein, direkt angefressen. Das Gehirn wird durch trübe Gedanken (bei mir ausschließlich finanzieller Natur) angefressen. Man kann nicht mehr dagegen ankämpfen, denn die Waffe, das richtige hoffnungsvolle oder still ergebene Denken und Empfinden, ist uns eben abhandengekommen, mit der wir uns sonst zu wehren haben! Wir sind verfallen, unserem eigenen Elend in uns selbst! Fast rettungslos. Nein, rettungslos.

Da trat das strohgelbe Stubenmädchen vom zweiten Stocke bei mir ein.

»Josephine, Sie, die Sie seit Jahren von mir für irgendeine Dienstleistung absichtlich kein Trinkgeld annehmen, obzwar Sie nicht zu meinem vierten Stock gehören, wie geht es Ihnen?!?«

»Mein verehrter Herr Dichter, ich bin jetzt 40 Jahre alt, ledig, der Sommer strömt bereits durch die geöffneten Fenster der schmalen Hotelgänge herein, und ich habe ein wenig Aussicht, doch noch zu heiraten!«

»Josephine, Sie wollten niemals von einem alten, armen, kranken Dichter Trinkgelder annehmen! Die Stunde ist endlich gekommen, die heilige Stunde, da ich als Mensch und Dichter Ihnen Gegendienst leisten kann. Ich warne Sie vor dem, der ein armes 40jähriges, nicht mehr hübsches, vom Leben zertretenes Stubenmädchen angeblich heiraten will! Ihre Ersparnisse locken ihn, Ihre mühselig durch viele Jahre angesammelten armseligen Ersparnisse, und Sie gehen einem schauerlichen Schicksale entgegen! Bleiben Sie, Josephine, in Ihren, der trostlosen Arbeit und Aussichtslosigkeit geweihten, düsteren, schmalen Hotelgängen, in die die laue Sommerluft bereits hereinströmt, und Sie werden dennoch glücklicher leben als mit dieser für Sie unsagbar gefährlichen Hoffnung, die ganz nahe dem Selbstmorde oder sogar dem Morde sich befindet!«

»Mein verehrter Herr Dichter, mein Erretter, mein Erlöser! Ich habe das immer dumpf geahnt, aber die › innere Stimme‹ war viel zu schwach. Sie tönen mir wie eine Glocke, die mich machtvoll und bezwingend zu meinem bisherigen Leben zurückgebietet

Der Rathauspark

Sie sagte: »Am schönsten ist der Rathauspark bei Nacht, frische, herrliche Luft und keine Menschen

Er erwiderte: »Erfreuen Sie sich doch am herrlichen Rathauspark bei Tage, an den einzelnen Bäumen und wundervollen Sträuchern und den Details ihres Mysteriums

Sie erwiderte: »Dazu bin ich zu wenig realistisch veranlagt! Ich brauche nicht das Klare, Einzelne, ich brauche für meine Seele die düstere Romantik des dunklen, rätselhaft Unklaren

»Mit einem Wort, Sie sind eine Gans!«

Die Amsel

Es gibt Leute, die an der Amsel im Gartengebüsche achtlos vorübergehen. Dann gibt es Leute, die sich an der Amsel und ihrem ewigen Regenwurmmord erfreuen. Dann gibt es Leute, die ganz ohne weitere böse Absicht das Leben und Treiben der Amsel ernstsachlich genau beobachten, sie lernen zu, vergrößern den Kreis ihrer Erfahrungen. Dann gibt es Leute, die die Amsel beobachten, um darüber zu schreiben, meistens ein kleines Gedicht. Dann gibt es Leute, die sich an dem Gehaben der Amsel erfreuen, sie interessiert beobachten, ja fast gerührt, und dennoch nicht darüber schreiben. Aber diese Leute sind heutzutage selten, gleich ich gehöre, wie Sie sehen, nicht dazu.

Werther

Daß der zarte Werther an der edel-bezaubernden Lotte zugrunde gegangen ist, das wißt ihr alle. Aber ein ganz kleines Detail kennt ihr wahrscheinlich nicht: Eine junge Frau, die von ihrem Manne zu wenig Geld für den Haushalt erhielt, half sich, ihm das Leben bequemer zu gestalten, indem sie hie und da in seine Tasche unbemerkt griff. Als nun ihre Todesstunde nahte, beichtete sie ihrem Manne diese Sache, nicht etwa aus Gewissensbissen, sondern: »Verehrter Mann, du wirst aller Wahrscheinlichkeit nach bald eine andere für deinen Haushalt nehmen, und da möchte ich nicht, daß du über sie dächtest, sie führe deinen Haushalt unaufmerksamer, kostspieliger als ich!«

Splitter

Hugo Wolf für die »Entwicklung der modernen Seele« überaus wichtig, aber ebenso wichtig Johannes Brahms mit seiner seelereinigenden »Sapphischen Ode«! Welche Seele aber reinigen sie denn?!? Jene, die von Schicksals Gnaden aus bereits seit jeher reinigungsfähig war! Eigentlich also die Seelen, in denen beim Anblick des Waldes, der Alm, des Bergbaches, des Sees bereits alle jene Lieder vorhanden waren! Der Künstler bringt ja nur die »tönende Welt«, die im anderen längst verschwiegen der Erlösung harrte! Der Künstler gebiert die embryonale Seele, den embryonalen Geist der anderen!

Lebensenergien

Du bist also, in deinem 60. Lebensjahre, 9. März 1918,
am Ende angelangt deiner gesamten Lebens-Energien. Schade.

Du hättest so viel Wichtiges für die anderen mitzuteilen,
denn dein eigenes Leben ist ja doch entsetzlich wertlos.

Das ist keine Phrase, keine Pose,
ich könnte es erweisen, doch wozu?!?

Ich hatte stets das Gefühl, helfen zu können, Fremden, anderen, Entfernten,
und habe es sogar oft glückselig erlebt. Es ist mein geheimnisvollster Seelen-Schatz. Ich bin dadurch ein Reicher!

Nun aber beginnt zu meiner tiefsten Traurigkeit, ja zu meiner Verzweiflung,
das Spenden zu versagen, und ich bin ich.

Wie alle gehe ich nun allmählich meinen
armseligen langsamen Trott der allgemeinen Herde.

Eine unermeßliche Verzweiflung ist in mir, niemandem mehr wirklich, ernstlich, aufrichtig, liebevoll helfen zu können!

Wie ein Alltag-Mensch wanke ich dahin, der Dichter, der Idealist; der träumerische Helfer, Helfenwoller ist erstorben, sei es aus diesem, sei es aus jenem Grunde, das Alter schnürt mir meine Seele zu, erwürgt sie!

Peter, gib rechtzeitig deines Glückes echte Kraft auf, andere aufzuklären!

Steige hernieder in die Grüfte, die trostlos düstern des hilfelosen Greisenalters für die anderen!

Und bescheide dich endlich, deinen eigenen Lebensweg zu wandeln,
wie es alle tun, die Genies ausgenommen, die für andere leiden können!

Das Alter kommt heimtückisch
unmerklich an dich herangekrochen,
raubt dir plötzlich deine edle Fähigkeit,
anderen zu helfen, zu dienen.

Gehe in dich, Peter, und gib dem
Greisenalter nach, das endlich dich naturgemäß besiegt.

Niemand wird deine Qualen ahnen, die den »Greisenhaften« momentan ent-idealisiert haben, ja, entmannt haben. Trage dein Geschick!

Andere haben mehr zu leiden als du, viel, viel, viel mehr, und tragen es! Und sind Schicksal-ergeben.

Gehe den Weg, den doch alle gehen müssen, immer kann man doch nicht jünglinghaft-kämpfend bleiben, es kommt der Tag, da deine Kräfte schwinden. Gib nach! Es ist das Vernünftigste, das du zu tun vermagst! Gib nach dem unerbittlichen Schicksal! Du hast gelebt teilweise das Leben eines Weisen,
und die Natur hat dir einen großen Teil ihrer Pracht gespendet!

Worüber beklagst du dich also an deinem naturgemäßen Ende, das alle bitterer trifft?

Da andere bedrückt, zerpatscht, enttäuscht, besiegt,
zurückblicken auf ein verfehltes Dasein? Und nicht wissen, wozu sie existierten?!

Solang du wirken konntest,
wirktest du, freudig wirkungsvoll!

Künstlerbrief

Geliebte, gestattest du es mir von ganzem Herzen, so, gerade so zu leben, zu jeglicher Stunde, wie ich ohne dich bisher gelebt habe?!?

Ohne Opfer, die ich meiner neuen tiefen »Zuneigung« zu dir zu bringen hätte!?

Gibst du mich willig frei, da du mich durch deine unbeschreibliche neue Persönlichkeit eigentlich bindest, von allem anderen abhältst?!

Kann dein tiefster Triumph wirklich meine grenzenlose Freiheit sein?! Schwerlich.

Indem ich stets von Wanderzügen zu dir zurückkehrte?!? Bedenke, wie du da erst über mich siegtest!

Kannst du, Geliebteste, solange warten, ob ich zurückkehre von allem anderen im Leben,
das ich vielleicht ebenso brauche für mein Leben wie dein getreues Warten?! Kannst du mir alles gönnen, was ich wirklich brauche, und mir nichts ängstlich mißgönnen?!?

Kann dir meine Entwicklung hinein in die Welt wichtiger werden
als dein sogenanntes bequemes Dasein?!

Kannst du in dir, still leidend oder nicht leidend, mein stetiges Werden erleben als dein eigenes höchstes Sein!?

Kannst du noch mitgehen, liebevoll bereichert,
wo du eigentlich nicht mehr mit gehen kannst?!? Vielleicht sogar nicht sollst?!?

Kannst du mir jene Neue gönnen, die meinem Leben momentan das wird, was für die Forelle das schäumende Gebirgswasser?!

Kann dir mein ganzes, mein unverfälschtes Sein wichtiger sein als dein dir bequemes privates eintöniges Glück?!?

Sage mir aufrichtig: Ja! Und ich werde es versuchen, so zu leben,
daß du bei dieser Prüfung nicht allzu schimpflich durchfällst!

Der Letzte

Ja, als A. K. in den Ballsaal damals eintrat, vor 40 Jahren, da empfand ich es ganz genau, daß ich nie, nie, nie wieder in meinem Leben, seitdem sind eben 40 Jahre verflossen, so eine »gerührte Stimmung« je haben werde! Sie wurde sogleich für mich zu einer Religion. Nun, in diesen Jahren ist es nichts Seltenes bei impressionablen Organisationen, aber daß es blieb, blieb, bis auf heute?! Niemals lernte ich sie persönlich kennen, jedoch genau trotzdem ihre süße liebliche Persönlichkeit. Sie hatte eher einen bräunlichen Teint, lange schmale bräunliche Hände, war so wie eine süße Vermengung von Indierin, Japanerin, Nubierin, kurz ganz exotisch. Welches Kleid sie anhatte?! Zitronengelben Tüll mit hellblauen kleinen Samt-Maschen, niemand trug so etwas außer ihr damals, ganz exotisch. Ich hätte ihr gern gesagt, vor 40 Jahren: » Sie dürfen das tragen, nur Sie!« Aber ich versäumte es. Am nächsten Tage langweilte ich meine gesamte Familie mit meiner Schwärmerei »A. K.«. »Hättest du lieber einige Walzer mit ihr getanzt oder sogar eine Quadrille oder Kotillon oder sie zum Souper geführt. Aber schwärmen, nachträglich, wenn der Ball zu Ende ist?! Was hat sie, was hast vor allem du, Esel, davon?! Mache wenigstens ein Gedicht darüber und sende es an eine Zeitschrift!« Nein, ich bedaure, ich bereue nichts, A. K.! Dieser holde Name hat mich begleitet und geleitet, in Wiesen, in Wälder, zu Bächen und Seen, zu wertvollen und wertlosen Frauen, zu Krankheit und zu Genesung, zu Irrtum und Wahrheit, zu Melancholie und zu Ergebenheit. Wie eine ruhige klangvolle Glocke, die mahnt und auffordert, seinen eigentlichen Idealen ewig treu zu bleiben! A. K., Gattin eines steinreichen Direktors, ich war der Erste und bin der Letzte, in dem deine Frühlings-Lieblichkeit hoheitsvollst weiterblüht! Sei gesegnet und bedankt. Ich bin jung geblieben; nein, noch viel jünger als ich je gewesen! Viel, viel jünger als du! Du bist 57 und nun ich 60! Es hat sich nichts verändert.

Der Kranke

Er ließ absichtlich beide Türen weit offen, die grüngepolsterte und die weiße, im Falle, daß doch jemand Neugieriger hereinschaue. Aber es kam natürlich niemand. Auf der Straße hörte man unangenehme und völlig unnötige Geräusche, aber im Zimmer des Kranken blieb es mäuschenstill. Selbst die weit geöffneten Fenster waren wie an die blaue Tapete angenagelt. Hie und da kam das ganz junge Stubenmädchen geschäftig und scheinbar sorglos vorüber. Solche merkwürdigen Menschen denken nicht nach, niemals, über die nächsten bangen, langweiligen, nichtssagenden Stunden oder gar über das Letzte. Wie es sich ereignet, ereignet es sich, ein idiotischer Heroismus. Aber der Kranke spürt alles doppelt und dreifach, ja tausendfach. Er begreift überhaupt nicht, wie man unter gewissen ungewissen Umständen dahinleben könne. Er empfindet die lächerliche, schreckliche und unnütze Last des Daseins, des Existierens an und für sich wie ein allzu schwer bepacktes Tragtier, dem jeder Schritt eine besondere Qual ist. Wozu Ehrgeiz, Eifersucht, Liebe?! Während er so dachte, und welcher einsame Kranke grübelte nicht sich gleichsam bereits selbst in sein Grab hinein, aus Mangel an Lebens-Energien, kam das ganz junge, vollkommen gedankenlose Stubenmädchen vorbei, mit ihren tausend Pflichten bepackt, die sie, scheinbar wenigstens, gar nicht spürte, eine schwer arbeitende junge Lerche, unbewußt ihres Geschickes! Sie trällerte leichtfüßigst vorbei, unbewußt des Weltkrieges und aller anderen grauenhaften Belastungen dieses düsteren Daseins. Der Kranke lag da, tausend Kilometer entfernt von der düsteren Sorge des unnötigen und beschwerlichen Daseins, begriff nicht, wieso es Menschen gebe, die so Schicksal-ergeben leichtfüßigst trällern, wie wenn es keine schweren Komplikationen gäbe in diesem komplizierten Leben! Der Kranke lag da, tausend Kilometer entfernt von den Sorgen aller anderen –.

Der Gesunde

Und wenn er abends sein armes reiches Geld verspielt, es kümmert ihn nicht, er spürt es nicht. Er ist mysteriös immun gegen die Alltag-Tragödien dieses gefährlichen Alltag-Lebens. Nichts zerstört ihn sogleich wie uns. Er besitzt eine schauerliche, krankhafte Lebens-Zähigkeit. Zertritt ihm den Schädel, den er eigentlich nicht hat, und er spürt es gar nicht. Seine Gesundheit ist ein Verbrechen an seinem Menschentume. Alles gleitet an ihm direkt unmenschlich ab. Er lebt eigentlich ein lebloses steinernes Dasein.

Über alle Dinge gleitet er hinweg, an denen alle anderen naturgemäß zugrunde gehen oder wenigstens Tag und Nacht lang leiden und sich direkt langsam unmerklich innerlichst aufzehren. Der »Gesunde« spürt das alles leider nicht, er gleitet über alles hinweg, was die Zarteren unbedingt langsam vernichtet. Er ist dem Leben in jeder Beziehung gewachsen, pfui! Er kämpft mit den schamlosen Gemeinheiten der Alltäglichkeit und besiegt sie spielend glatt! Es gibt für diesen »Hund des Daseins« keine Schwierigkeit, seine Brutalität besiegt alle Gemeinheiten, und sein eigenes »Zugrundegehen« spürt er Gott sei Dank viel zu spät! Also gar nicht. Der Gesunde ahnt es nicht, was der »nicht Gesunde« alles erleidet! Er hat eine »harte Haut«, an der er unbedingt schließlich irgendwie zugrunde geht, es muß sich rächen! Leider vorläufig nur an den anderen.

Der Gesunde lebt sein blödes nichtssagendes kräftiges, allem widerstrebendes Leben, statt zart-menschlich schwächlich irgendwie einmal nachzugeben!

Der Gesunde ist krank, weil er den unerbittlichen Gesetzen der Natur in allem und jedem entgegenzukämpfen wünscht, obzwar er es genau fühlt, daß es unmöglich ist! Also ist er ein gesunder Kranker! Aus brutaler, fast boshafter Kraft. Oder aus Beschränktheit, auch eine schreckliche Krankheit des Gesunden.

Die Bedienerin

Eine, die mich sofort zum Jüngling machte, nein, wieder zu P. A.!!! Sie bediente dort, aber schon ihre Art, Fremde zu bedienen, war das Rührendste!!! Vor meinem hoffentlich baldigen Tode will ich ihr dienen, mit meiner zärtlichen Seele!!! Sie ist so entzückend, daß ich durch sie sofort wieder P.A. wurde nach Jahren! Heil ihr, der Unbekannten! Sie machte mich durch ihren Anblick allein sofort zu dem, der ich bin, und der ich seit Jahren nicht mehr war! Ich bete sie an. Peter Altenberg, 7. II. 1918. Heil ihr!!!

9. II., 11 Uhr vormittags. Mein Herz ist in Tränen. Ich kann nichts für sie tun, ohne »meine zärtliche Hysterie« zu zerstören, und sie nichts für mich. Es wird eine tragische Geschichte werden meinerseits. Und sie wird sich hie und da in ihrem schweren Leben daran erinnern, daß ein Unbekannter ihre Seele liebte, sofort. In verlassenen Stunden wird sie sich an die Erinnerung klammern, stützen. Und ich, und ich?! Ich werde ihren Namen nennen, liebevollst nennen, solche Beziehungen werden durch nichts zerstört. Es gibt immer Stunden, da sie an dich denken wird, und ganze lange, bange Nächte, da du an sie denkst! Die Gifte »Gewohnheit« und »Enttäuschung« können nicht vergiften. In milder Ergebenheit lebt ihr dahin – – –. Des Alterns, des unmerklichen, haßerfüllten, Gifte fehlen, und stille Wehmut siegt in euren also unbesiegten fernen Seelen!

Der Abend

Der Abend bricht gleichsam über deinem sowieso durch hundert unnennbare oder sogar fast nennbare Dinge verstümmelten, arg mißratenen Tage stets jäh zusammen. Deine Hoffnungen waren ebenso lächerlich und unbegründet wie deine fast an Irrsinn grenzenden Verzweiflungen. In dem Meere frechster, dümmster Verlogenheiten versuchtest du es tagsüber, geschickter oder meist ungeschickter, mitzuschwimmen mit den anderen Idioten, die nur noch mit ausgesuchter äußerlicher Frechheit für dieses »Nicht-leben« ausgestattet worden sind von einem nicht beneidenswerten, tragisch-lächerlichen Schicksale. Die wenigen, denen es gelingt, denen gelingt gar nichts, mitgezerrt wurden sie nämlich von der idiotisch hastenden Herde, um zu vergessen, daß sie doch vielleicht hörende, schauende, erschauende, spürende, denkende Objekte sind oder hätten vielleicht sein können irgendwie. Der schwächlich-stille Abend findet dich stets bei deinem eigenen Sedan oder Waterloo, deinen eigenen nichtigen Lebensplänen. Das Bett erwartet dich noch liebevoll scheinbar, also der halbe Tod oder der viertel. So vielen gelingt es, aber was? Nichts! Das eigene Innere erbaut sich niemand auf, im Gegenteile, er zerrüttet es sich direkt absichtlich. Zu solchem Aufbau gehört nicht Hoffnung, nicht Mut, sondern genialste Stahl-Kraft des eigenen Inneren. Wer sich selbst aufzubauen die Kraft hat, baut alle anderen um sich herum vorerst ganz ab, die ihn daran irgendwie hindern! Es ist nicht wahr, daß dein schwarzer Gehrock nur dein schwarzer Gehrock ist oder dein Hut, dein Schirm; es sind die natürlichen Requisiten deiner künftigen elenden Grabes-Toilette! Sei, der du bist, und ja nie der, den die anderen von dir meuchlings je verlangen! Sie verlangen nämlich von dir nur die schamlose Toilette ihrer eigenen Nichtigkeiten, nur um sich vor dir nicht blamiert zu fühlen! Du sollst dich ihnen unterwerfen, Hugo Wolf dem Franz Lehár! Tuet es ja nicht, gehet in euren schäbigen Gewändern in eure Grüfte! Und lachet ihres Lachens! Der Abend entkleidet dich aller deiner sogenannten Tages- und Lebens-Würden. Wehe dem, der sich von der schändlich-blöden Nichtigkeit seines eigenen Lebens selbst frech täuschen läßt, in ihm bohrt ununterbrochen der Wurm seines eigenen an ihm zehrenden Nichts. Wen will er täuschen?!? Frau, Kind, Geliebte, Eltern?!? Unglückseliger! Schon sein falsches Lachen verrät ihn der schamlos genial unerbittlichen Menschheit. Und seine Fröhlichkeit ist teuflisch, denn vielleicht lauert bereits heimtückisch der tragische Zungenkrebs! Der Abend ist dein »Sedan«, dein »Waterloo«, wenn du auch noch so elegant rasiert bist! Was du nicht warst, nicht bist, nie werden wirst, bringen dir schauerlich deine Abendstunden!

Die Nacht

Die Nacht vergeht nicht. Dabei gedenkst du natürlich aller deiner tausend unnötigen Sünden. Trotzdem oder deshalb eben vergeht die Nacht nicht. Wie dumm hast du gelebt oder vielmehr nicht gelebt, bist eigentlich nur so gleitend hingestorben, hast kein Bismarck-Gehirn gehabt, hast dich nicht selbst dirigiert, diese einzige richtige Aufgabe des Mannes! Tausend Dinge haben dich von dir selbst weggetrieben, haben dir deine dir innewohnende besondere Lebenskraft geraubt, haben dich weggetrieben von deinem besten Selbst!

Deshalb vergeht dir die Nacht nicht.

Weil die Zahl deiner dummen und unnötigen Sünden viel zu groß ist.

Mußtest du damals?! Nein, du mußtest eben gar nicht, gerade nicht in dieser dir allzu gefährlichen Beziehung! Weshalb also tatest du es dennoch?! Damit die endelose Nacht dir die menschliche Gelegenheit gebe, dein steinernes Sündenleben ewig gleichsam in Erinnerung zu bringen und dich züchtige für dein allzu wenig Mensch-gewesen-sein diese lange, wertvoll-bange Zeit deines Lebens hindurch!

Deshalb vergeht dir deine Nacht nicht!

Der 13. Dezember 1918, 5 Uhr morgens

Du stehst, Peter, also endlich, nach langen irrsinnigen Kämpfen, mit dir selbst und mit dem ganzen Leben überhaupt, soweit es sich auf deine armselige und dennoch ach so komplizierte Persönlichkeit bezieht, vor deinen eigenen unüberbrückbaren Abgründen! Jeder hat solche, aber er erkennt sie nicht, überläßt sich daher klaglos dem scheinbar unentrinnbaren Schicksale seines eigenen desolaten und verworrenen Lebens. Viele nehmen den Browning zur Hand, aber viele auch nicht! In einer solchen Krise meines unglückseligen Daseins schreibe ich noch rasch diese Zeilen nieder, für die anderen, für die anderen, die ähnlich empfinden und rettungsbedürftig sind gleich mir, ohne es leider aussprechen zu können gleich mir! Ich kann es wenigstens noch aussprechen vorderhand, wer weiß, wie lange noch?!? So lange hält man mich noch für einen Dichter! Einer, der das aussprechen kann, was alle, alle anderen empfinden und wissen, aber stumm, stumm, in tragischester Stummheit! Der Dichter aber kann schreien, flehen, fluchen, laut weinen, schamlos, rücksichtslos, unangenehm verzweifelt über die unabänderlichen gewöhnlichen und dennoch schrecklichen Dinge dieses allerhärtesten Daseins! Das ist ein Dichter, sonst gibt es keinen, einer, der die stumme Lebens-Last aller anderen laut tönend auf sich nimmt, um zu retten! Zu helfen! Das allein ist ein Dichter! Alle anderen sind unnütz und vergeblich. Aus verbrecherischer Gutmütigkeit erkennt man sie an, obzwar man es genau weiß, daß man sie für sein karges Lebensglück in keinerlei Weise braucht!

14. Dezember 1918

Wie ist denn diese Nacht?!? Scheinbar deine letzte. Unbedingt scheinbar.

Soviel Energien so rasch einbüßen?!? Schrecklich.

Ein Hund beißt ihn, ein verlaufener, kleiner Hund. Ist er krank, ist er gesund, niemand weiß es, niemand kann es erkennen. Er erwartet sein Schicksal, niemand kann ihm irgendwie helfen. Der Hund hat ihn gebissen. Das Schicksal droht über deinem unglückseligen Haupte. Wirst du schrecklich untergehen oder nicht?!? Beides ist möglich. Das frißt an dir bei Tag und bei Nacht. Nie hört es auf, es zerrüttet dich, gegen deinen Willen. Ein Hündchen hat dich gebissen, bei Nacht. Niemand weiß es, ob er gesund oder krank war. Du lebst seitdem unter einem schauerlichen Schicksale, niemand vor allem kann dich irgendwie erretten. Ein kleiner fremder Hund hat dich nachts unvermutet gebissen. Er entfloh in die Dunkelheit, ließ einen Verzweifelten zurück. Du bist also dem Schicksale ausgeliefert, dem gnädigen, dem ungnädigen, gleichviel, du kannst nichts daran irgendwie ändern, es ist Schicksals Gnade oder Ungnade. Nur der wirklich in bezug auf dich Wissende kann dir helfen, sonst niemand! Lasse dich um Gottes willen von scheinbarer oder sogar echter sanfter Gutmütigkeit, also angeblich hilfsbereiter Opferfreudigkeit, ja nicht verblenden und irreführen. Du selbst kannst dich erretten, nur du, sonst niemand auf Erden trotz allem. Du bist sechzig, er ist fünfzig, daher triumphiert er um zehn Jahre über dich, ist aber tückischerweise um dreißig Jahre verständnisloser, einsichtsloser, egoistischer! Höre nicht auf ihn! Kümmere dich ja nicht darum, Nachgrübeln kann dir unter keiner Bedingung helfen! Wie wenn jemand über seine Zuckerkrankheit nachgrübelte! Es schwächt ihn, lähmt ihn, nützen kann es ihm in keinem Falle! Trage dein Schicksal, das ist deine einzige Medizin. Habe die Kraft, alle sogenannten scheinbaren guten Ratschläge momentan brutal -schamlos zurückzuweisen! Jeder andere ist dein Todfeind, unter der Maske gutmütiger Selbstlosigkeit. Paraldehyd ist ein lähmendes, infolgedessen leider Schlaf bringendes Gift. Niemand kann es dir verbieten als du selbst. Die Folgen mußt du ewig im Auge behalten, nein, im Gehirne, und noch so gütiges Zureden ist Spreu im Sturmwind. Du selbst allein mußt, kannst, wirst dich erretten aus deinen eigenen, sogar bereits selbstgegrabenen Abgründen! Sonst niemand, kein angeblich verständnisvoller Arzt, kein gutmütiger Freund! Nur du, du, du allein, du selbst! Von deinen Lebens-Energien allein hängt dein Lebens-Schicksal ab, aber weder von den, naturgemäß in bezug auf dich, völlig verständnislosen und größenwahnsinnigen Ärzten oder von ebenso naturgemäß verständnislosen wohlmeinenden Freunden, die dich in allerbester Absicht in deine eigenen Abgründe hinabstürzen! Folge deinem eigenen besten Ich in dir, nur das kann dich vor dir selbst und deinen Krankheiten der Seele, des Geistes, des Leibes eines Tages erretten! Horche ja nicht auf wohlmeinende Stimmen von außen, horche auf unerbittlich strenge Stimmen aus deinem eigenen Inneren! Nur hier ist für dich das Heil, die Errettung, der eventuelle Segen! Verlasse dich nicht auf die noch so scheinbar liebevolle, aber rücksichtslose Außenwelt, sie hat, sie kann von deinen Lebens-Mysterien keine Ahnung haben. Verlasse dich auf dich selbst! Und solltest du dennoch dabei, dadurch, in deinen Lebens-Abgrund stürzen, so sei es! Dein Verhängnis, dein Schicksal, basta! Deine Krücken sind nur dein Geist und deine Seele, sonst nichts.


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