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Er sah am »Gänsehäufel« ein fremdes junges Mädchen, ganz lang und schlank, goldbraune wehende Haare, lange, schmale Hände und Füße, ein ockergelbes seidenes Trikot an dem mulattenbraunen Leibe.
Er konnte sie nie, nie, nie mehr vergessen.
Er sah in einer japanischen Akrobatentruppe ein fünfjähriges Mäderl, gelber Teint, Stumpfnäschen, schwarze Haare wie eine Perücke. Lebendig gewordenes Kinderspielzeug!
Er konnte sie nie, nie, nie mehr vergessen.
Er las von einer wunderschönen Preisfechterin in Venedig, aus reicher, geachteter Familie, die ohne Grund, neunzehnjährig, sich aus ihrem Zimmer, drei Stockwerke hoch, aufs Pflaster stürzte und starb.
Er konnte sie nie, nie, nie mehr vergessen.
Er hatte neben sich eine, ganz, ganz neben sich, hart neben sich, bei Tag und bei Nacht.
Die konnte er aber vergessen, vergessen, vergessen!
Freaks sind noch lange keine Genies, obzwar Genies oft Freaks waren. Sie waren es eben doch nur scheinbar. Denn hinter ihnen thronte Gott und die Natur, wenn auch ein wenig in allzu grotesken Formen. Es gibt Räusche, in denen man Symphonien dichtet; und es gibt Räusche, in denen man sich erbricht. Beides sind Räusche, Ekstasen, übertriebene Zustände. Aber Rausch und Rausch sind nicht gleich; und nicht jeder torkelnde Betrunkene schreibt dann in seinem einsamen Zimmer Schubert-Lieder!
Ein fünfzehnjähriges wunderschönes Stubenmädchen stahl ihrer Herrin zwanzig Kronen.
Die Herrin schickte zur Polizei und machte die Anzeige von dem Diebstahl. Da nahm die Fünfzehnjährige, die ihrer Mutter zum Namenstag ein Geschenk hatte machen wollen, eine Flasche mit Spiritus, trank die Hälfte aus, übergoß ihre Kleider mit der anderen Hälfte, zündete sie an. Nach elf qualvollen Stunden verstarb sie im Wasserbett.
Einfache künftige Polizeivorschrift:
Anzeigen gegen Untergebene unter zwanzig Jahren wegen Diebstahls unter 100 Kronen werden zwar angenommen aber, sobald es sich um einen ersten Fall handelt, in den Papierkorb geworfen!
Man vertröste die anzeigende Kanaille, daß sich der Fall leider »verzögert« habe – – –.
Ich lag wieder einmal im Sterben. Einer sandte mir daher Kalbsfußgelee in Glasdose, statt mir seine junge, schöne Geliebte zu senden, die mich unbedingt eher hätte erretten können als Kalbshaxen! Das Kalbsfußgelee hatte einen geheimnisvollen, uneröffenbaren Verschluß. Daher war es auch ganz gleichgültig, daß es vor dem Eröffnen zwei Stunden lang in Eis liegen sollte. Einer kam sehr teilnahmsvoll und besprach es mit mir ziemlich eingehend, ob er seiner Mitzi den Laufpaß geben solle oder nicht, da doch, wie ich wisse –. Wir berieten hin und her, und er meinte schließlich, er sehe, ich sei nicht ganz bei der Sache. Zum Schlusse sagte er: »Hast du große Schmerzen?! Merkwürdig, daß diese Anfälle in letzter Zeit so häufig wiederkommen. Vielleicht sieht man dich übrigens morgen im Gasthaus. Da können wir es weiter besprechen.« Eine Dame kam, und ich teilte ihr mit, daß sie die schönsten Ohren, Hände von der Welt habe. Sie meinte, ich bliebe noch in der Sterbestunde ein Dichter, ein wirklicher Künstler. Einer kam und legte seine Zigarettenasche auf mein Nachtkästchen aus Bambus, neben die große, tiefe Aschenschale. Einer trug mir ein Buch weg, unter dem Vorwande, ich könne in meinem jetzigen Zustande ohnedies nicht die Sammlung finden, es zu lesen. Einer sagte mir, man dürfe sich nicht so sehr nachgeben, sondern müsse die Krankheit durch Energie überwinden. Gott, wo käme er selbst hin, wenn er sich immer gleich ins Bett legen wollte und sich pflegte!? Eine junge Dame schrieb: »Verehrter Meister, ich höre, daß Sie schwer krank sind. Darf ich um ein Autogramm bitten?!« Als ich wieder genesen war, sagte man zu mir: »Nun, Peter, du ewig Unzufriedener, hast du es nicht jetzt wieder einmal erlebt, von wieviel Sympathie und echter Freundschaft du in schweren Zeiten dennoch umgeben bist?!« Ich blickte gerührt vor mich hin – das heißt, ich dachte: Verbrecher und Schafsköpfe!
In deinen Augen lese ich dein Leben – – –
mehr brauch' ich nicht zu wissen, es ist alles.
Und deine Stimme ersetzt mir die Musik der Welt!
Deine Hände zu schauen, macht dankbar gegen das Schicksal – –
und sie berühren macht mich tief erschauern!
Wie eine geknickte Blume prangst du in der Welt,
die trotzig starrt von harten Pflanzen!
Nur du erzeugst mir Sehnsucht, Gottes edle Qual!
Die anderen genießt man, wenn sie da sind,
und die Entfernung legt sie zu den Toten!
Von dir aus strömt des Dichters Leid und Not,
an diesem Stoffe brennen seine Flammen!
Wenn du von Lieblingsliedern sprichst, hör' ich sie tönen;
wenn du von Lieblingsbüchern sprichst, so hab' ich sie gelesen!
Wenn du von schönen Frauen sprichst, so seh' ich sie,
wenn du von Männern sprichst, so sterb' ich vor Verzweiflung!
Und die Welt erdunkelt mir – – –.
Der Bann, der Bann, Bannsegen ohne Fluch! So bannst du mich!
Du bist verstört, von tausend geheimnisvollen Kräften hin und her getrieben,
die aber mir zu Tau und Sonne werden,
indem ich sie gerührt betrachte und begreife,
wie eine Mutter ihres geliebten Kindes Rätsel – – –
Entfern' dich nicht! Denn wenn du mich verläßt,
erlischt für dich dein eigener Zauber – –
und eine Welt ersteht, die dich brutal genießen will!
Ich habe mit Begeisterung diese Hefte angesehen, gelesen. Es ist endlich die Natur »aus erster Hand«, unverfälscht durch den Künstler, der sich seit Jahrhunderten verbrecherischerweise zwischen Gott und die Urromantik des Seins drängt, ein zwar notwendiger, aber für unsereinen überflüssiger Vermittler und Erklärer der Schätze des Daseins! Wir sind selbst » Künstlermenschen« geworden!
Dieser » Hochzeitstag« zum Beispiel der Eber im dunklen alten Forste; ja, weshalb hat bis heute keiner von den protokollierten »Landschaftern« so etwas gemalt?!? Diese schwarzen Ungetüme, in Liebe aufgelöst, einer auf den anderen getürmt; die anderen schauen dumm zu, und der Forst ist voll riesiger schwarzer Stämme. Solche Dinge bringt heutzutage die »Kamera« fertig und beschämt den Maler, der den Eber »mit seinem Auge«, also falsch sieht! Der Japaner allein bemühte sich, der Natur mit unsäglichem Fleiße nahezukommen, beizukommen. Aber bei uns steht immer der Größenwahn des »Menschen« der einfachen schönen Wahrheit heimtückisch hinderlich im Wege! Der Maler bringt überall »seine Seele« hinein, für diejenigen, die nicht einmal »ihre eigene dumme Seele« besitzen! Aber Gottes Seele, die aus jeglichem ausstrahlt, muß endlich ohne Vermittlung dieses Hofmeisters »Künstler« erfaßt werden können! Wer eine Frau erst als wertvoll, als mysteriös, als Verhängnis empfinden, sehen, erfassen könnte, wenn der geniale Maler ihre Werte gemalt, der Dichter ihre Werte besungen hätte, dem, dem wird sie ihr Leben lang nur ein »unenträtselbares Sexualtierchen« bleiben! Der Künstler ist ein Lehrer und Vermittler, und solange man seiner bedarf und er als wertvoll erscheint, ist man nur ein »Schüler des Lebens«, ein Nicht-Schauen-und-Hören-Könnender in Gottes All hinein, ein Menschlein, fern dem Herzen und Gehirne, das in der Natur überall geheimnisvoll verborgen liegt, auf daß erst der zum wirklichen Leben »Ausgereifte« es genießen dürfe auf seinem Weg zum Heile, zur Gottähnlichkeit! Den anderen ist es wohlweislich verschlossen, und man schickt diese »Babies« in die »Lebensschule« zum Herrn Lehrer »Künstler«, der ihnen primitiverweise die Anfangsgründe beibringen soll, mit leichtfaßlichen Beispielen, »Kunstwerke« genannt!
Wir aber entnehmen diesen mit der einfachen »Kamera« aufgenommenen » Lebensbildern aus der Tierwelt«, R. Voigtländers Verlag, Leipzig, und diesen Texten, die nur klar und einfach berichten von den Ereignissen des Tierlebens bei Tag und Nacht und zu jeder Stunde, und von den »Homerischen Kämpfen« unter Grashalmen und Gebüschen verborgen, wir entnehmen ihnen alle Poesien, alle Romantik, alle Tragödien, alle Rätsel, die es hienieden gibt! Unsere Lehrer sind Gott und Natur!
Man müßte eigentlich einer geliebten Frau diese in Lieferungen erscheinenden »Lebensbilder aus der Tierwelt«, R. Voigtländers Verlag, Leipzig, als Geschenk senden. Denn es ist ein absoluter Prüfstein für ihre »inneren Werte«; wie sie darauf nämlich reagierte!?
Nun, ich habe das mit einer unbeschreiblich verehrten Dame getan.
Sie schrieb mir zurück: »Lieber Freund, sein S' mir nicht bös, aber dös interessiert mich leider gar nicht ...«
Nun, hat es meine Anhänglichkeit an sie aber zum Schwinden gebracht?!? Keine Spur!
Liebes, liebes Fräulein Mitzi
von der »Lamingson-Truppe«!
Ich weiß es nicht, wie lange Sie noch in Wien und hier im »Casino de Paris« bleiben werden, und eines Tages können Sie fort sein, fort auf Nimmerwiedersehen, irgendwohin in die lustige oder traurige Welt der Künstler, der Artisten, tausend und tausend merkwürdigen Schicksalen und Begebenheiten ausgesetzt!
Mögen Sie es daher wissen, daß ein alter armer glatzköpfiger uneleganter Dichter Ihnen nachweinen wird und Ihre herrliche liebliche wundervolle Persönlichkeit gleichsam im Innern seiner Augen aufbewahren wird, lange lange lange Zeit – – –.
Man vergleicht oft junge Mädchen mit schlanken Rehen im Walde; aber niemals, niemals hat ein Vergleich so sehr gestimmt! Sie sind das schlanke rührende edelbeinige Reh, nicht ahnend, woher der Schuß eines grausamen Jägers kommen wird im Waldesfrieden – – –.
Ihre lieben lieben, beim Lächeln zusammengezwickten Augen, werde ich nie nie vergessen, nie Ihre blondbraunen Haare, Ihre aristokratisch-noblen Glieder, Ihre edelgebogene und dennoch rechtzeitig abstumpfende Nase, Ihren süßen Mund!
Wenn Sie fort sind, Mitzi, Fräulein Mitzi, wird es mir sein, wie wenn mir etwas ungeheuer Liebes gestorben wäre, und ich werde Ihnen nachtrauern und um Sie besorgt sein!
Ihre außergewöhnliche Schönheit, Ihr Leib, der wie das zarte Gedicht eines Dichters ist, haben mich tief, tief gerührt; und ich möchte, daß junge, reiche, elegante Männer mit derselben Ehrfurcht vor Ihrer lieblichen Herrlichkeit sich innerlich verneigen könnten wie ich alter Mann.
Man müßte Sie betreuen und beschützen wie einen kostbaren lebendigen Gegenstand, man müßte für Sie sorgen bei Tag und bei Nacht. – – – Mit liebevollster Fürsorge!
Lächeln Sie nicht, wenn Sie diese Zeilen lesen, Ihre Härte könnte mich nicht verwunden, nicht verletzen – – –.
Ich bete zu Gott, daß Sie glücklich werden, Sie Allerlieblichste!!!
Peter Altenberg.
Rokoko
In dieser Zeit lebten Menschen, die vom Leben nicht wußten, wie es wirklich und einfach ist!
Sie lebten in einem »falschen Märchenlande« – –.
Denn das »echte Märchenland« ist die Romantik des Kartoffelfeldes in einer wirklichen Mondnacht! Solange die menschlich-kindischen Herzen noch nicht reif sind für die ernste »Romantik der Natur selbst«, schaffen sie sich »kindische Spielereien«! Aber diese »Verirrten« waren wenigstens » Wege-Sucher«, die sich nur kindisch verirrten! Das wollen wir ihnen also zugute halten!
Frau E... R...
Schaffst du denn Symphonien, weibliches Beethoven-Antlitz?!?
Du bist ein Weib, kannst dich nicht austönen!
Nicht dich erlösen!
Ein Spiegelbild der Welt kannst du nicht sein!
Zur Tagestat zu groß, zur ewigen zu klein!
So bleibst du Weib und kannst's dennoch nicht sein!!
Helle Wolken und schwarze Bäume!
Für Kinder zum Schrecken, Gespenster!
Für Dichter zum Weinen!
Und der gewöhnliche Mensch geht dran gelassen vorüber, sagt: »Das wäre etwas für Kinder zum Schrecken, und für Dichter zum Weinen!«
Weg im Winter
Geliebter verträumter verschneiter Weg! Ging ich hier mit Anita?!? Oder träumte ich nur, daß ich hier mit ihr gehen möchte?! Fußspuren im Schnee, ihr paßt nicht zu Anitas geliebten Schuhen – – –.
Hie und da rauschen Schneeklumpen zur Erde. Wie wenn der Frühling es versuchte, den Winter bereits abzuschütteln!
Zaun, wie machst du die Landschaft melancholisch! Im Grenzenlosen etwas Abgegrenztes!
Hier ist Friede – – –. Hier weine ich mich aus über alles. Hier löst sich mein unermeßliches unfaßbares Leid, das meine Seele verbrennt. Siehe, hier sind keine Menschen, keine Ansiedlungen. Hier tropft Schnee leise in Wasserlachen – – –.
Hier suchte sie die ersten Blüten und fand nichts. Und ich sagte zu ihr: »Diese gelbgrünen feuchten Rasenflecke, die der zerrinnende Schnee bloßlegt, sind schöner als Blumen – – –.« Da sah sie hin und erkannte!
Hier bleibe stehen mit deiner geliebtesten Freundin und belausche ihr Antlitz – – –! Fühlt sie dasselbe wie du, dann kannst du beruhigt mit ihr weiterschreiten, in die Gelände des Lebens!
Ich suchte eine Frau, die den Schnee wirklich liebte; und ich fand keine! Sie benützten nur den Schnee für ihre Skier! –
Junge Ochsen auf der Weide. Einst im Sonnenbrande, ziehend am allzu schweren Gespanne, könnt ihr euch nicht mehr der kühlen Weide erinnern. Aber in eurem traurig-dummen Auge spiegelt sich alles, und kein Gram geht verloren in der gramvollen Welt – – –.
Margueriten im hohen Grase. Alles blüht und atmet Frieden! Auf dem Boden leben aber und sterben lautlos hunderttausend Insekten. Nur der Mensch erhebt seine Stimme und beklagt sein Schicksal. Kann er es ändern?! Ja. Er kann wenigstens weinen und schreien. Und falls er es nicht kann, tun es für ihn liebevoll die Dichter!
Portrait d'une jeune femme
»Je suis venue pour donner – – – prenez, prenez, prenez!!«
Cléo de Mérode
Unzerstörbares Antlitz; Zeit und Erlebnis versuchen es vergebens, in deinem edlen Erz sich einzugraben –!
Der Nebenmensch ist ein Gegenmensch. Er will nicht helfen, sondern schädigen. Wäre er selbst ein Zufriedener, wünschte er nur Zufriedenheit zu verbreiten; als Unzufriedener wünscht er uns ebenfalls nur Friedlosigkeit!
Ich kenne eine Sache im Leben, die mich am tiefsten ergreift von allen, die ich erlebt habe. Es ist in der Stille des nächtlichen Liebesgartens der Gesang der edlen Wächterin Brangäne. Es ist die tönend gewordene Selbstlosigkeit, inmitten der nächtlichen Liebesgefahren. Es ist die Warnung an die Allzuirdischen, die in der Melodie des Herzens zugleich eigentlich von selbst ertönt; es ist die Klage der tiefsten, echtesten Freundschaft, hineingesungen in den dunklen Garten. In jedem Menschen sind solche Gefühle aufgespeichert, besonders in den alten Kinderfrauen, die man entläßt von ihren Lieblingen, wenn man sie nicht mehr braucht. Aber sie weinen sich im stillen aus, alle diese Herzvollen, während bei Brangäne das Leid und die edle Sorge um einen geliebten Menschen helltönend wird, und in die dunkle, harte, grausame Welt hinausstöhnt! Auch unsre alte Bedienerin Luise sang uns ein unvergeßliches Lied, als sie beim Abschiede mir und meinem Bruder schrieb: »Die sieben Jahre in Ihren Diensten, meine Herren, waren das Glück und der Segen meines ganzen Lebens – – –.« Alle diese versteckten, edel-tragischen Dinge der dienenden Menschenherzen ertönen in Brangänens Gesang. Alle in der Menschheit bisher leider vergeblich aufgestapelten Selbstlosigkeiten und Ergebenheiten werden da zu singender Klage; aber die Menschen der leidenschaftlich irrigen Stunden vernehmen nichts davon als ihre eigenen, zum Abgrund führenden Sündhaftigkeiten, deren Brausen alles übertönt – – –.
auf der Photographie eines Mädchens aus gutem Bürgerhause:
Adelige schmale Hände hast du, adelige Füße und Zehen, müde edle Anmut ist in deinem Gehen und Sitzen und Kauern, und deines biegsamen Leibes eidechsenschlanke Linien sind wunderbar, Yolanthe Maria!
Aber zum Zugrundegehen, zum langsamen, armseligen, bist du bestimmt! Zum Verfaulen bei lebendigem Leibe!
Denn sicher willst du gehen, Unsichere!
Auf geebnetem Pfade willst du Gipfel erklimmen?!?
Schamlose, Feige! Willst du Lord Byrons edlen Feueratem spüren, mußt du bereit sein, eventuell dich zu versengen!
Willst du finden können, so mußt du suchen können, gleiten und stürzen können!
Auf geebnetem Pfade kommt nur Herr Kohn daher, reicht dir die Hand, daß du nicht » fallest«!
Sie war sehr, sehr krank. – Der Arzt verordnete einen halben Liter heiße Zitronenlimonade, ein wollenes Tuch um den Kopf und stundenlang schwitzen.
Sie war aber arm, und die Quartiersfrau, bei der sie wohnte, konnte ihr nur eine dünne Bettdecke geben. Da sandte ihr der Dichter seine grün-rote Flanelldecke, die er selbst benötigte, und sein Freund, der Baron, sandte eine Pelzdecke aus selbstgeschossenen Wildkatzenfellen, die er gar nicht gebrauchte.
Als nun der Dichter sie besuchte, fand er die Pelzdecke direkt auf ihrem heißen, glühenden Leibe liegen, die Flanelldecke dagegen zuoberst. Er sagte es ihr sogleich ziemlich brutal, daß er dieses für einen »Treubruch« halte, wenn auch in den ersten Anfangsstadien.
Sie erwiderte: »Ich wollte deine Decke streicheln können, immer und immer mit meinen zärtlichen Fingern. Deshalb gab ich sie zuoberst.« »Du Falsche! –«, sagte der Dichter und ging zürnend weg.
Später kam der Arzt und sagte: »Ich würde Ihnen vorschlagen, Fräulein, die schwere Pelzdecke zuunterst zu legen, und die leichtere Flanelldecke oben darauf; es ist zweckmäßiger!«
»Nein«, sagte sie, »das tue ich nicht«. Als sie endlich gesund war, sagte der Arzt von ihr: »Die Hysterie solcher Patientinnen erschwert den Heilungsprozeß ganz besonders. Selbst in nichtigen Kleinigkeiten müssen sie ihren lächerlichen eigensinnigen Willen durchsetzen. –«
»Ich habe viel erlebt und erlitten, natürlich, in meinem Pflegerinnenberufe. Aber die Nacht des 5. März als Pflegerin des Peter Altenberg war die schrecklichste und merkwürdigste. Am Tage vorher hatte ich sein Buch ›Bilderbögen des kleinen Lebens‹ gekauft und gelesen.
Nun sah ich ihn da liegen, ganz verwahrlost, von Leiden zerfressen. Ich fühlte es, daß er über seinen eigenen Untergang tief verzweifelt sei. Sein Idealismus war untergegangen, und es blieb die Ruine übrig. – Ich bemitleidete ihn nicht, sondern die vielen, vielen, denen so die Früchte seines Geistes, seines großen Herzens entgehen sollten.
Ich hatte die Empfindung: ›Hund, du darfst noch nicht verrecken, du hast uns Ärmsten noch manches zu spenden, du hast uns noch aufzuklären, hast uns sogar besser zu machen! Was schleichst du dich fort, Sünder, ehe du alles für uns ausgesprochen hast?!‹
So schändlich egoistisch dachte ich über diesen sich windenden Wurm in diesen schrecklichen bangen Nachtstunden. Ich richtete ihm die Polster, wischte ihm den Angstschweiß ab, aber es geschah in einer verbissenen Bitterkeit gegen ihn! Den Helfer!
Wer, wer hätte sich denn gesund und ewig lebendig erhalten müssen als er? Und indem ich an die Werke dachte, die er uns vorenthielt, pflegte ich mit Widerwillen einen unglückseligen Kranken, der zum vorzeitigen Sichfortschleichen aus der Welt gar nicht das Recht hatte uns gegenüber – – –.«
Meine Schwester, Sektionsrätin M., besuchte mich, und sagte an meinem Krankenlager: »Du, diese so überaus wirksame Schlammbadkur in Bad X wurde vollkommen um den Effekt gebracht durch einen merkwürdigen und schrecklichen Umstand, der meine Nerven einfach ermordete. Denke dir, dort stopft man noch die Gänse, diese allerunglücklichsten Geschöpfe einer ohnedies schon genug furchtbaren und unerbittlichen Welt! In dunklen Kellern, in den glühheißen Augustnächten, hocken diese Unglückseligen in absichtlich zu eng gemachten Holzkäfigen, werden Tag und Nacht gewaltsam gefüttert, und es wird ihnen durch all diese grausigen Wochen hindurch das Trinken von Wasser verwehrt! Das entsetzliche Schicksal dieser Unglückseligen in den unterirdischen Folterzellen hat mich den Ort zu fliehen gezwungen. Mein Töchterchen Hilde, die die ganze Sache entdeckt hatte, ging täglich oftmals insgeheim mit einer Kindergießkanne in die Folterkammer, und goß den gemarterten Gefangenen Wasser in die weit aufgesperrten Schnäbel. Die wunderschöne junge Slowakin Viktora aber lachte dazu aus vollem Halse, als sie das Samariterwerk sah, und sagte: »Fräulein Hilde, wird sie auch eingesperrt werden so, wenn Frau sie erwischt – – –?« Aber unsere französische Gouvernante Hélène sagte: »Madame, en Suisse cela ne se fait pas, on ne connait pas ces martyrs infames –.«
Ich erwiderte meiner Schwester: »Ich bin ganz, ganz erstaunt über deinen Bericht. Gerade von dir, meiner Schwester, die ich jahrelang nicht sehe und spreche! Welcher merkwürdige Zusammenhang der Nerven! Gerade vor einem Jahre schrieb ich nämlich folgende Skizze:
Man führte die edle Zwölfjährige nach Berlin, um ihr alles zu zeigen, was es dort Herrliches gebe. Automobilfahrten zu allen Seen, Varieté, Theater; man ließ ihr das Paradies »Berlin« erstehen, soweit es für eine Zwölfjährige seine Tore überhaupt öffnen konnte. Als sie wieder nach Wien zurückkehrte, fragte sie eine Dame: Nun, Lilly, wo ist es besser zu leben, in Deutschland oder in Österreich?! Und Lilly H. erwiderte: Nur in Deutschland kann man existieren! Da habe ich bemerkt, daß die armen Pferde an den Lastwagen viel geschickter und rücksichtsvoller angebrachtes Riemenzeug tragen als bei uns, das ihnen die Arbeit erleichtert und Torturen erspart. Und dann habe ich auch noch erfahren, daß es in ganz Deutschland bei strengster Strafe verboten ist, Tiere künstlich zu mästen, und daß geheime Agenten, in der Verkleidung von reichen Viehkäufern, sämtliche Bauerndörfer Jahr für Jahr daraufhin kontrollieren und für jeden entdeckten Fall hohe Belohnungen erhalten!«
Meine Schwester nahm meine Hand und sagte ruhig: »Nun, was ist dabei, wir sind eben Geschwister –!«
Wir, die nicht genug haben an den Taten des Alltages, wir Ungenügsamen der Seele, wir wollen unseren rastlosen, enttäuschten und irrenden Blick richten auf die Wellensymphonien des Sees, auf den Frieden überhängender Weidenbäume und die aus düsterem Grunde steil stehenden Wasserpflanzen!
Auf die Menschen wollen wir unsern impassiblen Blick richten, mit ihren winzigen Tragödien und ihren riesigen Lächerlichkeiten; mit düsterer Verachtung wollen wir nichts zu tun haben, und mildes Lächeln soll der Panzer sein gegen ihre Armseligkeiten!
Dem Gehen edler anmutiger Menschen wollen wir nachblicken, dem Spiele adeliger Gebärden und der Noblesse ihrer Ruhe! Ein Arm auf einer Sessellehne, eine Hand an einem Schirmgriff, das Halten des Kleides bei Regenwetter, süßes kindliches Bacchantentum bei einem Quadrillefinale, wortloses Erbleichen und wortloses Erröten, stummer Haß und stummes Lieben, und alles Auf und Ab der eingeschüchterten und zagen Menschenseele – – – das, das alles wollen wir Stunde um Stunde in uns hineintrinken und daran wachsen!
Rastlos aber, vom Satan Gejagten gleich, stürmen die Anderen enttäuschungsschwangeren Zwecken entgegen, und ihre Seele bleibt ungenützt, verdirbt, schrumpft ein, stirbt ab!
Jeder Tag bringt einen Abend, und in der Bucht beim Toscana-Garten steht Schilf, und Weiden und Haselstauden hängen über, ein Vogel flüchtet, und alte Steinstufen führen zu weiten Wiesen. Nebel zieht herüber, du lassest die Ruder sinken, und niemand, niemand stört dich!
Der Rathauspark duftet nun von edlen Bäumen und edlen Sträuchern. Es ist kühl und schattig. Aber damals war es eine endlose graue Wiese mit eingetretenen staubigen oder kotigen schmalen Fußwegen. Eines Tages stand eine grüne Bretterbude da, das erste Wandelpanorama in Wien, genannt »Der Rigi«. Es roch nach Öllämpchen, und mein Hofmeister und ich saßen in der ersten Reihe auf Strohsesselchen. Der Rigi und alle Seen und Bergesketten zogen an uns vorüber, zu den Klängen eines italienischen Werkels. Dann wurde es allmählich finster, und die Berghotelfenster beleuchteten sich, denn sie waren ausgeschnitten und dahinter Licht. Das gefiel mir. Später machten wir eines Tages die erste Pferdetramwayversuchsfahrt mit, vom Schottenring bis Dornbach. Es fiel mir auf, daß es fortwährend klingelte, was bisher bei den Fuhrwerken nicht zu beobachten war. Man hielt das Ganze für gefährlich und unsicher und glaubte nicht recht daran, daß es sich einbürgern werde.
Die Sonntage wurden in Hietzing bei »Domayer« verbracht. Es fiel uns angenehm auf, daß unser Vater dem Fiaker, der uns führte, du sagte und sich in leutselige Gespräche mit ihm einließ. Er kam uns vor wie ein milder Potentat. Die Trinkgelder waren enorm, gleichsam die Entschädigung für das vertrauliche Du. Die Rückfahrten vom Lande abends sind das Schönste; da schläft man wie ein Toter. Man verflucht den Moment der Ankunft, der Wagen ist das wunderbarste Bett gewesen. Aber jetzt kommt Stiegensteigen, Ausziehen, eine unsäglich beschwerliche Arbeit.
Gebratene Äpfel spielten bei uns eine große Rolle. Alles duftete in den Zimmern danach. Das ist ganz abgekommen. Auch gedünstete Kastanien, goldigglänzend, auf schwarzgrünem Kohlpüree, waren eine Festspeise, die jetzt im Absterben begriffen ist. Die neue Generation macht sich nichts daraus.
Wir vergötterten unsere Hofmeister und Gouvernanten, und sie uns. Die Eltern spielten nur eine zweite diskretere Rolle, traten erst in Aktion bei außergewöhnlichen Ereignissen. Sie waren einfach der »Oberste Gerichtshof«. Wir lebten »romantische Idyllen«, deshalb fiel es uns später so schwer, dem realen Leben Genüge zu leisten – – –.
Vöslau, eigentümlicher Ort, einzige wirkliche Sentimentalität, die ich habe. Deine grünbefranste Station ist geblieben wie eh und je. Nur meine wunderschöne Mama, die mich im Damenbade sorgsam auf ihren Armen wiegte, ist längst nicht mehr. Die Lindenblüten rochen wunderbar und das sonnengedörrte Holz der Kabinen und die Wäsche der triefenden Schwimmanzüge. Der Kies brannte die zarten Kinder- und Frauensohlen. Vom Wald kam Tannenharzduft, und von den Hausgärten kamen Millefleursgerüche. Meine Mama hielt mich zärtlichst mitten im Teiche, der für mich ein Ozean war! Sie verschwendete ihre romantische Zärtlichkeit an ein egoistisches, verständnisloses Kindchen, das ihren Hals in Angst umklammerte. Wunderbar ist der eingedämmte Bach, von der Station aus bis zum Bade. Links ungeheure üppige Wiesen, die zu nichts zu dienen scheinen und herrliches, dichtes Unkraut produzieren, für nichts und wieder nichts. Der Wind rauscht eigentümlich in den Tannen. Man hält es für einen mysteriösen Aufenthalt für Rekonvaleszente, für kleine zarte Mäderln. Es ist so ein Sanatorium für müde Menschen. Die graublaue Ursprungsquelle von vierundzwanzig Grad Celsius ist wie lebenspendend. Sie spricht nicht viel, sie murmelt und gewährt! Viele Hausgärten sind voll von Frieden und Pracht. Im Cafégarten hart beim Bade ist es kühl von Baumschatten wie in einem Keller. Daneben ein unbekannter Park wie ein Urwald. Niemand hat ihn vielleicht je betreten, ihn gestört in seinen überschüssigen Kräftespendungen! Wozu braucht man Brasilien, und Lianenverstrickungen und Blütendunst und Geranke?!? Dieser Park ist Urwald. Vöslau, immer noch, seit fünfundvierzig Jahren, ist deine Station grünbefranst, und in dem Bache plätschern lustig die Enten, die unmittelbar darauf abgestochen werden, denn der murmelnde Bach ist nur ein letztes Reinigungsbad, gleichsam eine Vorleichenwaschung. Beim Bade duftet es nach Lindenblüten. Nichts hat sich verändert. Nur meine Mama ist nicht mehr.
Nun sah ich dich, Unbekannte, mit deiner bräunlichen Haut und dem krebsroten nassen seidenen Schwimmtrikot, am »Gänsehäufel«, und bin an dir vor Sehnsucht erkrankt. Immer, immer seh ich dich mit deinen unbeschreiblich edlen Gliedern an Wassers Rand entlang gehen mit weiten Schritten – – –.
Oh, weshalb durft' ich dir nicht sagen: »Kaiserin des Strandbads!« Dir hätte es nicht geschadet, und mich hätt' es erlöst, wie es müde enttäuschte Menschen erlöst, wenn sie in stillen Kirchen vor einer heiligen Frau niederknien –. So aber wandle ich, krank an meiner fanatischen Zärtlichkeit, dahin –. Kaiserin des Strandbads – – –.
An Unzulänglichem werden wir vorzeitig alt und müde, verlieren den Glauben an die Realisierbarkeit von Gottes Träumen. Da seh ich dich, Edelstgegliederte, und fange wieder an zu glauben – – –!
In Kleidern, geschützt durch Seide und Batist, oder im Bett, wo des Mannes Leidenschaft sein Auge trübt, wohlan! Da nehmen wir vorlieb, begnügen uns!
Jedoch, aufrechten Ganges, in Licht und Luft getaucht, in nassem Schwimmtrikot, da besteht keine außer dir diese zärtliche Prüfung! Nun sah ich dich und wurde krank an dir, weil ich nicht wenigstens flüstern durfte: »Kaiserin!«
Als Kinder saßen wir Abend für Abend mit unsern geliebten Eltern im Stadtpark, im Kursalon. Wir bekamen Eis und Hohlhippen und hatten keinerlei Sorgen. Der Vater geht nun seit Jahren nicht aus seinem bequemen Zimmer mehr heraus, und die Mutter nicht aus dem bequemen Totenschrein. Ich, glatzköpfig und sorgenvoll, komme nun in den Stadtpark, Kursalon, auf die Terrasse, an denselben Tisch, an welchem wir einst sorgenlos mit den geliebten Eltern saßen. Ich bestelle dasselbe Eis, Himbeer-Schokolade, wie als Kind, mit recht vielen und knisternden, also frischen Hohlhippen. Vor mir die Gartenbeete wie einst, ein bißchen bunter, origineller. Ich sehe Eltern mit ihren Kindern. Sie zanken und schelten. Unsre Eltern zankten und schalten nie, nie. Vielleicht war es schlecht, daß sie es nie taten, aber sie hatten Achtung vor ihren eigenen Erzeugnissen, und Zuversicht! Wir haben sie enttäuscht; aber sie haben es hingenommen als Schicksal und Verhängnis. Wir haben ihre Tränen, die sie um uns weinten, nie gespürt – – –. Die Gartenbeete, auf die ich herabblicke, sind ein wenig bunter, origineller. Aber sonst hat sich nichts verändert, in den Zeiten vom dummen Kind zum müden Mann! Ich sehe Eltern, die ihre Kinder im Park schelten; unsre Eltern schalten uns nie; sie erhofften es, daß wir sie einst belohnen würden für ihre Güte; aber wir taten es nicht. Wir hatten eine schöne Kinderzeit; so tauchen wir denn hinab in Erinnerungen, da wir vom seienden Tage nicht leben können. Wir hatten allzu sanftmütige, hoffnungsfreudige, schicksalergebene Eltern. Es war ein Fluch und ein Segen! Man kann nun an Zeiten zurückdenken, die paradiesisch waren – –. Nicht jeder, der vor sich das Dunkel sieht, kann liebevollen Herzens der lichten Zeiten dankbar sich erinnern – – –.
Ich lese die Geschichte vom Grafen von Lavalette, und sie interessiert mich gar nicht. Er war ein Getreuester Napoleons des Ersten.
Aber ich habe bisher es nicht eingesehen, wodurch dieser »geniale Feuergeist«, dieses »Ungetüm an Lebensenergien«, der Gesamtmenschheit irgendwie geholfen habe!?! Die Geschichte seiner »Getreuen« interessiert mich daher um so weniger. Aber als Lavalette, dieser »Tatendurstige« (ein schreckliches Wort für den Lebenskundigen), eingesperrt und hingerichtet werden sollte, gab ihm seine Frau ihre Kleider, und er entfloh. Sie selbst wurde im Kerker derart mißhandelt, daß sie irrsinnig wurde.
Da begann ich mich für die Gräfin von Lavalette zu interessieren, die in den Memoiren gar nicht erwähnt ist.
Ehre ihrer Seele!
Sie saß an einem riesigen Parterrefenster, das fast den Boden der staubigen grauen elenden Dorfstraße berührte, und nähte an einer schönen blinkenden Nähmaschine Blusen, von morgens bis abends. Ihre Augen hatten einen Ausdruck von Verzweiflung. Aber sie selbst wußte nichts davon. Sie nähte, nähte und nähte. Sie war ganz mager, ungeeignet für den Sturm des Daseins, der Seelen und Körper schüttelt und hinwegfegt. Abends aß sie das kalte Gemüse vom Mittagstisch. Das sah ich alles durch das riesige Parterrefenster hindurch, und sie sah, daß ich alles sah.
Eines Abends stand sie vor dem Haustor so angelehnt. Da sagte sie: »Ich habe eine Stellung angenommen in Mariahilf in einer Blusenfabrik, ich werde nicht mehr privat arbeiten müssen in diesem einsamen Zimmer.«
Da dachte ich: »Dorfstraße, Dorfstraße, du hast deinen Glanz, du hast deinen Reichtum eingebüßt!«
»Man muß sich seine Lage verbessern, nicht wahr!?«, sagte sie, »ich habe Sie übrigens immer an meinem Fenster vorübergehen sehen, dreimal des Tages. Dreimal des Tages sind Sie freilich vorübergegangen. Aber in Mariahilf werden vierzig Mädchen sein, und man wird plaudern können, und arbeiten wie in einem Ameisenhaufen – – –.«
»Sie, Fräulein, ich werde auch dreimal noch täglich an Ihrem Fenster vorübergehen, wenn Sie nicht mehr dasitzen – – –.«
»Ja, werden Sie das?!? Da werde ich also doch auch zugleich zu Hause sein wie früher in meiner Heimat – – –.«
»Lassen Sie vielleicht Ihre blinkende kleine Nähmaschine am Fenster stehen, und dabei eine Ihrer angefangenen Blusen – – –.«
»Ja, bitte, das werde ich – – –.«
Das war die einzige wahrhaftige Beziehung mit einer Frauenseele während meines ganzen ereignisreichen Lebens – – –.
Dorfstraße, graue staubige Dorfstraße, du hast nun deinen Glanz, du hast deinen Reichtum eingebüßt –. Sie, sie geht nun in die Arbeit, in die Welt – – –!
Wenn dir, du angeblich Liebender, jeder Atemhauch meines Mundes ebenso berauschend wäre wie meinem Peter,
wenn dich mein Gehen, Stehen, Sitzen, und jede Linie meines Leibes ebenso entzücken könnte,
wenn der dunkle Klang meiner Stimme, wie Peter sagt, aus dem Gaumen-Resonanzboden,
dir ebenso lieblich tönen könnte,
und ebenso berauschend das Rauschen meiner seidenen Unterkleider wie ihm,
wenn du in das Waschwasser meines Lavoirs, in
dem ich badete, ebenso liebevoll deinen Kopf untertauchen könntest wie er,
gleichsam um zu ertrinken in heiliger Flut;
wenn du mich ebenso nähmest als überirdisches Wesen, das ich natürlich nicht bin und nicht sein kann, bei Tag und Nacht,
wenn du also gleich ihm aus meinen Armseligkeiten eine verklärte Dichtung machen könntest, die dich beglückte und Leben spendete wie Tau und Sonne den zarten Pflanzen – – –
wer weiß, ob ich mich dann nicht verführen ließe, dir zu dienen gleich ihm – – –.
Aber du kannst, du wirst es nicht zusammenbringen!
Es sind Mysterien, aufbewahrt von Gott den wirklich liebevollen Herzen!!!
Das zu erkennen, ist unser einziger, unser bester Schutz!
Es gibt nur immer einen, dem wir ein Verhängnis werden! Den anderen sind wir Zitronen, die man auspreßt, und deren Schale man in die Latrine wirft!
Man kann vielen Menschen riesige Dienste in den geringsten Kleinigkeiten leisten. Aber niemand tut es. Zum Beispiel einer Dame zu sagen: »Wenn Sie sich abends mit einem trockenen englischen Reibhandschuh, fleshglove, den ganzen Leib leicht rosig reiben lassen werden, ganz, ganz zart, ohne Reibeisengefühl, so werden sie gegen Zugluft vollständig immun werden!«
Ich trat einst auf eine wunderbar schöne Frau zu und sagte zu ihr: »Gnädige Frau, ich könnte Ihnen einen wesentlichen Lebensdienst leisten, den Ihnen wahrscheinlich sonst niemand leisten würde –.« »Nun, worin besteht er?!« »Sie haben in Ihrem wunderbar modellierten Ohr einen schwarzen Mitesser, den ich auf die zarteste Weise mit einem geschickten Druck meiner zwei Finger entfernen könnte. Mancher Mann könnte dadurch enttäuscht werden, und es könnte Ihren edlen Lebensweg erschweren –.«
Die Dame erbleichte, stand auf, ging mit mir hinaus. Ich entfernte ihr den schwarzen Mitesser aus dem rosigen Ohr.
Dann sagte sie: »Sie, Herr, wie kommen Sie eigentlich zu solchen Unverschämtheiten?! Was gehen Sie denn meine Ohren an?!«
»Nichts«, erwiderte ich und entfernte mich befriedigt.
Was ist ein Nachtcafé?! Etwas Unverlogenes. Die Mädchen wollen leben und nicht Frondienste leisten, nicht Schaffel reiben und Nachttöpfe fremder Menschen reinigen, solange sie noch entzückende Leiber haben. Sie wollen sich anderseits betrinken, um zu vergessen, daß das alles nicht so weiter geht, in infinitum. Sie stehen vor stündlichen Gefahren, müssen sich berauschen an irgend etwas, um sich Mut zu machen für die Schlacht des Lebens! Niemand behandelt sie nach ihres jungen Herzens Wunsche! Infolgedessen rächen sie sich, wie sie es können, bald so, bald anders! Heimtückische, feige Marodeure sind nur die Männer! Eine, der ich in Briefen meine tiefste Sympathie, mein gerechtestes Verständnis bewiesen hatte, sagte dennoch: »Du mußt mir die zwanzig Kronen im vorhinein bezahlen – – –! Wir haben es leider gelernt, selbst romantisch veranlagten Dichtern nicht mehr zu trauen – – –!«
Die Damenkapelle ist eine Oase. Sie sind verheiratet, Bräute, oder sonst treu irgend jemandem. Sie haben ein konsolidierteres Schicksal. Sie haben irgend etwas gelernt, wodurch man sich weiterbringt. Sie haben sich der Lebensordnung eingefügt. Ob sie glücklicher sind, nicht andern Enttäuschungen, Gefahren ausgeliefert?!? Zwei Welten, hart aneinander, einander gleich in ihren schweren Kämpfen. Keine Damenkapelle ohne diese Hetären, keine Hetären ohne diese Damenkapelle! Nur die Männer sind das perfide Element. Sie möchten alle zusammen unglücklich machen, ihre ewig hungrigen Eitelkeiten mästen mit den unglückseligen Blicken verliebter Frauen! Damenkapelle oder Hetäre gilt ihnen gleich, ihre innere rohe Leere mit einem liebevollen dummen Frauenherzen auszufüllen – – –! Nachtcafé, du kleine miserable Welt, du Abbild der großen, noch viel miserableren!
Ich hatte einen Freund, einen höchst intelligenten Menschen. Aber seine Nerven, oh, die waren gar nicht intelligent ...
Eines Abends im Café sagte er zu mir: »Du, Peter, du könntest mir einen riesigen Freundschaftsdienst erweisen! Ich fühle mich heute wieder so greisenhaft, so ausgelöscht ... Bitte sage mir nach fünf Minuten, daß ich heute besonders frisch und jugendlich aussehe ...«
Ich nahm die Uhr, legte sie auf den Tisch, und sagte nach fünf Minuten: »Du, sage mir, was ist heute los mit dir? So jugendlich frisch hast du wirklich schon lange nicht ausgesehen ...!«
Er wurde ganz rot vor Freude, ganz begeistert, und erwiderte: »Wirklich? Das freut mich! Solche angenehme Sachen sagt einem halt niemand auf der Welt als du!«
Als Kind fand ich in dem Schreibtisch meiner geliebten wunderbar schönen Mama, der aus Mahagoni war und geschliffenem Glase, in einer Lade ein leeres Flakon, das aber noch immer intensiv nach einem bestimmten, mir unbekannten Parfüm duftete.
Oft schlich ich mich hin und roch daran.
Ich verband dieses Parfüm mit aller Liebe, Zärtlichkeit, Freundschaft, Sehnsucht, Traurigkeit, die es überhaupt gibt.
Aber alles bezog sich auf meine Mama. Später überfiel uns das Schicksal wie eine unvorhergesehene Hunnenhorde und bereitete uns allenthalben schwere Niederlagen.
Und eines Tages zog ich denn von Parfümeriehandlung zu Parfümeriehandlung, um in kleinen Probefläschchen vielleicht das Parfüm zu entdecken aus der Mahagonischreibtischlade meiner geliebten verstorbenen Mama. Und endlich, endlich entdeckte ich es: Peau d'Espagne, Pinaud, Paris.
Da gedachte ich der Zeiten, da Mama das einzige weibliche Wesen war, das mir Freude und Schmerz, Sehnsucht und Verzweiflung bereiten konnte, das mir immer, immer wieder aber alles verzieh, und das um mich sich sorgte, und vielleicht sogar insgeheim abends vor dem Einschlafen für mein künftiges Glück gebetet hatte ...
Viele junge Damen sandten mir in kindlich-süßen Begeisterungen später ihre Lieblingsparfüme, dankten mir herzlichst für ein von mir erfundenes Rezept, jedes Parfüm nämlich unmittelbar nach dem Bade direkt auf die nackte Haut des ganzen Leibes einzureiben, so daß es wie echte eigene Hautausdünstung wirke! Aber alle diese Parfüme waren wie die Gerüche von wunderschönen, aber eher giftigen exotischen Blumen. Nur Essence Peau d'Espagne, Pinaud, Paris, brachte mir melancholischen Frieden, obzwar meine Mama nicht mehr vorhanden war und mir nichts mehr verzeihen konnte von meinen Sünden!
Wenn sogenannte Freunde einen Schwerkranken besuchen, haben sie ausschließlich die Absicht, alles schön zu färben. Niemals hat er blühender ausgesehen, ja direkt verjüngt. Man möchte es nicht glauben, in dieser kurzen Zeit! Die Hoffnung, mit dem billigsten, was es auf Erden gibt, dem schönen liebenswürdigen Wort, sich aus der Affäre zu ziehen, ist größer als der Zwang der Anständigkeit, den die schlichte Wahrheit erfordert. Man findet sein Zimmer ganz einfach süperb, viel gemütlicher als sein einstiges Heim, obzwar man genau weiß, daß er mit allen Fasern seines Herzens an jedem Winkel seines geliebten Heimatzimmerchens hing. Man vermeidet es geschickt, zu fragen, wer denn alles bezahle, und fragt diskret an, ob die drei Kronen, die man einmal rekommandiert geschickt habe, auch wirklich angekommen seien. Bei bejahender Antwort verklärt sich das Antlitz des Spenders, und er sagt: »No, siehst du, Peter, wie man dich nicht verläßt in deinen schweren Zeiten!?«
Der Kranke wird plötzlich zu einem Verfemten, mit dem man geschickt lavieren muß. Den Gesunden konnte man auf verschiedene und eigentümliche Art ausnützen und verwerten: War er gescheiter, so konnte man seine eigene Stupidität hinter ihm bequem verbergen; war er liebenswürdiger, so konnte man die eigene Roheit durch ihn geschickt kaschieren. Aber der Kranke ist zu nichts Rechtem mehr zu gebrauchen. Ihn den Würmern noch für längere Zeit vorzuenthalten, ist scheinbar eine schlechte Spekulation; aber ein gewisses Schamgefühl verhindert sie dennoch, den Unterschied zwischen der Beziehung zu dem Gesunden und zu dem Schwerkranken allzu augenfällig zu machen. Außerdem könnte es ja doch unter der Million von Idioten einen geben, der die ganzen Manöver durchschaute.
Man liebte den Gesunden selbstverständlich ebensowenig wie den Kranken, aber man hatte damals wenigstens keine Gelegenheit, ihn als eine direkte Last zu empfinden, und infolgedessen hielt man die natürlichen Grausamkeiten ihm gegenüber in gewissen Schranken der sogenannten Wohlerzogenheit. Dennoch gönnte ihm niemand Zeit seines Lebens Freude und Glück, und wenn er es sich trotzdem errang, so geschah es unter merkwürdig schwierigen, belastenden Umständen, die aus dem Neid der sogenannten besten Freunde entsprangen. Dem Gesunden gönnte man nicht eine Stunde lang seine Kraft, zu leben, begeistert zu sein, zu lieben und aufwärts zu kommen, und erst der Schwerkranke befreit die Freunde von der stündlichen Gefahr, daß er ihnen über den Kopf wachse. Wenn die Erfahrungen, die der Kranke macht, dem Gesunden zugute gekommen wären, wäre er fast ein Genie geworden an Lebenskunst; so aber wurde er das selbstverständliche Opfer der heimtückischen Lüge des Lebens.
Oscar Wilde starb, wie keiner von der Million der Enterbten je dahingestorben ist; aber viele Jahre nach seinem Tode setzte ihm eine Pariser Dame einen Grabstein, der vierzigtausend Franken kostete. Könnte der Tote seine geniale Hand emporrecken, so würde er die wertlosen steinernen und bronzenen Dekorationen zertrümmern, die eine Gans seinen vermoderten wertlosen Gebeinen gesetzt hat. Gebt dem Lebendigen die Kraft, alle Genialitäten seines Hirns, seines Herzens für euch Stumpfsinnige, Keuchende, Kriechende zu verwerten und ausleben zu lassen, und überlasset die Sorge um die sechs Rappen, die den Leichenwagen des zu Tode Gemarterten ziehen werden, der Entreprise des pompes funébres!
Habt ihr Wasser über Felsen donnern, krachen gehört?!
Hagel aufschlagen in taubeneigroßen Körnern?!
Wolkenbrüche auf Dächer niedersausen?!
Sturmwind durch Wälder fegen?!
Felder gemäht werden vom Winde?!
Seewellen an Land hingepeitscht werden?!
Und die Geräusche aller übrigen entfesselten Naturkräfte?!?
Seht, so, so war Josef Kainzens Stimme!!!
So ähnlich muß Gottes Stimme getönt haben,
Als er bei Erschaffung der Welt befahl:
»So und so will ich es!!«
Hilde, Elfjährige, ich wußte nichts bis dahin über dich – – –.
Nun aber habe ich deine Stimme vernommen, deine wunderbar klare tönende Stimme,
wie Seelenglocken so hinaustönend in die dumpfe stumpfe Welt!
Und diese Stimme wird alles viel deutlicher, viel tiefer, viel erhabener, viel verzweifelter einst sprechen, was das Leben des Tages und der Stunde uns zu sagen zwingt!
Wie wird diese Stimme einst sagen: »Bleibe bei mir!?«.
Wie wird sie es sagen: »Du liebst mich nicht mehr!?« Und: »Adieu, adieu – – –.«!?
Diese Stimme ist so klar und rein wie Gottes Träume über das Leben der Menschen!
Aber das Leben der Menschen selbst ist unklar und schmutzig-trübe! Diese Stimme wird hineintönen wie eine Seelenglocke, ernst, erhaben, liebevoll, feierlich, rührend, in das dumpfe Gebrause der Menschheit, sie wird verklingen, übertönt werden und ausgelöscht –. Sie wird ihren tönenden Glockenklang verlieren und dumpf werden wie die Umwelt – – –.
Aber ein alter Dichter auf dem Sterbebett hat sie noch vernommen und nimmt den Klang mit aus einer dumpfen stumpfen Welt, tief gerührt und ergriffen –.
Stimme der elfjährigen Hilde, klare tönende Seelenglocke, läute, töne solange, solange es irgendwie geht – – –.
Und wenn sie dumpf wird im Brausen des Lebensgetriebes, dann gedenke, Hilde, des unglückseligen Dichters, der noch die Seelenglocke deines edlen elfjährigen Herzens im Ohre mit hinübernahm – – –.
Ich hatte eine unglückliche Liebe zu einer Dreizehnjährigen, deren Blick allein aus den hechtgrauen Augen mit den schwarzen Wimpern allen Blicken gleichkam der Heiligen in den Kirchen. Sie hatte keine rechte Freude am Leben, als ob sie die Wirrnisse des irdischen Jammertales vorausahnte, die eigentlich allen so schwermütig Blickenden in Aussicht stehen. – Ich machte ihre Tragödien mit, die noch nicht vorhanden waren, und vor dem Leben beschützen konnte ich sie dennoch nicht. Sie war die Tochter eines Schuhmachers in dem kleinen, armseligen, felderumrankten Orte J... Er hatte 11 Kinder. Die, die schon verdienten, verdienten. Aber die Kleinen mußten von meiner Dreizehnjährigen betreut werden. Wie liebevoll wurden sie betreut! Darüber kann man gar nichts schreiben. Sie mußte die 15 Enten hüten, die Schweine füttern, und die kleinen Kinder brauchten dies und jenes. Ich liebte Anna, aber selten kam sie in meine Nähe, und auch dann glitt mein Blick von freundschaftlichster Zärtlichkeit an ihren Augen ab, wie Öl über Wasser.
Eines Abends saß ich allein auf der Bank, in der alten verstaubten Lindenallee und wartete auf Anna vergebens. Da kam ihre siebenjährige Schwester Josefa, die für mich immer und immer einen Blick von tiefer Menschenfreundlichkeit hatte, aus ihren zwei verschieden blickenden Nachtfalteraugen, so reell-gutmütig, so leichtverständlich, so wie das ABC des Menschenherzens – – –. Sie hatte mich lieb!
Ich führte sie in die nahegelegene Meierei, ließ ihr Schlagsahne geben und Biskuits. Immer lächelte sie mich an, wie von edler Liebenswürdigkeit getrieben. Da küßte ich sie auf Stirne, Haare, Augen. Sie rührte sich nicht, empfand es als Pflicht der Dankbarkeit, sich küssen zu lassen – – –.
Da vergaß ich meiner Leiden um Anna, die mein gequältes Herz stets ruhig aus ihren geliebten hechtgrauen schwarzbewimperten Augen betrachtet hatte. Da sagte Josefa: »Schenken S' mir noch zwei Biskuits, ich trag' sie nach Haus für die Annerl. Sie darf net kommen mit Ihnen, weil sie schon zu groß ist. Was kann sie dafür, daß sie schon zu groß ist?!?« Da gab ich ihr 20 Biskuits mit für ihre Schwester, die wirklich nichts dafür konnte, daß sie dem Blicke eines unermeßlich liebevollen Menschenherzens mit mißtrauischer Gleichgültigkeit bereits begegnen mußte, wie im vorhinein gepanzert gegen die hinterlistige Männerwelt – – –!
Fräulein Str., eine arme Klavierlehrerin, kannte alle Schandtaten ihres Herrn Bruders. Aber sie schickte Geld und Geld, wenn er darum schrieb. Und Geld und wieder Geld. Immer galt es ihr, ein wertvolles Leben noch zu retten, das aber wertlos war. Und übrigens, wer könnte das entscheiden?!
Der Richter sagte: »Ihr Vorgehen, Fräulein, ist strafbar, aber es macht Ihrem Herzen alle Ehre –.«
Das Fräulein erwiderte: »Für irgend etwas muß man sich doch abplagen. Nur seinen armseligen Hunger stillen?!? Wenn er nicht wär', no, so wär's halt was anderes, die Kirche oder eine Leidenschaft – – –. Für irgend etwas muß man sich doch abplagen.«
Man verurteilte sie wegen Vorschubleistung.
Als die Blicke der beiden verurteilten Geschwister sich begegneten, begannen einige Menschen im Auditorium zu weinen – – –.
Müde schleichen die Stunden dahin. Noch einmal ist es mir Zähestem vergönnt, die herbstliche Pracht meines Kindheitsparadieses (damals gab es nur Gasthof »Nedwall«) zu erschauen! Brennesselgebüsche und dunkelbraune vertrocknete Sträucher. Ein kleines Mäderl in Lederhöschen, mit dicken, rostbraunen Zöpfen, in die grellrote Seidenbänder eingeflochten sind, repräsentiert mir die »Schönheit der ganzen Welt«. Die Eltern nennen sie, tief entzückt, schlimm und übermütig. Wie wenn die Saharet, Ruth St. Denis, Grete Wiesenthal, schlimm und übermütig sein könnten! Der Schneeberg trieft von zerrinnendem Schnee, und das Elisabethkirchlein ragt in graue Wolken. Ein Direktor reitet, kranke Frauen fahren langsam durch den Fichtenwald. Lila Enzian, kurzstengelig, und Löwenzahn. Aber meine »heilige Stunde« ist von drei bis vier. Da spielt nach dem Essen die Amerikanerin mit ihrem großen schlanken Freunde im Café Karambol. Er belehrt sie natürlich väterlich, die doch alles bereits mitbekommen hat vom Schicksal, Anmut und Beweglichkeit und Gazellenglieder und Feenhände. Jede ihrer Bewegungen ist vollkommen. Das ist meine »heilige Stunde«, da ich menschliche Vollkommenheit erblicke. Da vergesse ich, daß Gottes Träume sich noch nicht realisiert haben – – –.