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Semmering 1912

Gartengedanken

Ich habe nichts hinzugelernt durch das ausgezeichnete Buch »Gartengestaltung der Neuzeit«, und dennoch habe ich das Höchste profitiert – die Festigung meiner Intuitionen! Gärten wirkten seit jeher auf mich wie die Natur selbst; so eine eingefangene und dennoch freigelassene Natur, ein Extrakt derselben! Unser Wiener Rathauspark ist mir ein Muster, nur fehlt ihm die romantische Verwendung von Wasser in Form von unregelmäßigen Bassins und Wiesenbächlein samt Wasser- und Sumpfpflanzen! Ich schrieb schon vor 15 Jahren eine Skizze: »Der Farbengarten«. Zum Beispiel Graufichte, Picea pungens glauca, graue Bodenbedeckungspflanzen, grauer Steinbrunnen und Rosen, Rosen, Rosen. Irgendwo an einem Baumast ein silberner großer Käfig mit einem grauen Papagei, Lori! Zwei-Farben-Gärten! Nun einige Anregungen: weite Rasenflächen sind still-aristokratisch, werden aber durch alte, knorrige, spärlich unregelmäßig hingesetzte Obstbäume sofort bewegt-romantisch! Es dürfte nie heißen: ein Garten, sondern immer nur: sein Garten. Goethe hat einen andern Garten als Victor Hugo.

Wasserpflanzen und Steinpflanzen erfordern Bassins und Mauern. Diese können aber nicht diskret bescheiden genug sein. Der Kurpark in Baden bei Wien entspringt gleichsam einer dunklen, echten Waldquelle, die die Wiesenabhänge herabstürzt, sich zerteilend und winzige Tümpel bildend. Hier ist die Natur am allerdiskretesten organisiert! Ein enragierter Feind jedoch bin ich seit jeher der Teppichbeete, die mir wie als Smyrnateppiche mißbrauchte Blumenpracht erscheinen. Man überlasse diese stilisierten Farbensymphonien den Webern und Knüpfern. Ich bin gegen die Riesenlineale, Riesenzirkel, gespannten Stricke der Gartenkunst! Rhabarber erscheint im Gemüsegarten als Nutzpflanze, an Teichen jedoch als Wildstaude, pittoresk. Jeder Platz eine andere Welt!

Waldrebe, Klematis, ist, an alten Bäumen, unsre »Liane des Urwalds«. Der Boden ist so reich, daß er auch noch die Schmarotzer in Üppigkeit erhalten kann. Immergrün als Bodenbedeckung ist ein natürlicher Rasen. Rasen braucht doch Schneiden, Spritzen, Walzen und Düngen. Rasen will »gepflegt, gehegt« werden. Immergrün ist einfach immer grün. Es läßt den Wurzeln aller andern Pflanzen das Regenwasser, das Gießwasser, das Tauwasser, das Schneewasser, während der Rasen sich vollsauft und andre verdursten läßt. Selbst im Winter gibt Sedum spurium noch einen lebendigen bräunlichgrünen Bodenüberzug, während unser Rasen dann nur »Winterlieder zum Cello« in der Seele hervorbringt. Sedum spurium wirkt körperlicher, plastischer, naturgemäßer, dichter, verworrener als Rasen, der mir stets den Eindruck von geschnittenem Samt und Plüsch hinterläßt.

Ich bin sehr für Trockenmauerwerk mit schmiedeeisernen Geländern und dicht bepflanzt mit Kapuzinerkresse. Wie wenn die überstarke Natur auch da noch Stein und Eisen schmücken möchte mit Grün und Dunkelgelb. Zur Schlingpflanze gehört ihre Stütze. Man soll sie sehen, sie ist ein naturgemäßer Schmuck. Ihr Holzgitterwerk kann daher sogar aus Edelholz sein oder in diskreten Ölfarben, ocker, ruß, steingrau. Ich weiß nicht, weshalb man nicht an niederen Ästen von exotischen Bäumen, Tulpenbaum, Trompetenbaum, herrliche Käfige mit exotischen Vögeln aufhängt, so als Urwaldstaffage?! Brombeere, Himbeere, Kletterrose sind mir ein sympathisches Dickicht, so Dornröschenwald, undurchdringlich einsam. Weshalb sind Villen nicht dicht bedeckt mit Bauerngärtengeranke?! Ein Überfluß der Reichen und der Armen.

Steinplattenwege im Garten, in deren Fugen Blumen sprießen, sind romantisch. Das Haus ströme gleichsam in den Garten aus, erweitere sich, erhöhe sich zum Garten, verliere seine Bedachungen, an deren Stelle der blaue Himmel, die graue Wolke tritt. Ich sah an einem Lindenpark ein dickes rotes Backsteinportal mit eichener Holztür. Da können keine Talmimenschen wohnen, sondern nur gediegene. Grellrote Holzpforte zwischen Granitmauern. Gelbe Eschenholzpforte zwischen weiß-schwarzen Betonmauern.

Weiße Rankrosen geben Märchenstimmung. Gartenlaube am Wasser, Nachmittagstraumplatz. Buchenjungwald, wunderbar im Vorfrühling und im Spätherbst. Ein Teppich von raschelnden braunen Blättern darunter. »Warte nur, balde ruhest du auch!«

Weshalb bepflanzt man die Bergwiesen in Berggärten (Semmering) nicht dicht mit Wacholder, Rhododendron, Zirbelkiefer, das, was Rax und Schneeberg von selbst leisten in ihrem künstlerischen Naturgeschmack?! Stauden vor Gebüsch, ein ideales Ausklingen! Birken, Schlehen, Eriken, und schon ahnst du den Sandboden der »Mark«. Mit gewissen Pflanzen kannst du ferne Gegenden herzaubern! Meine Lieblingsbäume: Lärche, Graufichte, Knieholz, Blutbirke, Rotbuche, Weide! Wasser, Wasser, fließend oder stehend, du bist der Dichter in dieser Realität: Landschaft! Du bringst die Romantik, die Musik der Landschaft!

Des Teiches Stille singt des Lebens Schwermut.

Des Baches Murmeln klingt wie Wiegenkindes Plaudern aus dem Traum.

Der Wasserfall singt dir von einer Welt, deren Getöse auch nicht mehr enthält!

Springbrunnens Melodie bei Tag und Nacht
die sanften Herzen melancholisch macht.

Der Sommerregen trommelt auf hunderttausend Blätter,
dürstenden Blumen zärtlicher Erretter!

Über dem Gartensumpf schwirrt die Libelle,
vom Froschsprung klagt ans Ufer eine Welle!

Gießkannen rieseln sanft auf schwarze Erde,
damit die Pracht des Sommers baldigst werde!

Hörst du dem Brünnlein lange, lange zu,
kommt über dich unmerklich Fried' und Ruh'!

O Mensch, worauf willst du denn ewig warten?!?
Such' deine kleine große Welt in deinem Garten!

Das kleine Leben

Ich sah Arbeiter an einer Telegraphenstange arbeiten, die im Hochwald der Nachtsturm zerbrochen hatte, von 7 Uhr morgens bis 6 Uhr abends. Es frappierte mich, wie sorgenlos sie waren, keine Spur eines Gedankens darüber, ob es denn dafürstehe, auf die Welt gekommen zu sein, um abgebrochene Telegraphenstangen im Hochwald, der dem Fürsten gehört, wieder praktikabel zu machen. Im Gegenteil, sie schienen es für das Wichtigste von der Welt zu halten, daß die Telegraphenstange sobald als nur irgend möglich wieder hergestellt werde. Es waren Telegraphenstangenärzte. Um sie herum waren Gimpel und Eichkätzchen auf Altfichten, Regen kam, Nebel und wieder Sonne; aber immer war alles konzentriert auf die Errichtung der Telegraphenstange. Ihr gehörte ihre ganze Sorge, sie war ein Teil des Weltgetriebes. Es gab Genies unter diesen Arbeitern, die alles mit einem Schlag erfaßten, was zu tun war; dann waren Bedächtige, Vorsichtige; und dann waren Tagarbeiter nach vorgeschriebener Pflicht. Die ganze Menschheit also war eigentlich um diese Telegraphenstange im fürstlichen Hochwald versammelt. Ich ging vorüber und verteilte Trabukos, à la Kaiser Josef, nur billiger. Weshalb nicht?! Das Prager Tagblatt hatte mir doch gerade für Nachdruckhonorare 9 Kronen geschickt. Nachdrucken ist doch schon Ehre genug. Das Geld setzte ich teilweise in Mäzenatentum und in Menschheitsbeglückung um. Die Arbeiter waren ganz verblüfft. Einer sagte: »Auf der Liechtensteinstraße hat der Sturm einen halben Meter dicke Bäume abgeschlagen!« Diese Mitteilung war eine Art von Revanche für meine Liebenswürdigkeit. »Ist es möglich?!«, sagte ich freundlich erstaunt und ging befriedigt von dannen.

Dolomiten

Ich hatte mein ganzes Leben lang von den Dolomiten gehört, einem »Märchen der Natur«. Nun kam ich, per Auto, halb 8 Uhr abends, 11. August, in Toblach an. Eine riesige, ungepflegte, ja verwahrloste Bergwiese, die ein feenhafter Berggarten leicht hätte sein können. Ich ging ein paar Schritte die Fahrstraße entlang, die ins Gebirge, Monte Cristallo, führt. Ich sah in die weiße Waldstraße hinein und war ganz ergriffen. Jahrelang im »Café Central«, Ecke Herrengasse-Strauchgasse, und nun am Eingang in die »Dolomiten«! Ich sah Wälder im Abendschatten und in der Ferne einen leuchtenden riesigen Felsen. Ich kehrte zurück und dachte mir die riesige, schrecklich ungepflegte Bergwiese vor dem Riesenhotel bewachsen mit Zirbelkiefer, Rhododendron, Speik, so ein botanischer Berggarten, mit Murmeltieren und Schneehasen. Aber Toblach begnügt sich, ein »Eingang« zu sein, und selbst die Geschäftsläden erinnern an »Praterbuden«. Nur irgendwo sah ich in einer Ansichtskartenbude eine 14jährige Verkäuferin. Ich blickte sie an: »Du, du allein paßt in diesen Dolomiten-Märchen-Eingang!« Da ich den schönen grauen Gems-Kaiser-Lodenhut auf hatte und sehr gebräunt war, blickte sie mich freudig-erstaunt an. Ich wollte etwas sagen, das heißt, ich wollte eben gar nichts sagen, aber als die Ansichtskartengeschäfte abgewickelt waren, blickte ich sie noch immer gerührt an. Sie sagte auch nichts, aber sie spürte ihre Wirkung auf mich. Es war nicht sehr lange, und doch vielleicht oder wahrscheinlich eine besondere Welt, die nie nie mehr wiedererstehen wird. Es ging nicht an, sie länger anzublicken. Und infolgedessen ging ich. Ich lüftete nicht den Hut, damit sie nicht sehe, daß ich kahlköpfig sei; denn ich mußte auf ihre Träumereien Rücksicht nehmen, daß ein verhältnismäßig apart aussehender Herr sie beim Ansichtskartenkaufe liebevollst angeblickt hatte –. So wie wenn er ihr Glück wünschte zu ihrem künftigen Schicksale und sie getreulich segnete mit seinen Augen. Sie hat gewiß niemand davon erzählt, was gäb' es auch darüber zu erzählen?! Und doch blieb es in ihr. Und doch wird sie, unmittelbar vor einem ersten Kuß der Jugendsinne fühlen: »Nein! Ich sehe nicht auf deinem Antlitz, Mann, den Zug von Rührung, den der fremde Herr mit dem grauen Gemsjagd-Kaiser-Lodenhute damals hatte – – –.« Am nächsten Morgen ging es nach Cortina. Rotgraue Bergwelt, sei bedankt, gesegnet! Es türmt sich auf, lichtgrau und rosig, es wächst ins Himmelblau hinein und überall ist Friede – – –.

Mama

Meine Mama wollte »ein großes Haus« führen, um ihre wunderschönen Töchter reich zu verheiraten. Das nahm ich ihr übel. Denn, wenn es gelingt, ist es wie ein Haupttreffer auf eine in der Tabaktrafik gekaufte Promesse. Ich bin gegen das »Spiel« im Leben. Man riskiert zu viel. Das ist es. Also, wie gesagt, ich war sehr dagegen. Aber in meiner Kindheit hatte ich einen vollkommen krankhaften Fanatismus für sie, und meine Liebe zu ihr war keine ruhig-selbstverständliche eines guten anhänglichen Kindes, sondern zehrte an mir, wie wenn ich ein unglücklich Liebender wäre, der an »inneren Zärtlichkeitsgefühlen« zugrunde geht, während doch Mama mich sehr, sehr, sehr lieb hatte und meinen »kindlichen begeisterten Blick« zu würdigen verstand. Oft sagte sie: »Du dummer Kerl, was willst du denn, ich hab' dich ja sowieso riesig gern, und außerdem bin ich mit dir sehr zufrieden, der Hofmeister, die Gouvernante, der Violinlehrer und Mr. Palotta, alle, alle loben und lieben dich – – –.« Aber meine Zärtlichkeit für Mama zehrte an mir. Vor ihr niederknien, und den Saum ihres Kleides mit den Lippen berühren, daran dachte ich nicht. Ich sah sie an und war voll übertriebener Zärtlichkeit, als ob ich noch überhaupt bewußtlos in ihrem Schoße läge, von ihren Kräften innerlichst behütet, genährt, gepflegt, so vorzeitig herausgestellt in eine Welt, in die ich noch nicht hineingehörte! Mama! Mama! Als ich mit zehn Jahren, gerade der Primus im Gymnasium, an einer Fußbeinhautentzündung schwer erkrankte, hatte sie ein Jahr lang ihr Bett neben dem meinen und nahm nächtelang meine Seufzer in ihr Herz auf. Nachmittags sang sie im Nebenzimmer Schubertlieder. »Ihre Stimme klingt etwas ermüdet!«, sagte der liebevolle junge Gesangsmeister. »Mein Sohn hat heute Nacht wieder sehr gestöhnt«, erwiderte sie. Eines Tages sagte Professor Dittel: »Es muß geschnitten werden, der Fuß ist ganz in Eiterung.« Da saß sie nachmittags an meinem Bette und zupfte aus Leinwandfetzen Charpiewolle. »Was machst du da, Mama?!« – »Daß die Zeit vergeht«, erwiderte sie. Am nächsten Tage sagte Professor Billroth: »Ich pflege in einem solchen Falle noch nicht zu schneiden, es wird sich aufsaugen!« Da kniete meine Mama vor meinem Bette nieder, aber nur für einen Augenblick. Dann ging sie ins Nebenzimmer und spielte und sang am Klavier die »Forelle« von Schubert. Der Gesangsmeister sagte: »Heute klingt Ihre Stimme frischer, Sie dürften gestern eine ruhigere Nacht gehabt haben!« – »Nein«, sagte sie, »aber ich werde sie heute haben!«

Vollkommenheit

Vollkommenheit ist ein heutzutage ganz mißverstandenes Wort. Man sagt: Gustav Klimt, der vollkommene moderne Maler; Frau Bahr-Mildenburg, die vollkommene Wagner-Darstellerin; Oberbaurat Otto Wagner, der vollkommene Architekt; Peter Altenberg, der vollkommene Skizzenschreiber; Karl Kraus, der vollkommene »Angreifer, Verhöhner, Vernichter«! Aber vollkommen kann ein jeder sein, in jeglicher Sache! Ein Orangenverkäufer kann vollkommen sein, wenn er den Geschmack, den Saftgehalt, den Zuckergehalt jeder Orange oder Mandarine schon von außen, gleichsam durch die Schale hindurch, erkennt mit unfehlbarer Sicherheit! Ein Kastanienbrater kann vollkommen sein, wenn er das Gefühl dafür hat, wann und unter welchen Umständen seine Kastanien schön gleichmäßig goldgelb gebraten sind, ohne bräunliche schwarze harte Stellen zu bekommen. Ein Bar-Mixer kann vollkommen sein, eine liebende Frau, ein stichelhaariger Foxterrier, eine Hemdenputzerin, ein Kommis, in seiner Art zu bedienen, ein Koch, eine Stenographin, kurz: alle, alle, alle, insofern sie in ihrer Sache das Vollkommenste leisten! Pereant die protokollierten Firmen des allgemeinen succès; es leben hoch die Unbekannten, die göttlich singen beim Waschen und Anziehen, ohne an der Hofoper engagiert zu sein! Es leben die exzeptionellen Weber und Tuchfabrikanten, es lebe die kroatische, bosnische, ungarische, schottische, irländische, dänische, schwedische Hausindustrie! Was vollkommen ist, ist vollkommen, worin immer es sich auch betätige!

Nachwinter

9. März. Mein 53. Geburtstag. Es ist schon wieder Schnee gefallen die ganze Nacht, Hochwinter im März. Man kann noch nicht »rodeln«, denn der Schnee ist noch flaumig wie flaumige Eiderdaunen. Aber das Auge weiß davon nichts. Nur die Fußspuren sind braungrau. Es hat null Grad im Schatten. Es ist ein Winterbild, an das man nicht recht glaubt. So Nachzügler einer Armee »Winter«! Meine Schneeschuhe, ein Geschenk des berühmten Architekten Adolf Loos, vor fünf Jahren, sind mir gestern abhanden gekommen. Der anständige Dieb hat wahrscheinlich nicht mit diesem Winter- Rückfall gerechnet, der mich nun in Verlegenheiten bringt! Sie waren mir teuer, obzwar sie mich nichts gekostet haben. Ich hatte fünf Jahre lang den Ehrgeiz, sie mir weder vertauschen, noch stehlen zu lassen. Der Kellner sagte mir oft: »Lassen Sie Ihre Schneeschuhe ruhig irgendwo stehen, es geschieht ihnen nichts!« Nun, es ist ihnen wirklich nichts geschehen, sie haben nur ihren Besitzer gewechselt. Möge er sie ebenso zärtlich rücksichtsvoll behandeln wie ich, und möge ich eine neue Schneeschuh-Wurzen baldigst finden! Einer machte schon eine leise Anspielung, aber es stellte sich heraus, daß er mir nur mitteilen wollte, dieser Nachwinter könne ja ohnedies nicht mehr von langer Dauer sein, und da genügten dann gewöhnliche Galoschen. Als ich bemerkte, daß ich auch solche nicht besitze, erklärte er, Galoschen seien ungesund und verhinderten die Hautausdünstung. Also, in dieser Winterpracht feiere ich meinen 53. Geburtstag. Es wird kein Geld regnen, da ich keine Danae bin. Aber in die schlechte Bilanz des Jahres 1912 muß ich doch den Plus-Kontoposten meines Lebens einrechnen: »Nachwinter im März auf dem Semmering, und eine romantische » Petrarca-Liebe«!

Hier ist es friedvoll, vertauschte Haselnußbergstöcke, vertauschte Schneeschuhe, vertauschte Frauen sind das einzige bemerkenswerte Ereignis. Aber man findet sich in alles. Eine Dame sagte mir: »Sehen Sie, dieser von Ihnen gestern so gepriesene Herr ist doch kein Gentleman. Er trägt abends zu Lackpantoffeln, Pumps, Wollsocken!« – »Pardon«, erwiderte ich, »ich habe das im Drang meiner Begeisterung übersehen!« – »Ein so scharfer Beobachter wie gerade Sie, Herr Altenberg?!« – »Ja, auch wir sind eben nur irrende Menschenkinder!«

Bobby

Ich habe sowieso nichts mehr zu verlieren, nichts mehr zu gewinnen, ich stehe vor der »großen Abrechnung« meines Lebens. Jetzt erkläre ich, daß ich die weiße, hellbraungefleckte echtrassige Foxterrierhündin Bobby, mit ihren acht rosigen Brust- und Bauchwarzen (selbst die edelsten Damen haben nur deren zwei), für schöner, graziöser, liebenswürdiger, herzlicher, menschenfreundlicher halte als die meisten Frauen. Sie erregt nie in mir Eifersuchtsqualen und Verzweiflung, hat eine unbeschreibliche Freude, wenn ich nett zu ihr bin, sagt nie bei einer solchen feinfühligen Gelegenheit: »Zahl' lieber an Kaviar und laß die billigen Faxen – – –«. Denn erstens frißt sie Gott sei Dank gar nicht Kaviar, und zweitens »fliegt« sie grad auf meine »billigen Faxen«, das heißt meine seelische Verehrung, Anerkennung und Liebe!

Ich ziehe also Bobby allen Frauen vor, freilich sage ich das erst öffentlich am Ende meiner sogenannten »Liebeslaufbahn«, mit einem Wort: nach meiner Schlacht von Sedan. Bobby hat um mich geweint, gewinselt, sich gekränkt, den Appetit verloren. Die übrigen Weibchen hatten gerade in meiner Gesellschaft stets einen riesigen Appetit, während ich kaum die Absicht hatte, ihnen ein »Kalbsgulasch« zu bezahlen. Und dann, Bobby hat noch einen großen Vorteil, sie gehört nämlich gar nicht einmal mir, sondern einer reizenden bekannten Dame, der die Fürsorge für sie obliegt. Ich selbst schmeichle mich nur bei Bobby ein, um ihre zärtliche Freundschaft zu genießen. Ich will keine Spesen haben, und »äußerln« führe ich auch nicht. Frauen haben immer irgendwelche Bedürfnisse! Aber ich bin nicht in der Lage, sie zu befriedigen – – –. Das nimmt zu viel Kräfte weg und Zeit! Liebe ohne alle Spesen ist meine letzte Erkenntnis auf Erden.

Psychologie

Mich interessiert an einer Frau meine Beziehung zu ihr, nicht ihre Beziehung zu mir!

— — — — —

Daß ich ihr eine exzeptionelle Achatbrosche schenken darf, macht mich glücklich, nicht daß sie sie gerührt annimmt!

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Ich küsse ihre Haarlocke in meinem Zimmer anbetend, aber ihre braunroten Haarsträhne mögen im Winde flattern für alle Welt!

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Sie hat Migräne, und ich renne nachts in die Apotheke. Für mich hat sie Kopfweh, da ich besorgt bin, es ihr zu lindern!

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Wenn sie »Wintersport« treibt, zittere ich um ihre zarten geliebten Gazellenglieder! Für mich allein betreibt sie daher »Wintersport«!

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Ein Hut, der ihr schlecht steht, macht mich unglücklich, ein Hut, der ihr zu fesch-kokett steht, macht mich ebenfalls unglücklich! Für mich allein also trägt sie alle, alle ihre Hüte!

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Die Speise, die ihr nicht schmeckt, macht mich unglücklich, die Speise, die ihr schmeckt, macht mich glücklich. Für mich, für mich allein daher ißt sie!

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Der Blick, mit dem sie einen anderen liebenswürdig anschaut, macht mich, mich allein unglücklich! Daher gehört dieser Blick mir, mir, und nicht ihm, dem eitlen Laffen!

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Mir, mir allein gehört alles, was von ihr kommt, Böses und Gutes, denn ich, ich allein empfinde es!

Das Glück

Ich erwartete das Glück vergeblich Jahre und Jahre lang. Endlich kam es und setzte sich zutraulich an mein Bett. Es hatte gelbbraunen Teint wie die Javanerinnen, schmale, lange Hände und Finger, Gazellenbeine und bewegliche lange Zehen. Ich sagte: »Oh, bist du wirklich, wirklich endlich das Glück, das lang ersehnte, tief entbehrte?!?« – »Ich werde es dir morgen schreiben, ob ich es wirklich bin oder nicht. Du wirst selbst urteilen – – –.«

Am nächsten Morgen fand ich einen Zettel, auf dem geschrieben stand: »Adieu, auf Nimmerwiedersehen – – –.« Ja, es war also wirklich und wahrhaftig »das Glück« gewesen!

Sanatorium für Nervenkranke

(aber nicht die, in denen ich mich befand!)

Morgenvisite.

Der Doktor sitzt, wie ein Staatsanwalt ernst blickend und forschend, an einem riesigen Schreibtische.

Der Delinquent (Patient) tritt ein.

»Bitte, nehmen Sie Platz – – –.«

Pause, in der der Staatsanwalt (Arzt) den Verbrecher mustert, ob Paralyse oder Simulation vorhanden sei – – –.

»Also, mein lieber Peter Altenberg, ich kenne Sie nämlich schon seit langem aus Ihren interessanten Büchern und erlaube mir daher den konventionellen Titel ›Herr‹ bei einem berühmten Manne wie Sie wegzulassen. Ihre Verehrerinnen apropos sollen Sie ja direkt mit ›P. A.‹ titulieren!? Diese Ehrenabkürzung wage ich bisher noch nicht – – –.

Aber zur Sache! Also, mein lieber Peter Altenberg, was werden wir denn zum Frühstück nehmen?!?«

» Wir?! Das weiß ich nicht. Aber ich selbst nehme Kaffee, hellen Milchkaffee – – –.«

»Kaffee?! So?! Also Kaffee, hellen Milchkaffee –?!? Also schön, Kaffee – – –!«

»Ja, bitte, es ist mein gewöhnliches Getränk, an das ich seit dreißig Jahren gewöhnt bin – – –.«

»Ganz gut. Aber Sie sind eigentlich hier, um sich von Ihrer bisherigen Lebensweise, die Ihnen anscheinend bisher nicht besonders genützt hat, zu entwöhnen, vielmehr die nötige Energie zu akquirieren, solche Veränderungen Ihrer gewohnten, ja vielleicht allzugewohnten Lebensweise allmählich wenigstens vorzunehmen!?! Nun, bleiben wir also vorläufig beim Milchkaffee. Aber weshalb diese dezidierte Aversion gegen Tee?! Man kann auch Tee mit Milch verdünnt trinken – – –?!«

»Ja, aber ich pflege Milchkaffee zu trinken – – –.«

»Haben Sie, Herr Altenberg, einen bestimmten Grund, den Genuß von Tee des Morgens für Ihre Nerven für unzukömmlich zu halten?!?«

»Ja; weil er mir nicht schmeckt – – –.«

»Aha, das wollte ich eben nur wissen. Also, mein lieber Herr, was nehmen Sie denn zu Ihrem so geliebten und anscheinend unentbehrlichen Milchkaffee dazu?!?«

»Dazu?! Nichts!«

»Nun, irgend etwas Konsistentes müssen Sie doch dazu nehmen! Ein leerer Kaffee schmeckt einem ja gar nicht – – –.«

»Nein, ich nehme nichts dazu; mir schmeckt nur ein leerer Milchkaffee – – –.«

»Nun, mein sehr geehrter Herr, bei uns geht das eben nicht. Sie werden mir freundlichst die Konzession machen müssen von zwei Buttersemmeln – – –.«

»Ich hasse Butter, ich hasse Semmeln, aber noch mehr hasse ich Buttersemmeln!«

»Nun, diesen Haß werden wir schon noch besiegen! Ich habe schon schwierigere Kunststücke fertiggebracht, mein Lieber – – –. So, und jetzt begeben Sie sich stillvergnügt zu Ihrem Frühstück in die Veranda. Noch eins: Pflegen Sie nach dem Frühstück auszuruhen?!?«

»Je nachdem – – –.«

»Je nachdem gibt es nicht. Entweder Sie ruhen oder Sie machen Bewegung – – –.«

»Also dann werde ich ruhen – – –.«

»Nein, dann werden Sie eine halbe Stunde lang gehen – – –!«

Der Delinquent verläßt wankend das Amtszimmer und begibt sich zum Strafantritte auf die Veranda zum Frühstücke, verschärft durch zwei Buttersemmeln.

Einige Tage später. Der Staatsanwalt: »Nun, sehen Sie, mein lieber berühmter Dichter, Ihr Gesichtsausdruck ist schon ein viel freierer, ich möchte sagen, ein menschlicherer, nicht so präokkupiert von fixen Ideen – – –. Haben Ihnen die zwei Buttersemmeln geschadet?! Na also!«

Nein, sie hatten ihm nicht geschadet, denn er hatte sie täglich im Hühnerhofe verteilt – – –.

Nachmittagsvisite.

»Herr Peter Altenberg möchten sogleich zum Herrn Direktor kommen – – –.«

»Setzen Sie sich, bitte.

Ich habe Ihnen den Alkoholgenuß strengstens untersagt – – –.«

»Jawohl, Herr Direktor – – –.«

»Kennen Sie diese ganze Batterie von leeren Slibowitz-Flaschen?!?«

»Jawohl, es sind die meinen – – –.«

»Man hat sie heute unter Ihrem Bette aufgefunden – – –.«

»Ja, wo sollte man sie denn sonst auffinden?! Ich habe sie ja dort deponiert – – –.«

»Wie haben Sie sich das Gift in meiner Anstalt verschafft?!«

»Ich bestach jemanden. Sein ehrliches Gewissen ließ es bei zwei Kronen nicht zu. Da offerierte ich ihm drei Kronen.«

»Sie sind also unschuldig an der ganzen Sache, sondern der ungetreue Diener ist der Schuldige! Ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen, obzwar er bereits fünfundzwanzig Jahre im Hause ist und sich, soweit ich es übersehen konnte, stets einer tadellosen Konduite erfreut hat – – –.«

»Herr Direktor, Sie haben mir doch noch gestern gesagt, daß ich in Ihrer Anstalt und durch das regelmäßige solide Leben hier mich um zwanzig Jahre direkt verjüngt hätte und fast gar nicht mehr wiederzuerkennen sei?!?«

»Das sagte ich aus pädagogischen Gründen, um Ihr Selbstbewußtsein zu stärken –.«

»Herr Direktor, darf ich mir die leeren Slibowitz-Flaschen bei Ihnen später abholen lassen?!? Ich bekomme nämlich für jede sechs Heller retour – –.«

Direktor zu dem unredlichen Angestellten: »Sie Anton, wie konnten Sie sich unterstehen, nach fünfundzwanzig tadellosen Dienstjahren, einem Patienten, und sei es auch ein berühmter Dichter mit Eigenheiten, solche Mengen Branntwein gegen Bestechung zu verschaffen?!?«

»Aber Herr Direktor, wenn ich das nicht schon seit Jahren bei hundert Alkoholikern getan hätte, wäre uns ja ein jeder schon am dritten Tag davongegangen, und wir hätten unsere Anstalt leer stehen gehabt!«

»Nun gut, Anton, aber sorgen Sie wenigstens dafür von nun an, daß die leeren Flaschen nicht gefunden werden – – –.«

»Herr Direktor, das hat mir der Diener Franz angetan, aus Rache, weil ich mir soviel nebenbei verdiene – – –.«

Direktor zum Diener Franz: »Sie, Franz, kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten! Sie verdienen genug, indem Sie unsere Alkoholiker mit unseren Hysterikerinnen ein wenig ›anbandeln‹ lassen – – –. Ein jeder hat sein Ressort. In einer Anstalt muß Ordnung herrschen!«

Landpartie

Ich bin »radikal« geworden. Ich mache mit einer mir sympathischen Dame eine Eisenbahnfahrt von 25 Minuten nach M. Wenn sie nicht am Fenster lehnt und in die Landschaft hinausstarrt bin ich bereits enttäuscht, nicht mehr ganz »à mon aise«. Sie erwartet also »anregende Konversation«, pfui! Wenn sie sagt: »Es zieht, machen Sie, bitte, das Visavis-Fenster zu«, bin ich mit ihr fertig. Rheumatismus zieht nicht bei mir, das ist schlechtrassig, so 1870, zur Krachzeit. Wenn ich ihr in M. das herzige, brausende, dunkle Flüßchen zeige, muß sie entzückt sein, ja sie muß, sie muß, sie muß! Wenn ich ihr den Frieden der langen Dorfstraße zeige, muß sie selbst »friedevoll« werden! Wenn ich ihr das niedere, schneeweiße Haus zeige mit den schwarzen Eisengittern und den vergoldeten Schleifen und sage: »Hier hatten die Generäle Napoleons des Ersten Quartier!«, so muß es ihr wie heiliger Schauer über ihren rosigen Rücken laufen! Billiger gebe ich es nicht. Es sind schlechte Zeiten angebrochen für wirklich zarte Seelen, und daher muß man prüfen, ehe man ewig Landpartien macht! Wenn sie in dem kleinen, traulichen Dorf-Kaffeehaus ihren Tee selbst bezahlt, ist es gut. Wenn nicht, ist es bedenklich. Wenn sie den Sonnenuntergang nicht beachtet, sondern lieber von einem erzählt, der sie einst sehr, sehr geliebt hat, ist es vollkommen verfehlt. Auch der Rauch der Lokomotiven sogar hat sie zu interessieren. Wenn sie sagt: »Ich möchte nicht gar zu spät nach Hause kommen«, so ist es falsch. Mit mir kommt man immer zu früh und nie zu spät nach Hause. Auf der Rückfahrt hat sie eine andere zu sein wie auf der Hinfahrt! Wie sie das macht, ist ihre Sache! In dem »langen Tunnel« hat nichts zu geschehen! Aber sie hat es innerlich zu bedauern, daß es so war! Ich bin »radikal« geworden. Eine Fahrt von 25 Minuten; Aufenthalt; retour – und ich weiß alles!

Oberflächlicher Verkehr

Ein Herr, den ich zehn Jahre lang nicht gesehen hatte, kam im Berghotel per Automobil an und sagte zu mir: »Gut, daß ich gerade Sie hier begrüßen kann. Sie kennen sich doch auf dem Semmering gewiß gut aus. Wo ist hier der Raseur?!« – »Gleich im Hause daneben«, erwiderte ich. – »Ich wußte es ja«, sagte er beglückt, »daß ich mich an die richtige Adresse gewendet habe; adieu – – –.«

Ein Herr schreibt mir aus Prag: »Teurer verehrter Meister, in Ihrem Buche ›Prodromos‹ ist ein englischer Reibhandschuh angepriesen. Kann ihn in ganz Prag nicht finden. Bitte auch um genaue Angabe des Preises!« Ich schrieb zurück: »Bürsten sind nur in Eisenhandlungen zu finden, Preis eine Krone und 10.000, je nach der Qualität!«

Eine Dame, die mir ausnehmend gut gefiel, sagte mir: »Ich habe ein diskretes Anliegen an Sie. Können Sie mich nicht mit Ihrem reizenden Freunde bekannt machen?!« – » Nein!«, erwiderte ich schlagfertig.

Ein Herr aus Berlin schrieb mir: »Wie lange wollen Sie noch uns Leser mit Ihren Brocken von angeblicher Seelentiefe anöden?!« Ich erwiderte, ich sei zwar schon ziemlich abbröckelnd, aber den genauen Zeitpunkt des definitiven Endes könne ich nicht angeben, er möge sich noch ein wenig gedulden – – –.

Jemand fragte mich, wo denn eigentlich meine Bücher zu haben seien?! Worauf ich erwiderte: »Ich glaube, der Bäckermeister oder der Schuster dürfte noch einige Exemplare auf Lager haben – – –.«

Jemand schrieb mir aus Klein-Höflein, wo ich nie gewesen war und auch niemanden kenne: »Falls Sie nicht innerhalb acht Tagen Ihre Schuld von 11 Kronen 60 Heller bezahlen, werde ich die Sache meinem Advokaten übergeben!« Infolgedessen bezahlte ich 11 Kronen 60 Heller nach Klein-Höflein. Wenn ich nur wüßte, wo dieser Ort liegt?!

Jemand sagte zu mir: »Ah, Sie sind der berühmte Herr Paul Altenberger, über den so viele gute Witze kursieren?!« Ich sagte, ich hätte noch andere Qualitäten, und entfernte mich hoheitsvoll-gelassen.

Eine junge Dame sagte zu mir: »Einmal und nicht wieder!« Ich hatte sie nämlich ihr Nachtmahl selbst bezahlen lassen. Freilich hatte ich die vergebliche Hoffnung gehabt, sie würde auch meines gleich mitbezahlen – – –.

Eine reiche Familie, der ich es mitteilte, daß heute, 9. März, mein Geburtstag sei, sagte im Chore, daß man es mir wirklich gar nicht ansehe, ich schaute aus wie ein guterhaltener Fünfziger. Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte den »Fünfziger« gut erhalten!

Das sind lauter oberflächliche Bekanntschaften, nichts Solides dahinter, kein Gemüt und kein Geld. Es ist sehr, sehr schwer, Menschen zu finden, die sich wirklich und ernstlich an einen anschließen – – –.

Herbstlied

Die Ahornblätter sind wieder goldgelb, man kann die einzelnen goldenen Bäume zählen im dunklen Forste. Also ist es Herbst.

Gerade vor einem Jahre sah ich sie, 25. September 1911.

Sie war 11 Jahre alt. 11! Was macht es?!?

Der Wald bot damals alles, was er heute bietet, und immer bieten wird – – –.

Nur ich bin düsterer geworden, weil ich zuviel an ihre Zukunft denke.

Als ich sie damals sah, da ging ich in den Wald, um mir es einfach jauchzend mitzuteilen: »Du hast das Herrlichste erschaut!«

Jetzt aber, tieferfüllt von ihr, seh' ich im düsteren Herbstwald dunkle Schatten kommender Eroberer!

Oh, Gnade, Gnade, Ihr Herren, für mein geliebtes Kindchen!

Tut ihr nichts!

Die Ahornblätter sind wieder goldgelb geworden, man kann die goldenen Bäume einzeln zählen im dunklen Forste. Also ist es Herbst.

Die Wagenfahrt

Alle sagten zu ihm sehr bald »Herr Peter« oder »Peter«. Aber sie sagte nach langer Bekanntschaft »Herr Altenberg«. Er schrieb ihr das. Sie sagte weiter wie bisher: »Herr Altenberg«, obzwar er eine zärtliche Freundschaft für sie hatte. Eines Tages fuhren sie im Wagen durch seine geliebte Berggegend. Da erzählte sie von der Krankheit ihres Kindchens, erzählte, weinte, erzählte, weinte, verstummte. Er sagte: »Ich liebe hier jeden Strauch, ich kenne jeden Acker, jeden Wiesenzaun – – –.« Beim Abschied sagte sie: »Adieu, Peter – – –.«

Vom Rendezvous

Sie ging den steilen Wiesenpfad hinab,
zum Rendezvous.

Ich sah braune Stauden ihre Röcke streifen. Ich sah ihr nach.

Bald kam Himbeergebüsch, das sie begrub.

Um ¼1 sollte ich sie erwarten.

Sie kam zurück, von Küssen ganz bedeckt.

Wie wenn die rechte Hand geheiligt wäre,
reichte sie mir die linke,
die ich an die Lippen hielt,
solang bis Wehmut kam und übertropfte – – –.

Erster Schnee

12. September 1912. Es regnete und es schneite zugleich. Der Sonnwendstein war bedeckt mit Schnee. Das war ein Lokalereignis. Jedermann besprach es eifrig. Die herrliche 14jährige, wie eine Venetianerin aus dem 18. Jahrhundert, stellte sich an die Fensterscheibe und sah hinaus. Alles andere ward sogleich dagegen lächerlich und gleichgültig. Für sie war Schnee gefallen auf dem Sonnwendstein, denn sie interessierte sich dafür. Ich hätte ihr zwei Meter hohen Schnee gewünscht, ganze weiße Hügel und Abgründe, damit sie sich besser amüsiere bei dem Anblick! Sie sah hinaus, und ich beneidete die Fensterscheibe um den Hauch ihres unbeschreiblich schön modellierten Mundes. Überall zogen Nebelfetzen dahin, dorthin, zerfetzten, verwischten die Landschaft, ertränkten sie in Grau. Das junge Mädchen begann sich zu langweilen. Es wird ein öder Tag werden in diesem Berg-Hotel. Mir erschien er licht und wertvoll! Sie setzte sich hin, um mit einem Kinde ein Spiel mit gelben, grünen, lila Würfelchen zu spielen. Sie ließ das Kind absichtlich gewinnen. Das Kind sagte: »Mit dir spiele ich nicht mehr, du spielst zu schlecht, immer verlierst du, du Ungeschickte!«

Frage

Was ist ein Dichter?!

Einer, der schon weinen kann,
wenn noch die andern trockenen Herzens sind –.

Einer, der die sechsjährige Prinzessin Sonja Dungyersky
so zärtlich lieb hat wie die eigene Großmama sie lieb hat!

Einer, der abends im Gebirge den eingefangenen Oleanderschwärmer
auf das einzige Oleanderbäumchen setzt im Garten,
das ihn aus ferner Ebene hierher verlockt hat!

Einer, der die braune Nacktschnecke behutsam
vom Waldweg ins Gebüsch trägt – – –.

Einer, der Rosen schenkt und sie bezahlt mit seinem Nachtmahlgelde – – –.

Einer, der die geliebte Hand berührt und dabei Hochzeitsnächte spürt von Seligkeiten!

Einer, der leidet, leidet – – –
und alle sagen: »Was fehlt ihm denn zu seinem Glücke?!«

Einer, der die Schale kauft, aus der sie Kakao getrunken hat.

Einer, der ein »innerer Bombenwerfer« ist,
und dabei doch so sanft, so mild verständnisvoll für alles!

Einer, den alle verlachen,
und um den sie trauern, wenn er nicht mehr ist!

Die Niere

Zu den wahrhaftigsten und mich aufrichtig rührenden Opfern, die ein Mann einem geliebten Weibe bringt, rechne ich es immer, wenn er beim Nierenbraten die Niere ihr überläßt, vorausgesetzt natürlich, daß er sie selbst gern ißt. Aber wer äße die Niere nicht gern?! Diese Niere ist überhaupt so ein sicherer Thermometer in Liebessachen. Zum Beispiel: »Otto, weshalb ißt du denn die Niere nicht?!« – »Ich esse sie, und noch dazu am liebsten, deshalb lasse ich sie mir für zuletzt!« – »Ach so«, erwidert Hermine enttäuscht. Oder: »Max, du ißt ja die Niere doch nicht!«, und hat sie schon in ihr Mündchen gesteckt, während Max nichts im Halse stecken bleibt als das Wörtchen: »O doch!« Oder: »A schöne Lieb', frißt die Niere selber auf, da schau' der an da!« Diejenigen Herren jedoch, die »das Opfer der Niere« bringen, tun es auch meist ziemlich geschmacklos, indem sie innerlich sich anstellen, als hätten sie jetzt Anspruch auf Dankbarkeit und Treue ihr ganzes Leben lang! Nein, dem ist nicht so. Die Damen nehmen gern die Leckerbissen an, die man ihnen spendet, aber sie haben die richtige Idee, daß solche Selbstlosigkeiten sich durch das Gefühl eines höheren Wertes, das man von sich selbst bekommt, reichlich belohnen! Wozu also die Sache überzahlen?!

Entzweit

Oft sagte ich ihr, was mir an ihr nicht recht war – – –

Ganz verzweifelt starrte sie mich mit bösem Blicke an.

Ein Abgrund öffnete sich, meine Liebe und ihre Freundschaft aufzunehmen.

Dunkel ward's und kalt.

Hilflos ist die Frau in solchen Augenblicken, glaubt stets sich etwas zu vergeben, falls sie milde wird, ergeben,
fällt der bangen Stunde hilflos stumm anheim.

Ich sagte: »Hörst du die Holzfäller, den Schwarzspecht, riechst du der feuchten Wurzelstämme braunen Moder, siehst du die Bläue des letzten Enzians, fühlst du meinen Schmerz?«

Sie sagte: »Mit solchen Reden wollen Sie mich versöhnen?!«

»Mit solchen Reden nicht, doch überhaupt. Und irgend etwas muß gesprochen werden, sei's dies, sei's jenes. Vielleicht findet sich ein Wort – – –. Es muß ein Wort einfach gefunden werden, das sich wie eine Notbrücke von meiner Seele zu der deinen spannt!«

Und sie: »Siehst du, du bereust – – –«.

»Ja, ich bereue, daß meine Liebe größer als meine Sehnsucht, dich zu bessern, ist!«

Gleich beim Hotel

Gleich beim Hotel, links von der weißen Straße,
ist eine abschüssige Wiese, die niemand betritt.

Im Urzustande ist das vielfarbige Fleckchen.

Auf roten Disteln wiegte sich der Distelfink,
und graue Brennesseln bargen gelbe Schnecken.

Es war ein Gewirr von Braun und Grau und Weiß,
mannshoch und dicht. Im Mondlicht lag es düster.

Hier erschaute ich der holden Jahreszeiten holden Wechsel.

Oberhalb wurde gebaut mit hunderttausend weißen Betonwürfeln,
und unten war das Bahngeleise nach Triest.

Hier aber, auf dem abschüssigen unzugänglichen Wiesenfleckchen, gab ein Monat dem anderen die Tür.

Ein jeder kam in seinem Prachtgewande.

Und jeden grüßte ich dankbaren Blicks.

Es war mein Kalender. Ich erkannte jeden Monat, jede Woche, ja jeden Tag an den Veränderungen.

Als alles blühen wollte, sah ich es voraus;
ich sah voraus, als alles sterben mußte!

Plauderei

Ausspruch eines fünfjährigen Mäderls:

»Wenn man alleweil brav ist, wissen die Leut' dann gar nicht mehr, ob man noch auf der Welt ist!«

Die Eltern tragen mir ununterbrochen Anekdoten über ihre vergötterten Kindchen zu. Sie sind tief überzeugt davon, daß es gerade mich interessiere! Ich interessiere mich auch wirklich dafür, daß sie alle so tief überzeugt davon sind, daß ich mich dafür interessiere! Denn diesen schönen Schein zu erwecken, heißt eben ein Dichter sein! Und als das möchte man doch gerne gelten, wenn man schon weder Beruf noch Geld hat, nicht?!?

»Mein Knabe sagte mir gestern«, »mein Mäderl sagte mir vorgestern«, höre ich alle Tage zehnmal. Ob eines dieser kleinen Mistviecherl einmal zu der reichen Mama den genialen Ausspruch täte: »Mama, wenn du mich wirklich lieb hast, dann gibst du diesem entzückenden alten kranken Dichter eine Monatsrente von fünfzig Kronen – – –!«

Ausspruch eines sechsjährigen Mäderls beim Abschied vom Semmering: »Ach, wie werde ich fürder ohne meinen geliebten Pinkenkogel und Sonnwendstein existieren können?!«

Ich hätte gerne geantwortet: »Sehr gut wirst du fürder existieren können, indem ich dir fürder für jeden affektierten, verlogenen, manierierten Ausspruch deinen Hintern aushauen werde – – –!«

Gegen

Es ist eine der infamsten Lügen der »Modernen«, daß es »ewigen Fortschritt« gäbe! Wenn ich das schon sage, will es etwas heißen! Die Cremoneser Geigen, die Amati, Guarneri, sind nicht zu übertreffen, ja nicht einmal ihr »Spiegel-Lack« und ihre »Schnecke«. Der Seiltänzer Blondin, der vor vierzig Jahren über den Niagara tanzte und mitten über dem Katarakte auf einem zusammenlegbaren Sparherde sich eine Eierspeise kochte und sie aß, auf einem Klappsessel sitzend, ist nicht zu übertreffen. Ebenso nicht die Koloratur der Adelina Patti, die Lackarbeiten, Seidenstickereien der Japaner, und Goethes Gedichte. Aber diese Herren, nomina sunt bekannt, wollen in Malerei, Musik und Dichtkunst »ewige Fortschritte« uns einreden? Und gerade ausgerechnet sie? Bei dem nicht zu übertreffenden »Vollkommenen« demütig halt machen können, ist Fortschritt! Nach Mozart hat man keine Quartette mehr zu schreiben!

Erlebnis

Ich kaufte mir für eine Krone eine Porzellankaffeeschale mit gemalter Ansicht: »Semmering, Hotel Panhans«, steckte eine große Rolle Papier hinein, auf der geschrieben stand: » Das sind die ›Andenken‹, die die reichen Damen ihren unglücklichen Dienstboten vom Semmering mitzubringen pflegen!«

Und das Dienstmädchen sagt gerührt: »Aber gnä' Frau, nein so was – – –!«

Aber sie meint: »Nein, so was Billiges, Scheußliches!«

Kaum hatte ich die Sache auf meinem Tische aufgestellt, besuchte mich ein reicher Gutsbesitzer. »Großartig«, sagte er, »wir fahren heute weg. Meine Frau hat drei solcher Kaffeeschalen für unsere Dienstboten gekauft! Und ich sag' Ihnen doch, mein lieber Altenberg, solche Leut' freut das am meisten!« »Ja, Schnecken!«, wollte ich sagen, aber ich sagte: »Selbstverständlich, sicherlich.« Dann sagte er: »Zeigen Sie's jedenfalls meiner Frau, vielleicht gift' sie sich.«

Berghotel-Terrasse, Semmering

Daß ich da bin, ist mir ein ewiges Rätsel – – –.

Ich war schon in der Gruft, durch Schuld der Ärzte!

Heimtückische Mörder ihr, nein, schrecklicher, Idioten!

Nun hab' ich den Bergwald vor meinem Fenster, und die Stimme der K. P. jauchzt und singt und spricht Gesänge; bloß wenn sie nur sagt, was alle Menschen sagen; Gewöhnlichstes wird zum ewigen Ereignis. Wie man es sagt, ist alles, was, ist nichts!

Und die Komtesse schreitet, fliegt, schwebt, schlängelt sich über die Terrasse – – –.

Das süße Kindchen Sonja Dungyersky steht da in braunen Locken, und ihre Beine sind dünn und braun wie die von Gazellen – – –.

Daß ich noch bin, ist mir ein ewiges Rätsel. Gott, schütze mir die, deren Schönheit mich berauscht! An denen ich krank werde und gesund zugleich!

Berghotelterrasse aus Beton, mit deinen grellroten Tischen, Sesseln, ich war dein erster Morgengast, und ich begrüße dich zärtlichst, du Feuchte noch vom Morgentau! Im äußersten Ecke saß ich, oberhalb der Baumwipfel, und starrte in den weißen Mürztalnebel! Ich sah dich erstehen aus grauen nassen weichen Betonhaufen; ich wartete 21 Tage auf deine Marmorhärte; ich war dein erster Gast!

Erkenntnis

Alle Frauen rächen sich am Manne für irgendeine Unzulänglichkeit, die sie besitzen! Häßliche Fingernägel machen sie bereits boshaft und gereizt. Von einem »unidealen Busen« gar nicht zu sprechen! Da begehren sie Tag und Nacht auf mit dem grausamen Schicksal, verzehren sich in Leid, und lassen sich's nicht merken! Deshalb muß eigentlich jeder Mann milde sein, gerührt, gestimmt zum Verzeihen! Wenn eine die Genialität hätte, es zu sagen: »Ich bin unglücklich über mich selbst!« Aber das wagen sie nicht, es sich selbst einzugestehen. Sie verlassen sich auf die Güte des Mannes, der sich »sekkieren, quälen, ungerecht behandeln« läßt! Sie haben aber recht, denn seine Liebe ist von Gott eingegeben, und ihr Schicksal ist irdisch und ein bißchen vom Teufel! Er hat die göttliche Kraft, zu leiden, mitbekommen, sie die irdische Schwäche, glücklich sein zu wollen!

Klara

13. Juli, vormittags. Sie ging, in weißem Kleide, langsam den Wiesenweg hinauf. Ich sah sie; und sah sie wieder nicht. Sie grüßte, und ein Gebüsch verdeckte sie. Dann sah ich sie wieder. Langsam sah ich ihr weißes Kleid und ihre blonden Haare dem Wald zuschweben. Ich stand gebannt und grüßte nicht. Sie wußte, wie mir zumut war. Sie grüßte noch einmal. Wie wenn man sagte: »Du bist der erste, der gebannt steht und vergißt, zu grüßen – – –!«

Sie wußte dennoch nichts von ihrer heiligen, schrecklich-süßen Macht. Ich aber warf mich aufs Bett und weinte – – –. Dann kam sie zurück. Ich sah ihr weißes Kleid und ihre blonden Haare. Gebüsch verbarg sie, mochte sie entschwinden. Dann sah ich sie wieder. Ich verneigte mich. Sie ging vorüber; und wie eine Regenwolke kam es über die lichte Landschaft –.

Ein Komtessen-Brief

Lieber Peter Altenberg,

weshalb sagen Sie mir das über die »göttliche Vollkommenheit meines Leibes«, den Sie unbedingt unter allen Hüllen nackt sehen?! Ich habe doch schon alle Untugenden, die unser Stand, unsere Sorgenlosigkeit, unsere Verwöhnung von früh bis abends, mit sich bringen ohne unser Hinzutun!? Jetzt kommt noch die Begeisterung eines Dichters hinzu, also eines Menschen, der nichts will als begeistert, berauscht, gerührt sein?! So ein Beschenker! Sie werden mich nicht eitel machen, Edler, ich werde nur denken: »Vielleicht verhilft es ihm zu einem Gedichte, das wieder anderen hilft, wenn sie es lesen!?« Und dennoch habe ich mich abends in dem Stehspiegel angeschaut und gedacht: »Dichter wissen doch alles!«

Liebesgedicht

Ich wußte es, sie hatte mich betrogen – – –.

Betrogen? Nein. Sie hatte nur vergessen, es mir zu sagen, es mir mitzuteilen – – –.

Denn ich hätte es ihr gestattet; wie einem Kindchen Kugler-Gerbeaud-Bonbons, von denen man nicht wissen kann, wie zart sie schmecken – – –.

Das Stubenmädchen brachte mir ihren, meinen armseligen Ring, zehn Kronen, den sie auf Zimmer 109, im Bett gefunden hatte.

Dann ging ich in die Bergwiesen, in den Wald, zu unserem heiligen Ruheplätzchen.

Hochgelbe Arnika wuchs, weißer Klee, braune Schuppenwurz, lila Orchideen, ein Liebesteppich.

Sie hatte mich betrogen. Nein.

Dort, siehe, war es ein weißes Bett gewesen wie tausend Betten – – –. Ein weißes, weißes, nichtssagendes Bett.

Hier aber war Bergwiesen-Liebesteppich, in Gottes bunter Pracht! Hier blieb sie mir treu!

Le Monde

Die Schaukel war weit ausgebaucht und braunrot.

Im Winter sah sie nach nichts aus, im Sommer wurde sie mir eine lichte Welt! Klara, Franziska schaukelten darin, vormittags, nachmittags bis zum Abend, in weißen Batistgewändern, mit blondgoldenen, wehenden Seidenhaaren.

Im Winter sah die braunrote Schaukel nach nichts aus, im Sommer wurde sie mir eine lichte Welt –.

Dann kam der Herbst und dann der erste Schnee. Da blickte ich denn oft dankbar hinaus zur Schaukel, tief dankbar für das einst Gebotene.

Ein Regentag

Es regnet. 9. Juli 1912, nachmittags 5 Uhr. Ganz dichte graue Schleier ziehen über den Bergwald vor meinen Fenstern. Alles trieft, ist untergetaucht in Nebel. Die Blumen haben ihre Farbe verloren, die Blechdächer glänzen, sind von Staub gereinigt, naßpoliert. Die Schaukel, die Schaukel. Vormittags schaukelte noch die sonnigste Frau, die blondgelichtete, die musiksprechende, in der Sonne! Ich sah sie schweben und weinte. Mir ist nichts anderes gegeben als zu weinen. Ich kann keine Lieder komponieren zum Preise, wie Brahms, Hugo Wolf, Grieg. Ich kann nur eine Melodie – – – weinen. Klara, Klara. Es regnet. Graue Schleier ziehen über den Bergwald vor meinem Fenster. Es duftet nach nassem Wald natürlich. Alles ist wie ertränkt. Klara, Klara, du sitzest in deinem Zimmer, lernst wichtige Dinge, fürs nächste Jahr, für die Prüfung, für das Leben. Deine blonden Lockenwolken streifen das weiße Papier, auf dem du schreibst – – –. Du sagst: »An einem solchen faden Nachmittag ist's noch am besten, zu lernen – – –!«

 

Hotel-Stubenmädchen

Ich sagte zu meinem Hotel-Stubenmädchen: »Johanna, Sie werden von Tag zu Tag unaufmerksamer gegen mich. Gestern waren sogar keine Zündhölzer vorhanden.« Sie sagte: »Jetzt wird es schon wieder besser werden. Ich habe nämlich meine Schwester, 27 Jahre alt, verloren, man hat ihr zum Schluß das ganze linke Bein abgenommen. Sie hat gesagt: ›Ich möchte auch mit einem Bein leben!‹ Aber es ist doch nicht gegangen.« Sie brachte mir zehn Pakete Zündhölzchen. Sie sagte: »Wenn man nur wüßte, wofür man so schwer bestraft wird!? Die Dame auf Nr. 32 hat sicherlich mehr gesündigt als wir, und wie fein lebt sie?!«

Ich sagte: »Johanna, wenn es auf Erden richtig zuginge, brauchten wir ja nicht die Hoffnung aufs Himmelreich – – –«

Sie sagte: »Entschuldigen Sie vielmals die zahlreichen Versäumnisse der letzten Tage. Meine arme Schwester hat ausgerungen. Jetzt kann ich wieder meine Pflicht erfüllen!«

Moderner Dichter

In unserm Leben gibt's so viel Nuancen – – –

Die eine sagt: »Arzt meiner kranken Seele!«

Die andre sagt: »Wie schrecklich er nur aussieht!«

Die eine lauscht begierig der Persönlichkeit,
die andre sieht pikiert den Gegensatz zu den andern!

Die eine schreibt: »Darf ich zu Ihnen kommen?!«

Die andre hält's für zynisch, wenn er im Gespräch sanft-zärtlich ihre Hand berührt.

Die eine sagt: »Ein Romantiker ohne Herz!«

Die andre sagt: »Ein Herzlicher ohne Romantik!«

Und jede sieht ein »für« und »wider« – – –
und keine spürt, daß »für« und »wider« eins ist
in einem, in dem »für« und »wider« zugleich sind!

Noch nicht einmal Splitter von Gedanken

Als ich dem jungen Offizier mitteilte, ich hielte ihn für den Typus des »Eroberers« und beneidete ihn um sein Glück bei Frauen, erwiderte er: »Schau'n S' Peter, schau'n S', Glück gibt's nicht! Die, bei denen man Glück hat, da ist es doch kein Glück. Die hat man von selbst. Dort erst wäre es erst ein Glück, wo man kein Glück hat. Und grad' da hat man kein Glück!«

— — — — —

Nur mit dir, Geliebte, hat das Leben für mich noch einen Reiz. Aber ohne dich hat es noch mehr Reiz!

— — — — —

Es gibt kein laues Bad von 27 Grad und keine gute Kernseife, die nicht jede Sünde der Frau hinwegwüschen!

— — — — —

Eine Frau, der ich ihr Alles bin – – – pfui Teufel!

— — — — —

Es gibt zwei Sorten moderner Musiker – – –die Ehrlichen, das sind die, die den Richard Wagner bestehlen! Und die Unehrlichen, das sind die, die originell sind!

— — — — —

Millionäre trösten uns immer damit, man könne sich auch an Austern »überessen«. Aber in diesen Zustand eben einmal zu gelangen, ist ja das Glück!

— — — — —

Man ist häufig genötigt, in der guten Gesellschaft das Wort »entzückend« auszusprechen. Ich habe daher im Tonfall dabei bereits so viele Nuancen mir zurechtgelegt, daß eine Dame mir einmal, als ich etwas »entzückend« fand, sagte: »Sie grober unverschämter Kerl! So ekelhaft ist es ja doch nicht, wie Sie es finden!«

— — — — —

Sie bezahlte Champagner und beleidigte mich durch die Art, wie sie es tat!

Ich zahlte Champagner, und sie versöhnte mich durch die Art, wie sie es annahm!

— — — — —

Wenn ein Blumenmädchen in einem Vergnügungslokale an deinen Tisch tritt, dir für deine Dame eine Rose anzubieten, so muß die Dame sofort erklären, daß sie keine wünsche. Sonst macht sie sich ebenfalls einer Erpressung schuldig!

— — — — —

Wenn in einem Geschäfte eine Kundschaft nach einer Ware sich erkundigt, die nicht vorhanden ist, so haben die Verkäufer nicht stolz-abweisend zu erklären: »Nein, das führen wir nicht – – –!«, sondern zerknirscht-reuevoll.

— — — — —

3jähriger Wahrheitsfanatiker, aus dem noch was werden kann:

»Wen hast du denn besonders lieb, Bubi?! Die Mama?!«

»Nicht besonders – – –.«

»Dein Schwesterchen?!«

»Nicht besonders – – –.«

»Wen also hast du besonders lieb?!«

»Die Schokolade!«

— — — — —

Liebesbrief:

»Oh, ich habe ein so grenzenloses Vertrauen zu Ihnen, daß ich es auch dann nicht verlieren könnte, wenn Sie es mißbrauchen würden!«

— — — — —

Die Forelle, der Hecht sind gefährliche, ewig auf der Raublauer liegende Tiere. Aber man fängt sie geschickt mit irgendeinem Köder. Bei Frauen macht man es aber ungeschickt. Meistens reißen sie sich los und verspeisen nur den Köder!

— — — — —

»Woher nehmen Sie ununterbrochen Ihre Begeisterung für Frauen, Kinder, die Natur?!«, sagte jemand zu mir.

»Von Abführmitteln! Tamar Indien Grillon! Von meiner › inneren Unbeschwertheit‹!«

»Sie scherzen!«

»Gewiß. Denn Sie würden davon nur Diarrhöen kriegen!«

— — — — —

Mein Gehirn hat Wichtigeres zu leisten als darüber nachzudenken, was Bernard Shaw mir zu verbergen wünscht, indem er mir es mitteilt!

— — — — —

Musik ist: wie wenn die Seele plötzlich in einer fremden Sprache ihre eigene spräche!

— — — — —

Eine junge Frau sagte zu mir: »Oh, wenn ich so gebildet wäre wie die Frau Sch., dann wäre ich noch gebildeter als sie!«

— — — — —

»Sie durchschauen uns, mein Herr!«

»Ja, aber auf der anderen Seite ist es doch wieder dasselbe anziehende Mysterium!«

Fauna und Flora

An dem adriatischen Meeresufer findest du morgens um sieben viele kleine Bündel von angeschwemmtem zähen Grase vom Meeresgrund, und kleine Muscheln in ganz modernen Farbennuancen, von Grau in Schwarz, von Braun in Lila, von Gelb in Braun. Die Japaner scheinen von da ihre diskreten, fast mysteriösen Farbentöne her zu haben. Die großen teuren Muscheln stammen aus dem Indischen Ozean und sind wertvolle wertlose Prunkstücke. Aber die kleinen Muscheln, hier umsonst, sind kleine moderne erlesene Kunstwerkchen der Natur! Eine Dame sagte zu mir: »Eine ist doch so wie die andere!« – »Für mich nicht!«, erwiderte ich. Die kleinen, seitwärts gehenden Krabben sind entzückend. Sie suchen herzig und ungeschickt das Weite, aber wenn sie es nicht mehr können, so zwicken sie sanft mit ihren Miniaturscheren. Am Meeresufer ist ein bewegtes Leben und Treiben; aber die Büschel von geheimnisvollen dunkelgrünen zähen Gräsern, die herrlichen Muscheln und die Krabben sind wie von tausend Jahren her, wo Menschen noch nicht das Strandbad kannten. Auch du wirst einst nicht mehr sein, die du mich nun in jugendlich-lächerlichem Stolz abweisend mit den Blicken mißt, und deine Brüste werden die Spannkraft eingebüßt haben, so oder so; und ewig wird das Meer noch Grasbüschel auswerfen, Muscheln und Krabben. Und mein Leid wird vielleicht leben, denn sterblich ist das Jauchzen, es verhallt; der Seufzer aber ist unsterblich. Er dringt zu Gottes feinem Ohr. Der schenkt ihn wieder der Welle, die ans Ufer klagend fällt. Gott liebt das Leid; wie es kommt, ich weiß es nicht; es muß wohl »göttlich« sein. Gott liebt das Leid, es reinigt! Die satte Freude liebt er nicht!

Le Lido

As-tu vu le sable brun de la mer?!

Non, je n'ai rien vu – – –
j'ai vu Maria!

As-tu vu l'eau sans fins et les écumes blanches?!

Non, je n'ai rien vu – – – j'ai vu Maria!

As-tu entendu le bruit de la mer?!

Non, je n'ai rien entendu – – – j'ai entendu la voix de Maria!

N'as-tu pas senti venir la santé du corps, par le soleil?!

Non, j'ai senti venir la maladie de l'âme, par Maria!

— — — — —

Erfüllte Bitte um ein Autogramm, an Herrn Platon de Naxel, Venise:

»Il y a un mystère, qui nous fait vivre – – la femme!

Il y a une réalité, qui nous fait mourir – – la femme!«

Die Brosche

Sie ließ durch eine Freundin nachforschen, wieviel die Amethystbrosche gekostet habe, die ich ihr geschenkt hatte.

»15 Lire!«, sagte sie dann zu mir. »Ich weiß, was das bei Ihnen bedeutet!«

»Es bedeutet › Liebe‹!«

»Hätten Sie es auch noch für mich gekauft, wenn es 25 gekostet hätte?!«

»Auch!«

»Und bei 40?!«

»Nicht!«

»Weshalb?!«

»Weil es meine Verhältnisse überstiegen hätte!«

»Aber da fängt gerade die echte Liebe erst an!«

»Bei mir nicht! Bei mir hört sie da auf!«

Jalousie

Eifersucht?!

Fraue, du steckst mir meine Grenzen?! Bis dahin und nicht weiter?! Kindische Törin!

Bin ich nicht eifersüchtig auf die Luft, die du in deinen geliebten warmen, feuchten Mund einatmest?!

Wie darf sie, ganz gefühllos, die weichen Innenwände deines Mundes spüren?!

Bin ich nicht eifersüchtig auf den Bissen, den du mit dem geliebten Speichel sanft umnässest?!

Von da zum Blick von Sympathie und Freude, zu einem lebendigen Mann, ist noch eine Welt!

Du wunderst dich, daß ich verzweifelt bin,
da ich dem Löffel doch schon deine Zunge nicht gönne!

Ich trauere um alle Schätze, die du so vergeudest; dem Bette deine Ausdünstung, dem Glase deine Lippen!

Aber beim »lebendigen Mann« ergreift mich der Irrsinn.

Weshalb stirbt er nicht momentan vor Glück, der feige Hund?!

An seiner Leiche würde ich weinen, ihn beneidend um seinen schönen Tod.

Jedoch, er geht lebend hinweg und denkt: »Die könnt' ich haben!«

Fluch ihm, nein, dir!


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