Karl Adolph
Haus Nummer 37
Karl Adolph

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Achtes Kapitel.

(Berichtet von den Familien Antons und Millys, und von der raschen Karriere der letzteren.)

In einem der typisch nüchternen Häuser einer dadurch architektonisch bedeutungslosen Straße, die den Aufschwung moderner Städte symbolisieren helfen, hausten die Eltern Antons, da dieser noch ein Schuljunge der vierten Volksschulklasse war.

Der Vater war ein nüchterner, fleißiger Arbeiter; streng, wortkarg, pedantisch. Als er seine Frau genommen, ließ er sich weniger von Erwägungen sinnlichen Wohlgefallens, als der Anhoffnung einiger hundert Gulden Mitgift leiten, die das schon stark abgeblühte Dienstmädchen in Jahren harter Arbeit zusammengespart.

Die Ehe war eine, im landläufigen Sinne genommen, glückliche. Der Mann brachte seinen verdienten Wochenlohn mit Abzug einiger Kreuzer für ein oder zwei Glas Bier, die er sich nach der Auszahlung vergönnte, regelmäßig heim. Ein Mensch, der keinerlei Leidenschaft kannte, noch verstand, war er von ungewöhnlicher Strenge gegen jegliche Art von Geldverschleuderung. Eine kleine Schatulle mit einigen Fächern war zur Aufnahme der Beträge für die jeweiligen Wochenerfordernisse bestimmt.

Kein Kreuzer durfte fehlen und Brenner hätte sich selbst des kargen Abendessens enthalten – aber das Heiligtum, die kleine Kasse, durfte nicht das geringste des für den nächsten Tag bestimmten Anteils vorschießen.

114 Der kleine Anton verlebte im Elternhause eine durch überstrenge Zucht seitens des Vaters verbitterte Kindheit. Die sanfte Mutter vermochte niemals oder höchst selten den Kleinen vor einer gerechten oder ungerechten, aber immer exemplarischen Strafe durch den rauhen, finsteren Mann zu schützen.

Brenner liebte seine Familie in der rein instinktiven Weise, die die meisten, durch angestrengte Arbeit abgestumpften Arbeiter ihr zuwenden. Hausgötze war neben einem verstaubten, rein formalen Religionskultus das Geld. Mitleiden, verzeihendes Verstehen irgendeines Fehlers mangelte ihm vollkommen. Für die Fortschritte des Sohnes tat er nicht das geringste aus eigenem. Das vierteljährige Schulzeugnis genügte ihm vollkommen, sich über das Wissen seines einzigen Leib- und Namenserben zu orientieren. Eine schlechte Note wurde barbarisch bestraft; geradezu grausam jedoch, wenn es sich um die Rubrik Religion handelte.

»A Mensch, der nix glaubt, is noch schlechter wia a Jud,« war das Axiom des Familiendespoten. Worin das »glauben« bestand, vermochte er sich eigentlich selbst nicht zu sagen.

In allen Dingen, deren Realität unanzweifelbar war, verließ er sich auf seine zwei gesunden Augen und Ohren. Eine Vergeßlichkeit, durch ein ›ich hab' 'glaubt‹ entschuldigt, korrigierte er bei seinem Sohne durch ein von Schlägen begleitetes ›Glaub'n haßt nix wissen.‹ Sein einfacher Stolz beruhte auf zweierlei: erstens, daß er niemandem was schuldig sei, zweitens, daß er noch niemals mit einer Behörde in Konflikt geraten. Schuldenmacher und todwürdige Verbrecher standen bei ihm auf gleicher Stufe.

Er war Patriot im hergebrachten Sinne, das heißt kaisertreu und Feind jeglicher Art von Umänderung des 115 Bestehenden. Alles, was Uniform trug, verehrte er, die Priester betrachtete er mit ehrfürchtiger Scheu, ohne sich deshalb einem derben Witz über jene unzugänglich zu erweisen. Über Juristen, soweit sie nicht als Behörde eine Rolle spielten, urteilte er verächtlich. Von den Männern der Kunst und Wissenschaft mit Einschluß der Ärzte sprach er im Tone tiefster Geringschätzung.

Wer sich seine Achtung erringen wollte, mußte ein ebenso finsterer, trauriger Pedant sein wie er selbst. Jugendirrtümer waren verbrecherisch, Leidenschaften revolutionär in seinen Augen.

Für die verliebten Zärtlichkeiten der Jugend fand sich im Lexikon seiner Lebensanschauung kein übersetzendes Wort. Trottelei, Schweinerei oder ähnlich lauteten seine Ausdrücke dafür.

Und dieser Mann, dem Leidenschaften so fremd waren wie sanfte Gefühle, wurde dennoch von einer beherrscht: von grimmigem Jähzorn. In Verbindung mit einer oft unverstandenen und falschen Gerechtigkeitsliebe ward diese einzige bürgerliche Untugend sein Verhängnis.

Gallig, daher über jedes noch so harmlose Wort erbost, das er auf sich gemünzt glaubte, vergaß er sich zeitweise und wurde ein brutaler Raufer, der vermöge seiner Körperkraft sich einigen Gegnern überlegen zeigen konnte.

An einem Samstagabend wartete die Familie vergeblich auf den Vater. Erst einige Tage später sahen ihn Frau und Sohn in der Leichenhalle des allgemeinen Krankenhauses. Ein wohlgezielter, heimtückischer Messerstoß hatte nach einem heftigen Wortwechsel und kurzer Rauferei seinem Leben ein jähes Ende gemacht.

Den einen Fehler, dem der nüchterne, ernste Mann untertänig war, büßte er mit der höchsten Strafe, die er 116 sonst für schwere Verbrecher als die einzig maßgebende bezeichnet hatte.

»Allgemein war das Bedauern um den geachteten Mann«, würde ein Lokalnekrolog gelautet haben, ohne derjenigen Eigenschaften zu gedenken, die für Weib und Kind eine Wüstenei des Familienlebens bedeuteten.

Der Mann hatte für seine Familie gesorgt, war niemals betrunken gewesen und lebte nach jenen Anschauungen, die man als praktisches Christentum bezeichnet. Zugleich war er das Opfer des Raufhandels und diesem galten die Sympathien der Nachbarn und Bekannten.

In falsch verstandener Pietät opferte die Witwe den größten Teil ihrer Ersparnisse einem für ihre Verhältnisse viel zu prunkvollen Leichenbegängnisse und fühlte in den ihr deswegen gemachten Schmeicheleien beinahe einen Ersatz für den erlittenen Verlust.

So brachen denn, trotz des nachbarlichen Mitleidens und trotz der »schönen Leich«, die zwei Tage das Leitgespräch der engeren Umgebung bildete, harte Tage der Entbehrung für die Frau und den Knaben an. Aber die Witwe begann entschlossen die Jagd nach Verdienst. Wie diesen beschaffen? Wer vermöchte die Irrgänge zu schildern, die das Jagen nach dem täglichen Brot bedingt?

Kurz, die sanfte, schwache Frau nahm den Kampf mit dem Leben mutig auf und schaffte für sich und ihr Kind den nötigen Unterhalt.

Tür an Tür mit der Familie Brenner hatte ein junges Ehepaar samt Töchterchen gewohnt. Der Mann mit seinem sorglosen Leichtsinn und der souveränen Nichtachtung des Geldes, bildete den größten Gegensatz zu dem finsteren, sparsamen Vater Antons. Die Frau war seine würdige Gefährtin in allen Dingen, die Lebensgenuß betrafen. Was 117 verdient wurde, gab man auch gewissenhaft aus und die Tage des Mangels wurden zum mindesten nicht durch eine trübe Laune verbittert. Lustig gelebt! war die Devise, wer wollte sich um die Zukunft bekümmern? Das kleine, um zirka drei Jahre jüngere Mädchen war Antons einziger Spielgefährte.

Der ernste Knabe, auf dessen Anlagen sich etwas von dem Harten, Strengen, Nüchternen des väterlichen Charakters vererbt hatte, bewunderte nichtsdestoweniger mit staunender Zärtlichkeit das kleine, goldigblonde, zierliche, stets heitere Wesen und den liebenswürdigen Leichtsinn von dessen Eltern.

Millys Vater war ein stets gutgelaunter Spaßvogel, die hübsche junge Mutter eine immer zu Trällern und Lachen aufgelegte Frau. Und wenn es einmal in der Wohnung hoch herging und der Spielgefährte des Töchterchens geladen war, verglich sein kindlicher Sinn die beiden Haushalte. Daheim gab es niemals ein Glas Bier, niemals etwas anderes als das einfache Essen, das zum Überflusse noch gänzlich stillschweigend und hastig eingenommen wurde.

Der Vater zündete sich auch nie eine Pfeife an oder scherzte mit Weib und Kind, wie das bei Millys Vater der Fall war. Ja, dieser verflocht oft in tollem Übermut Frau und Tochter in einen unendlich drolligen Raufhandel und das gab dann ein Jubeln und Lachen, daß allen die Tränen in den Augen standen.

Freilich bemerkte der kluge Knabe auch Unterschiede zwischen den beiden Haushaltungen, die sehr zugunsten des eigenen sprachen. Wie nett, fast behäbig sah es daheim aus, trotz des ärmlichen Arbeiterhausrates, wie sauber und reinlich war seine Mutter gekleidet und erst der Vater an einem Sonntage, da er vom »Bolwierer« kam und in dem Feiertagsanzuge fast einem Kavalier glich.

118 Indes sah es in der Nachbarwohnung immer unordentlich aus. Das Sofa hatte Risse und ließ die Sprungfedern hervorragen. Der Tisch war wackelig, die Furnierung der Platte aufgestanden oder weggebrochen; die Schränke, es gab deren zwei verschiedener Fasson, verloren beinahe die Türen, ihr Inhalt war ein Wust von hineingestopften Wäsche- und Kleiderstücken; Vorhänge, Bilder, Haussegen, Weihbrunnkessel fehlten gänzlich. Die Wände waren nicht bemalt wie bei ihm zu Hause, sondern grün getüncht, mit abgestoßenen Ecken und Löchern. Statt einer politierten, gravitätischen Standuhr befand sich auf der Kommode ein Wecker mit papierenem Zifferblatt, der überdies die Laune hatte, nur dann für höchstens eine Stunde seine Funktion als Zeitmesser auszuüben, wenn man ihn einige Male heftig herumschwenkte oder gegen die Tischkante stieß.

Das alles waren wohl Dinge, die den an strenge Ordnung gewöhnten Knaben abstießen, aber schließlich sagte er sich, daß Heiterkeit und Lebensfreude der Menschen geeignet sind, auch unschöne tote Gegenstände und einen kahlen, häßlichen Raum zu vergolden.

Seine kleine, übermütig lustige Freundin verehrte er mit wahrhaft anbetender Zärtlichkeit. Sie war ihm der Inbegriff des Schönen, Heiteren, Köstlichen.

Frau Brenner hätte den lieblichen Kobold tagsüber gern in ihrer Wohnung geduldet, schon um ihres Sohnes willen, dem sie für seine traurige, unter der väterlichen Zucht erstickte Jugend einen heiteren Sonnenstrahl wünschte.

Aber Milly hatte nach einmaligem Besuch gesagt. »Bei euch ist's grauslich. So viel traurig und m'r därf si' net traun wo anz'kommen. Gengan m'r liaber zu uns oder auf d'Wiesen. Wann heut d'r Vata kummt, spiel'n m'r ›Rauber und Poli‹«.

119 Dieses heitere, in Antons Erinnern unauslöschlich eingegrabene Verhältnis fand ein jähes und schreckliches Ende durch den unvorhergesehenen, gewaltsamen Tod seines Vaters. Die Mutter war nach Erhalt der erschütternden Nachricht auf den Schemel, ihren gewöhnlichen Sitz bei einer Handarbeit, gesunken und schien blind und taub gegen alles, was um sie vorging.

Anton, der sich in seinem ratlosen Bemühen um die Mutter nicht mehr helfen konnte, schlich hinaus auf den Gang und weinte. Da ging die benachbarte Türe auf, herausgeschlichen kam Klein-Milly und als sie den Freund so trostlos weinen sah, eilte sie auf ihn zu, umschlang seinen Hals und weinte mit. Ihre aufgelösten Haare umwallten sein Gesicht, die beiden kleinen Geschöpfe einigte ein großes Leid, dessen volle Tragweite sie zwar nicht zu ermessen wußten, aber ihnen drängte sich eine dunkle Überzeugung auf, daß alle Freuden dieser Welt einen unerbittlichen Feind besäßen: den Tod.

Millys Eltern mühten sich in herzlichem Eifer um die arme Witwe. Zwar taten sie dieses in ihrer Weise, die mit einem fast festlichen Schmause in inniger Berührung stand. So etwas half doch gegen jede Art von Traurigkeit. Sie erreichten mindestens so viel, die unglückliche Frau aus ihrer ersten, dumpfen Betäubung zu erwecken.

Für die beiden kleinen Spielkameraden war die Zeit der Trennung gekommen. Eine anscheinend geringfügige Änderung ihrer Beziehungen, ein Ändern des Wohnortes im selben Bezirk – aber jeder weiß, daß damit oft eine Trennung auf Nimmerwiedersehn eingeleitet wird.

Die Witwe verkaufte einen Teil des nun überflüssigen Hausrates, mietete sich in einer weit entfernten Gasse mit dem Sohne in ein Kabinett ein und begann den 120 unbewunderten Krieg mit den Sorgen um des Lebens Notdurft. Die Kinder sahen sich von nun an seltener, wenngleich Anton nicht verabsäumte seine freien Stunden bei Milly zu verbringen.

Deren Mutter ward eines Tages von einem Husten befallen, der sich nicht bessern wollte, dann kam ein blutiger Auswurf dazu. Täglich nahm die Schwäche überhand, der Schluß war Spital und – Leichenkammer.

Das kleine Mädchen jammerte entsetzlich um die liebe, lustige, schöne Mutter. Von niemandem, nicht einmal von seinem erschütterten Gefährten wollte es sich trösten lassen. Und der spassige, zu so vielen Narreteien aufgelegte Vater war auf einmal wie verwandelt. Im Vereine mit der Frau hätte er allem Unglück ins Gesicht gelacht. Welches Leid wäre so mächtig gewesen ihn zu beugen? Nun war es gekommen, das einzige, schwerste. Er hatte mehr zu beklagen als den Verlust der Gattin, der Mutter seines Kindes. Was er verloren, war sein lustiger Kumpan, ein Teil seines Ich, seine zweite Seele. Mit brennenden Augen stierte er in dem kleinen, unordentlichen Zimmer umher. Er wollte essen und trinken wie früher, er ließ sich durch sein Töchterchen das Beste heraufholen, wie in den Tagen ausgelassenen Glückes. Aber ein Schatten nahm den Platz ein, den sonst ein lebensfrohes, übermütiges, geliebtes Weib besessen, und das Glas berührte nicht seinen Mund, die Speisen blieben, wie sie gebracht worden waren, erkalteten, wie das Herz des gebrochenen Mannes. Und nachts, als Milly aus einem durch viele Tränen und Erschöpfung erzwungenen Schlummer erwachte, hörte sie vom Bette des Vaters her Laute, die wie ein Schluchzen klangen. Milly schloß wieder die Augen. Das konnte nicht der Vater gewesen sein. Der konnte doch nicht weinen!

121 Die Ereignisse des Lebens gleichen dem Wallen des Morgennebels. Ein Winden, Gleiten, Drehen, Sichverdichten und Auflösen, allmähliches Senken und Verschwinden. Oft grüßt dann ein goldener Morgen, oft aber bleibt der Tag traurig, finster und regenschwer.

Für Millys leichtes, kleines Kinderherz kam nach Tagen wieder die Bläue des Lebens. Für den mit einem so ungeahnten Streiche betroffenen Vater nimmer. Seine Gänge ins Spital glichen noch Feiertagen. Was er seiner Frau nur Angenehmes zu bereiten vermeinte, er tat es. Dazu kam noch immer die leise Hoffnung, daß eine Genesung möglich sei, trotz des Ernstes der Lage. Wenn auch krank, hoffnungslos krank, sein Weib lebte doch noch, sie grüßte ihn beim Eintritt mit großen, brennenden Augen und einem leisen Lächeln. Wenn er und sein Kind an dem Bette der rasch dahinschwindenden Lieben saßen, diese in jeder Hand eine von Mann und Tochter haltend, zärtlich von dem einen zur andern blickend – o! das waren ja noch Stunden, Minuten des Glücks, eines letzten, traurigen zwar, aber doch noch Glück. Er war mehr Geliebter als Gatte und Vater gewesen. Die Existenz seines Kindes, das so sehr der Mutter glich, war nicht imstande, die schwarze, finstere Lücke auszufüllen.

Die Kleine litt es ebensowenig mehr in der verödeten, stillen, stets mehr verfallenden Wohnung, wie den Vater. Milly hielt sich jetzt nach den Schulstunden auf der Gasse oder bei irgendwelcher Familie auf. Frau Brenner wurde häufiger mit Besuchen bedacht, zur großen Freude Antons, der am liebsten gewünscht hätte, an Milly einen ständigen Hausgenossen zu haben.

Als »Bettgeherin« bei der Frau, die an Antons Mutter das Kabinett vermietet hatte, befand sich eine Fabriksarbeiterin, ein junges, schönes Mädchen von ungefähr zwanzig Jahren. 122 Seine hauptsächlichste Zierde bildete ein wundervolles Blondhaar, so lang und schwer, daß es beinahe eine unangenehme Last für das Haupt wurde. Die Gestalt war voll und üppig. Sie kam abends auch manchmal zu Frau Brenner hinein und lernte dort Milly, die nun schon ein ziemlich naseweises Ding wurde, kennen. Auffallend war die große Ähnlichkeit der beiden Mädchen. Ernestine, so hieß die Ältere, fand viel Gefallen an der Kleinen und bewog sie, öfter des Abends zu kommen und länger zu verweilen. In solchen Stunden war es recht anheimelnd in der kleinen Kammer, besonders an Winterabenden, wenn Frau Brenner mit einem kaffeeähnlichen Gebräu aufzuwarten pflegte und in dem kleinen, eisernen Ofen ein behagliches Feuerchen knisterte.

Eines Nachmittags wollte Milly wieder zu ihren Freunden, fand aber das ganze Haus in einer gewissen Aufregung. Als sie in die Wohnung trat, kam ihr Anton mit verweintem Gesicht und trostlosem Ausdruck entgegen.

Sie wollte ihn fragen, was es denn gäbe?

Der nahm sie stillschweigend an der Hand und führte sie ins Kabinett. Einen Blick warf das entsetzte Mädchen nach dem Bette. Darauf lag jemand von einem Leintuch verhüllt. Es war Antons Mutter, die vor einigen Stunden, von plötzlichem Unwohlsein und Atemnot befallen, in den Armen des jammernden Sohnes jäh verschieden war.

Das letzte bescheidene Stück häuslicher Idylle war den beiden jungen Menschenkindern geraubt. Von nun an war ihre Trennung eine vollkommene.

Anton war schulfrei geworden und trat bei einem Schlossermeister als Lehrling ein. Den armseligen Hausrat hatte Fräulein Ernestine aus dem Nachlaß an sich gebracht. Sie beschloß, ein nicht mehr ganz waschechtes Jungfrauenleben in den Hafen der Ehe zu landen, und da ihr Erwählter 123 außer zwei arbeitsschweren Händen nichts besaß, Ernestine gerade nur ein klein wenig mehr, so hieß es für den Anfang klein beigeben und bei der Wahl des Mobilars sich weniger von Erwägungen des Stiles und der Modernität, als denen der Wohlfeilheit leiten lassen. Also gründete die künftige Frau Ambros ihren Hausstand.

Milly wuchs nun, von keiner sorgsamen Hand mehr geleitet (Frau Brenner hatte sich ihr sehr mütterlich erwiesen), in vollster wilder Freiheit heran. Den Vater sah sie kaum öfter als in der Frühe. Oft kam er spät nachts nach Hause. Der Abend sah ihn immer in der Branntweinschenke des Herrn Tänzinger, wo er inmitten der schreienden, johlenden Gesellschaft stumm dasaß und seinen Schnaps hinabschüttete. Er sprach mit niemandem, kümmerte sich um niemanden und war froh, wenn man ihn ruhig vor sich hinbrüten ließ. Seine Tagesarbeit verrichtete er mechanisch, teilte den Wochenlohn in die Bedürfnisse für sein Kind und sich. Der letztere Teil ward zumeist in Branntwein angelegt.

Indes trieb sich das sich selbst überlassene Mädchen auf der Straße herum, meist mit halbwüchsigen Burschen, mit denen es von Nachbarn manchesmal in den bedenklichsten Situationen betroffen wurde. Sie wuchs rasch heran und lockte das Begehren der herumstrolchenden, vor den Haustoren lungernden jugendlichen Tagediebe.

Vergebens suchten einige wohlmeinende Nachbarinnen das Kind zu warnen. Sie ernteten dafür nur kecke, schnippische Worte. Der täglich mehr dem Trunke verfallende Vater hörte manchmal in der Frühe, wenn er außer Haus ging, den Bericht einer Frau über die Aufführung seines Kindes an, geriet wohl auch in Zorn und untersagte seiner Tochter das Herumtreiben auf der Straße. Aber die väterliche Autorität war eine zu kraftlose geworden. Überdies verabscheute 124 ihn sein eigenes Kind immer mehr. Vielleicht aus unbewußtem Instinkt wegen der unmännlichen Art, wie er sich dem ersten Schicksalsschlag gebeugt. Jedes Aufrichten aber, das fühlte er in trostlosen Stunden der Nüchternheit selbst, war unmöglich geworden. Der tolle Schalk von einst war nun ein lebensmüder, mit sich zerfallener Mann. Der Alkohol hatte mit rasender Schnelligkeit unbestrittene Herrschaft über ihn gewonnen.

Eines Abends kehrte er nicht heim wie gewöhnlich, aber auch bei Nacht nicht, noch am nächsten Tage, noch überhaupt. Was aus ihm geworden? Niemand vermochte es zu sagen, er blieb verschollen.

Für Milly kam nun eine böse Zeit. Sie wurde von Gerichts wegen bis zum Austritt ans der Schule gegen geringes Monatsgeld einer Familie übergeben, bei der sie zu angestrengtester Arbeit verhalten wurde und außerdem keine rücksichtsvolle Behandlung erfuhr.

Als die Schuljahre vorüber, die sie bis zur fünften Volksschulklasse gebracht, trat sie in eine Fabrik als Arbeiterin ein. Dort gefiel es ihr immerhin besser als in der vormundlichen Zwangsanstalt. Sie begriff leicht, war geschickt und verdiente sich nach einem Jahre so viel, als sie zum Unterhalte und zur Bestreitung ihrer kleinen Luxusbedürfnisse gebrauchte.

Milly war so eitel als schön geworden. Nach ihrem Besitze strebten viele junge Arbeiter, die sie beim Nachhausegehen von der Fabrik mit ihren Anträgen verfolgten. Sie wußte sich bei aller Einfachheit verführerisch zu kleiden und das schöne Haar in entzückender Weise zu ordnen.

Die Bewerbungen der jungen Leute schmeichelten zwar ihrer Eitelkeit, doch war sie keineswegs gesonnen, einen zu erhören. Die Ambros, die sie einmal getroffen und in letzter 125 Zeit einige Male besucht hatte, warnte das junge Mädchen eindringlichst vor der Dummheit, die sie begehen würde, bände sie ihr Los mit dem eines armen Arbeiters zusammen.

»Du bist schön, Milly, und das muaß a junges, armes Madl ausnützen. I hab's net verstanden, mit 'n ersten, nächstbesten Pülcher hab' i mi einlassen, weil er a sauberes G'frieß g'habt hat. Und mein Mann – kann i das an Fang haß'n? Wia i so jung und sauber war wia du, hätt' m'r ana a herrschaftliche Wohnung eing'richt't, wann i woll'n hätt'. I hab' ihn aber net leiden können, weil er alt war und i grad damals in an verliabt g'wesen bin. Und was hab' i jetzt davon? Rackern därf i mi, daß Meiner im Wirtshaus sitzen kann. Unter an goldenen Schmuck gib di net her. Wer mehr gibt, der hat di. Dö paar schönen Jahrln san bald tschali und gar wannst verheirat't bist, mit an Schüppl Kinder, so is mit der Schönheit habe die Ehre. Dumm a jed's Frau'nzimmer, die ihr G'frießl net zum benutzen versteht.«

Milly war zu klug, um diese Warnung nicht zu beherzigen. Sie dachte an ihre Mutter, die trotz einer glücklichen Ehe nicht das beste Los gezogen. Und Ehrenhaftigkeit? Pah. Sie wußte, daß ehrenhafte Frauen aus armem Stande hungern können.

Zu diesen praktischen Bedenken kam noch, daß Milly weder verliebt noch sinnlich war. In ihren Adern rollte kühleres, man möchte sagen reineres Blut als in denen der Ambros. War diese von einer schrankenlosen Lüsternheit beherrscht, so war das junge Mädchen von einer fast keuschen Zurückhaltung. Gewiß, es hatte beschlossen, sich zu gelegener Zeit zu ergeben, aber wie man für gelegene Zeit einen Einkauf beschließt.

126 Die Fabrik, in der Milly arbeitete, beschäftigte fast meistens Frauen. Mit ihren Kameradinnen stand sich das wegen seiner Schönheit etwas hochmütige Mädchen nicht am allerbesten. Von seiten der anderen war es Neid, der sie ihre Sticheleien an der unbeliebten Genossin erproben ließ, besonders als man zu bemerken glaubte, daß der gefürchtete Fabriksleiter dieser einzigen Arbeiterin Vergünstigungen zuteil werden ließ, deren sich keine andere rühmen konnte. Obwohl die Bevorzugte tat, als merke sie das nicht, merkte sie es dennoch nur zu gut. Dieser Mann war weder im Bösen noch Guten zu verachten. Sonst unbestechlich und von eiserner Strenge, war dennoch der alte Adam im Menschen geneigt, ihm einen Streich zu spielen.

Fast unmerklich geschah seine Annäherung, und es gehörte der Neid und die Eifersucht von fünfzig Saalgenossinnen dazu, diese Allmählichkeit zu bemerken und hämisch zu kommentieren.

In aller Gemütsruhe ließ das Mädchen die Ereignisse an sich herankommen. Es war entschlossen, nicht nur keine Ermutigung zu geben, sondern im Gegenteile durch wohlberechnete Sprödigkeit das Höchsterreichbare für sich herauszuschlagen.

Der erste Schritt, den der Fabriksleiter auf seinem Eroberungsausfluge machte, war, Milly in eine bessere Abteilung zu versetzen. Außer leichterer und besser bezahlter Arbeit traf es sich manchmal für die Arbeiterinnen dieser Abteilung, daß sie eine Stunde früher Feierabend machen konnten, als die der anderen.

Waren es auch nicht außergewöhnliche Benefizien, die mit der vorgerückten Stellung verbunden waren, schienen sie für ein armes, angestrengt arbeitendes Fabriksmädchen groß genug, um ihm den Weg zu weisen, wo es der vollen 127 Gnadensonne entgegenging. Zudem konnte der Leiter als ein stattlicher, fast schöner Mann gelten, dessen Blicke auf sich zu ziehen gewiß die meisten hübschen Mädchen gerne ertragen hätten.

Selbstverständlich wurde diese auszeichnende Versetzung seitens der früheren Saalgenossinnen mit großer Entrüstung aufgenommen. Jahrelang mußte so ein armes, in der Fabrik fast altgewordenes Mädchen warten, bis an sie die Reihe zum Vorrücken kam. Die ganze Entrüstung war aber in ihren Folgen eine rein platonische, ohne die mindeste praktische Wirkung. Milly kümmerte sich auch nicht im mindesten darum. Ihr konnte aller Neid nichts anhaben.

Herr Tell, so hieß der mächtige Arbeitstyrann, hatte durch die Versetzung zwei Fliegen mit einem Schlag getroffen. Zum ersten konnte die Auszeichnung von dem Mädchen nicht mißverstanden werden, zweitens war es nunmehr in seiner Nähe und Gewalt. Zu jeder beliebigen Stunde konnte er einen Auftrag erteilen, dies oder jenes in dem oder jenem Magazin zu suchen. Die Magazine waren sehr weitläufig, manche äußerst selten besucht, und hatten einem Werkführer schon oft Gelegenheit zu einer Liebesstunde mit einer Arbeiterin gegeben.

Hatte Tell auf eine rasche Eroberung gerechnet, so sah er sich zunächst sehr enttäuscht. In unnachahmlicher Weise spielte Milly die Gekränkte, in ihrer Tugend Beleidigte. Dabei blieb noch genügend an Hoffnung für den Mann übrig, um seines Sieges für eine spätere Zeit sicher zu sein.

Einstweilen nahm die Spröde dankbar die verschiedenen Geschenke an, die ihr der Fabriksleiter an heimlichen Orten mit halben Worten überreichte. Ein Mädchen, das Geschenke nimmt, ist dem Spender sicher, so dachten sich beide in ihrer Art. Von Milly war es eine indirekte Aufforderung an 128 den Mann, in seiner Geduld nicht wankend zu werden, für Tell die Gewißheit, daß zum letzten Angriffe ein schweres Geschütz, das heißt ein Geschenk nötig sei, das allen tugendhaften Bedenken ein Ende machen müsse.

Wäre der verliebte Mann imstande gewesen, durch Herauskehrung seines Standes als gefürchteter Vorgesetzter auf das Mädchen einzuwirken, er hätte es versucht. Aber er mußte sich sagen, daß auch dies wohl bei Milly nichts genützt hätte, daß sie im Vertrauen auf ihre Schönheit den Posten leichten Herzens verlassen hätte und daß es in ihrer Macht gelegen wäre, ihn vor allen zu blamieren. Ein abgeblitzter Liebhaber, der, um sich zu rächen, einem Mädchen die Arbeit raubt, trägt außer dem Fluche der Brutalität noch den der Lächerlichkeit.

So hieß es denn, sich in Geduld zu fügen und die kluge Kokette mit dem einzigen Mittel zu bezwingen, das Mephisto Faust anriet: Schmuck. Das kostete Geld, viel Geld, und ein Fabriksleiter ist noch lange kein Millionär.

Aber der Besitz eines so schönen, blutjungen, noch unberührten Dinges war die Kosten wert. Auch in der neuen Abteilung hatte der Eindringling manch hämisches Wort zu vernehmen. Man machte es dem »Flitscherl« fast zum Vorwurf, hier unter lauter gesetzten, alten Arbeiterinnen mittun zu wollen. Eine machte einmal die Bemerkung. »Müass'n in' Herrn Fabriksleiter damisch viel aufzagt hab'n mit Ihnerer G'schicklichkeit. Se san a Glückskind. Andere brauchen zehn, fufzehn Jahr, bis s' so viel können wia Se. Über a ›G'schicklichkeit‹ steht nix auf.«

»Ja mein Gott,« antwortete Milly, »im vorigen Jahrhundert war m'r no net so weit, wie heutingtags, und wann m'r früher mit die Keppelzähnd g'arbeit't hat, so arbeit't m'r jetzt mit die Händ'.«

129 »Na, wenn nur die Händ' so g'schwind gangten wia 's Züngerl. Am meisten, glaub' i, gengan bei Ihner die Aug'n im Kras, wann wer hereinkummt und Ihner ins Magazin schickt.«

Milly sprang auf.

»Halten S' Ihner z'ruck und denken S' ehnder nach, bevor S' a jungs Madl schlecht mach'n woll'n. Wann i wem g'fall', so is des net mein Sachen. I hab' m'r mein G'sicht net ausg'suacht und g'fall'n kann i an jeden, der will. Sunst aber is aus mit'n G'spaß. An mi hat si no kaner traut und wird si ah kaner trau'n und wann's d'r Herr Pamsti is.«

Niemand wagte mehr eine Bemerkung, das Mädchen sah zu kriegerisch aus.

Eines Tages erteilte ihr Tell wieder einen Auftrag, in einem Magazin Dinge in Ordnung zu bringen, die dem Erinnern der ältesten Angestellten nach ihr Lebtag nie in irgendwelche Ordnung zu bringen waren. Die Kolleginnen lächelten hämisch und nickten einander verstohlen zu. Das lag doch aufgelegt da mit dem »Ordnen«.

Milly selbst zögerte einen Augenblick. Dann aber warf sie trotzig den blonden Kopf zurück und ihren Widersacherinnen einen verächtlichen Blick zu und begab sich hinaus.

Was sie erwartet, ereignete sich wieder. In dem Magazine angelangt, trat ihr Tell entgegen. Ihrem rasch spähenden Blicke entging nicht, daß in dieser Abteilung, für Säcke und Kisten bestimmt, eine gewisse Anordnung getroffen war, geeignet genug, die Situation als eine entscheidende anzusehen.

Einige Kisten waren so zusammengestellt und mit wohlzusammengelegten Säcken bedeckt, daß sie ganz gut ein Lager darstellen konnten.

130 Tell ließ aber dem Mädchen nicht viel Zeit zum Nachdenken. Mit den ihr bekannten, halben, gestammelten Worten überreichte er ihr ein Etui. Es war ziemlich groß und ließ einen gediegenen Inhalt vermuten.

Milly öffnete es scheinbar so teilnahmslos, wie sie bisher all die kleinen Geschenke besehen hatte. Aber ein Blick auf die in ihrem Sinne unerhörte, goldene Pracht entlockte ihr einen Ausruf der Freude. Ein Ring, ein Armband, ein Medaillon und ein Paar Ohrgehänge – goldig und blitzend von Steinen.

Und ein zweiter Blick voll Verheißung dem Spender, der die Wirkung seines Geschenkes wohl berechnet hatte. –

Milly wehrte sich nimmer gegen seine Umarmungen, nimmer gegen seine Küsse.

»Aber gengen S, wann wer kummt und siecht uns a so?« stammelte sie.

»Niemand, niemand, mein Kind, niemand, o komm'! Ich habe dich so lieb – so lieb –«

Er drängte sie nach dem improvisierten Lager hin. Im Zurücksinken klammerte sie sich an seinen Hals.

»O, net – net – wann das wer wüßt' . . . .«


In Wirklichkeit wußte es alles und jedes. Man sprach in der Fabrik ganz offen und ungescheut davon, solange man sich aus der Gehörweite des Gefürchteten wußte. Dieser hatte nach endlichem Siege dem Mädchen ein geräumiges, vom Gange direkt zugängliches Kabinett gemietet und eingerichtet. Noch weit von der Erfüllung seiner Träume entfernt, hatte Milly den gegenwärtigen Zustand als Erlösung aus dem drückenden Verhältnis als schlechtentlohnte Arbeiterin und als erste Stufe auf der Leiter zum »Unnumerierten« aufgefaßt. Tatsächlich war die Stellung 131 Millys in der Fabrik nur mehr eine bloße Sinekure geworden.

Die gerechte Gereiztheit der anderen Arbeiterinnen und Arbeiter ließ sich nimmer länger zurückhalten. Eine besonders bösartige unter ihnen, die »g'flickte Anna«, schürte den Haß gegen das Paar mit allen Mitteln.

Als ihr eines Tages Herr Tell eine Partie fertiggestellter Ware voll Mißachtung als unbrauchbar zurückwies, gab sie dem Nörgler ganz einfach eine schallende Ohrfeige. Dies war das Signal für die anderen. Man stürmte auf ihn ein und hieb auf den vor Überraschung fast gelähmten Mann los. Die »g'flickte Anna« hatte sich eines Kistendeckels bemächtigt, damit herzhaft zuschlagend. Als männliche Hilfe herbeikam, ward Tell, ohnmächtig, von den wütenden Arbeiterinnen umringt, aus ihrer Nähe befreit.

Das Ereignis machte die Runde in allen Fabriken des Bezirkes. Man hatte eine unendliche Freude an diesem Akte von Selbstjustiz.

Selbstverständlich kam die wirkliche Ursache der allgemeinen Unzufriedenheit zur weitgehendsten Erörterung. Man wollte das Liebespaar auf allen Korridoren, in allen Kellern und Schlupfwinkeln in flagranti ertappt haben. Ja, man schuf sich förmliche Schlagworte, um die Liebesbrunst des Paares zu illustrieren, wie: »In so an Magazin – liegt was drin!«

Der Chef, der trotz aller Abneigung gegen Zwischenträgerei und Werkstättenklatsch endlich doch Notiz von dem Vorfalle nehmen mußte, spürte der Sache nach. Durch private Einvernahme einiger alter Arbeiterinnen kam er auf die Vorfälle, die sich in den Magazinen abgespielt haben sollten, in Wirklichkeit sich jedoch nur ein einzigesmal ereignet hatten.

132 Er ließ sich daher einmal zu einem Gang durch die Abteilung herbei, die Schön-Milly zierte.

Acht Tage später erhielt Tell die Kunde von seiner Versetzung nach einer Filiale in einem Kronland der Monarchie, bei verbesserten Bezügen.

»Ich nehme nur Rücksicht auf Ihre Familie«, bemerkte der Chef in einer Art wohlwollender Strenge. »Sie haben es so getrieben, daß Ihre schleunigste Transferierung geboten erscheint. Ich darf den Ruf meines Etablissements nicht durch solche Dinge herabsetzen lassen. Wir sind Männer und verstehen derlei. Aber wir sind auch Geschäftsmänner genug, um zu wissen, daß der Betrieb ganz gehörigen Schaden erleiden kann, durch – durch – nun, Sie wissen, durch solche Abenteuer.«

Am selben Tage war Milly von ihrem Arbeitsorte verschwunden und besaß eine ziemlich luxuriös eingerichtete Wohnung im neunten Bezirke. Sie hatte Tell nimmer gesehen. Der moralische Chef litt dies nicht. Der Tausch war ein angenehmer, insofern es sich um die Erfüllung eines Traumes handelte, die eine vornehme Wohnung und die zeitweise Benützung eines »Unnumerierten« in die rosigste Nähe gerückt hatte. Aber war sie zuvor wirklich eine Geliebte gewesen, – jetzt war sie eine bezahlte Ware. Der Chef, ein Norddeutscher, schon ziemlich in Jahren, behagte persönlich dem leichtlebigen, graziösen Wienerding gar nicht. Er behandelte sie fast wie ein preußischer Korporal seine Rekruten. Den kapriziösen Launen seiner Maitresse setzte er einen so nüchternen, geschäftsmäßigen Widerstand entgegen, daß mit allem bengalischen Feuer einer erheuchelten Zärtlichkeit und Liebesseligkeit »kein Jota nich« zu erreichen war, wie das ständige Sprichwort des trockenen Galans lautete. Er hatte sich genau berechnet, was ihn der 133 »Mumpitz« kosten dürfe und war zu der glücklichen, geschäftsmäßigen Tarifierung gelangt, die eine selbst gesuchte und geschätzte Ware noch immer nicht überzahlen läßt.

Eines Tages war es zwischen den zwei so grundverschiedenen Temperamenten zur heftigsten Auseinandersetzung gekommen. Eigentlich buchte der Begriff »Heftigkeit« nur im Konto des weiblichen Teiles. Der Mann wurde wenn möglich noch um einige Thermometergrade eisiger als sonst, und setzte den saftigsten Invektiven, die jemals aus dem Munde einer schönen Wienerin kamen, nur seine gewöhnliche Geschäftsmiene entgegen, wie zuzeiten, wo seine Arbeiter mit dem Streik drohten.

»A so a preußischer Heiland«, zeterte Milly. »Du bist ja schlechter wia zehn Jud'n. Nimm d'r Ane, die – waßt eh. Auf dös Glump' pfeif' i d'r. Da davon kann i nix abbeißen. Den Wag'n kann i eh nur alle Monat' auf zwa Stund' hab'n. Net anstehn auf an so an notigen Beut'l, wia Sö san. D' Leut' schind'n bis aufs Bluat, a Geliebte habm woll'n, der m'r net anmal das Notwendigste gibt – so a Kavalier, pfui Teufel! Schaun S', daß S' weiterkummen, Sö alt's Talmigigerl. Suachen S' Ihner unter Ihnere Mad'ln aus d'r Fabrik ane aus, die schon 's fünfundzwanzigste Rackerjubiläum bei Ihner feiert. I find m'r no an andern und wann's der schäbigst' Jud is, is er mir liaber, wia a so a preußischer Fallot.«

Das Ende war, daß der so Apostrophierte mit ruhiger Hand nach seiner Brieftasche griff, seiner Maitresse auf der Stelle kündigte und ihr einen vollen Monat ausbezahlte, geradeso, wie er seinen Angestellten gegenüber zu tun pflegte, wenn er einen Knall und Fall entließ.

Er tat es diesmal nicht ohne Bedauern und wäre nicht die dringende Mahnung des Arztes gewesen, auf gewisse 134 Sensationen, die nur der Jugend gebühren, zu verzichten, so wäre der schöne Bund noch lange Zeit nicht gelöst worden.

Milly packte noch selben Abends ihre Wäsche, Wertsachen und Geld zusammen, nahm einen Einspänner und fuhr zur Ambros, die sie schon seit langem nicht besucht hatte. Sie wollte sich für kurze Zeit bei ihr einmieten und hoffte das Kabinett besitzen zu können.

Es traf sich wirklich so günstig, daß dieses schon einige Tage frei war und Milly nichts hinderte, es sogleich zu beziehen.

Als das junge Mädchen sich in seinem provisorischen Heim umsah, kam ihm vieles so bekannt und vertraut vor. Besonders eine alte Kommode mit einem, unter Glassturz befindlichen vergoldeten Christus rohester Schnitzerei, dessen Kreuz auf einer Art ultramarinblauer Weltkugel oder etwas ähnlichem stand. Da es diese Beobachtung der Ambros gegenüber äußerte, meinte die: »Kannst di nimmer erinnern? Das san ja die Sachen von die Brennerleut', die i nach'n Tod von der Frau kauft hab'. Lang wirst ah net bei mir bleib'n können, denn in a acht Täg ziagt si d'r Anton zu mir. Er nimmt das Kabinett, weil die Sach'n von seine Eltern da san.«

»D'r Anton?« rief Milly erfreut, »o Gott, den hab' i jetzt schon vielleicht – no, a sechs Jahr werd'n 's sein, daß i 'hn net g'seg'n hab'. Ja, was macht denn er? Möcht' 'hn do gern wieder anmal seg'n.«

»Das kannst vielleicht heut oder murg'n. Er is a fescher Kerl word'n, groß und stark. In d'r Fabrik bei'm Meißler und Söhne arbeit't er. Und weil er von da nächender hinhat, ziagt er zu mir.«

Dann kamen sie auf Millys Streit mit deren Aushälter zu sprechen, auf ihre ferneren Aussichten und darauf, was sie schon erreicht habe.

135 »I wär' an deiner Stell' net so g'schmissi g'wesen,« tadelte die Ambros. »Jetzt kannst am End' langmächti' passen, bis si wieder wer find't und in a Arbeit wirst do nimmer gehn woll'n.«

»Warum net? Zur Abwechslung. Das ewige Faulenzen tuat ah net guat und so viel hab' i überhaupt, daß i a Zeitlang net von dem allan leb'n muaß, was i verdien'. Und übrigens – mir hat g'rad das, daß i in aner Arbeit war, Glück bracht. Die Männer fliag'n mehr auf ane, die s' für a Mad'l halt'n, das schwer z'hab'n is. Schad um 'n Tell,« fügte sie melancholisch hinzu, »i glaub', den hab' i beinah' wirkli gern g'habt. Er mi ganz sicher.«

Abends, Milly hatte es sich schon ganz bequem gemacht, hörte sie im Zimmer eine Stimme, die sie noch nach Jahren wiedererkannte. Sie öffnete hastig und freudig die Türe – die ehemaligen Jugendgespielen standen einander gegenüber.

Als Anton seine Freundin erkannte, war er im Anfang vor freudigem Staunen sprachlos. Aber diese fiel ihm ohneweiters um den Hals und eine Träne kindlicher Rührung feuchtete ihr Auge.

»Toni, Toni, kennst mi no? Jessas, wia lang hab'n m'r uns net g'seg'n. Und was für a Mann als d' word'n bist! Aber für mi bleibst allweil der liabe, liabe Bua vom Nachbarn. Es is mir akrat so, als wär's no wia damals, wo's d' zu uns kummen bist und mir daham ›Vaterl‹ g'spielt hab'n.«

Anton sah immer und immer wieder das schöne Mädchen an und konnte sich lange nicht zu der Unbefangenheit desselben entschließen. Ob er sie noch erkannte! Und ob er an sie gedacht! Nein, die Erinnerung an diesen glänzenden Schmetterling seines rauhen Kinderfrühlings hatte er nie verloren.

136 Nun standen sie wieder einander gegenüber, er fühlte noch den harmlosen Kuß, den die Jugendfreundin ihm in der ersten Aufwallung der Wiedersehensfreude gegeben.

Wie schön, wie über alle Maßen schön sie geworden war! Dem rauhen, ernsten Burschen schlug das Herz vor aufregendem Entzücken. Und sie war ihm gegenüber die Alte geblieben, mit derselben treuherzigen Zuneigung von einst. Der Abend vereinigte in Millys einstweiligem Wohnraum die drei, wie zu jenen Zeiten, da man sich's noch bei Mutter Brenner behaglich machte. Selbstverständlich weihten die beiden Frauen den jungen Mann nicht in die näheren Lebensschicksale der jüngeren ein. Anton war's zufrieden, daß es seiner Freundin gut gehe, und ihr ganzes blühendes, jugendfrisches Aussehn bestätigte ihre Versicherung. Seit langem kamen die beiden verwaisten Menschen zum ersten Male wieder zu einer ernsten Erinnerung an ihre Familien.

Antons tiefer angelegter Charakter verweilte länger dabei als der des lebenslustigen, leichtsinnigen Mädchens.

Als er Abschied nahm, sagte ihm Milly:

»Kumm alle Abend, solang i no da bin; wann i furtgeh', wer waß, wann m'r uns wieder seg'n.«

»Hoffentli von jetzt an recht oft, Milly,« antwortete zärtlich Anton, »verlier'n m'r uns nimmer für so lang! Wann m'r's recht nimmt – hab'n nur wir zwa uns allan.«

Einen Monat dauerte dieses glückliche Verhältnis, da die junge Postenwerberin behauptete, nirgends unterkommen zu können. Einen schüchternen Vorschlag des Freundes, ihr mit Geld dienen zu wollen, lehnte sie lachend ab, belohnte aber seine Absicht mit einem Kusse.

Eines Abends, da beide allein waren, gestand Anton seine langgehegte Absicht, mit ihr einen gemeinsamen Haushalt zu beginnen, bis die Umstände eine Heirat zuließen.

137 »Net weiter, Toni,« sagte das Mädchen mit seltsamer Entschiedenheit. »I hab' schon lang g'wußt, auf was d' hinaus willst, aber so was kann i dir und mir net antuan. I will geg'n di net falsch sein. A Leb'n, wia's die meisten Weiber von Arbeitern führ'n, mag i net. I bringert's net z'samm'. Liaber tua i d'r anmal, das erstemal weh, als später vielleicht für's ganze Leb'n. I hab' a anders Bluat g'erbt, wia du. San m'r so guat, wia m'r uns immer war'n, i hab' di ja so gern, aber das ane verlang' net!«

Als sie das Erblassen des aus seinen süßesten Hoffnungen geweckten Burschen, das Zucken seiner Lippen, den tieftraurigen Ausdruck seiner Augen bemerkte, tätschelte sie ihm freundlich die Wangen.

»Tschapperl! Kannst mir a Wohnung einrichten mit g'schnitzte Möbeln, Samtsesseln, Teppich', Badezimmer? Kannst m'r wenigstens an Dienstboten halt'n? Kannst m'r an Unnumerierten zahl'n, daß i ausfahr'n kann, wann's m'r paßt? Wann m'r Kinder hätt'n, kunnt'st m'r a Ammel, a Kindsfrau halt'n? Und das andre all's was drum und dran hängt: Essen, Trinken, schöne Klader, Unterhaltungen – kannst m'r das all's verschaffen? Dann sag' i glei, kan' andern als di. – No sixt, es geht net. Also san m'r g'scheit! Wann m'r uns ans oder 's andre anmal brauchen, mir halten z'samm'. I wir di immer gern hab'n, denn wia's d' g'sagt hast, mir ham niemand mehr außer uns. Nur g'scheit sein, Tonerl! Wannst a Prinz warst und i a Prinzessin – na«, lachte sie, »wannst an Haupttreffer macherst oder i an, da brauchert m'r kane Prinzen z'sein. So, da hast a Busserl und sag', es war nix.«

Antons Blick hatte sich fest auf ihr liebliches Gesicht geheftet.

»Du hast recht – sag'n m'r, es war nix. Daß du 138 schon so a Schul' mitgemacht hast, hab' i net wissen können. Is ah ka Wunder bei dein' G'sichtl – – –! Schon guat, i wir d'r nix in Weg leg'n woll'n.«

Und aufrecht gehalten durch den Stolz, der das bitterste Liebesleid des Mannes vor Spott oder Mitleid zu schützen weiß, ließ er dieses Thema fallen und spielte später, als die Ambros heimkam, einen leidlich guten Gesellschafter.

Und heute zum ersten Male fand er, wie ähnlich sich diese beiden Wesen sahen. Es war wie eine erst aufgedämmerte Erkenntnis.

Die Ambros in ihrer Frauenhaftigkeit nach einer kurzen Ehe (sie war seit einem Jahre Witwe) bildete zu dem jungen, übermütigen Mädchen halb einen Kontrast, halb eine Ergänzung. Anton grübelte darüber nach, warum er die eine liebe und die andre ihm gleichgültig sei? Schön waren sie beide, auch gleich liebenswürdig in ihrer besonderen Art. War es vielleicht nur die Kindererinnerung, die natürliche Anhänglichkeit an seine erste und einzige Jugendfreundin? Wirkte die Helligkeit, die das sylphidenhafte Mädchen in seine trübe Kindheit gebracht, noch jetzt herüber?

Er seufzte leise und empfahl sich bald. Der Zeitraum von einer Woche, den Milly für ihre Einmietung beansprucht, war auf einen Monat gediehn. Um keinen Preis hatte Anton die Geliebte auch nur um eine Minute ihres Aufenthaltes verkürzen wollen. Hoffte er doch, daß aus dem provisorischen ein dauernder werden würde. Die Liebessehnsucht solch junger Paare des arbeitenden Volkes kennt keine unfruchtbare Sentimentalität und kein Zögern. Man zieht ganz einfach zusammen auf ein Kabinett, lebt kürzere oder längere Zeit, oft auch für's ganze Leben in dieser Gemeinsamkeit und schließt auch manchmal den vom Priester gesegneten Bund am Sterbelager in irgendeinem Spital oder einer Zelle des 139 Gefängnisses. Vor allem kennt man nicht die Hindernisse der guten Gesellschaft, wo man oft auf das selige Hinscheiden einer steinreichen Tante oder gar der eigenen Erzeuger warten muß, auch nicht die Verzögerung, die das Avancement oder die Beschaffung der Offizierskaution bereitet. Man zieht zusammen und ist deshalb nicht weniger geachtet, als ob er seinen Referendar gemacht und sie ihr Pensionat verlassen und nun beide ein glückliches Ehepaar geworden wären.

Als der junge, unglückliche Liebhaber am nächsten Abend wiederkam, vermißte er das Mädchen.

»Jetzt is Ihner Kamenet frei,« sagte ihm die Ambros, »d'Milly hat heut an Briaf kriagt, und is außer Wien in an Posten, hat s' m'r g'sagt. Wo, waß i aber selber net.«

Anton blickte die Frau ernst an. »Den Marker glaub'n S' aber ah selber net, was? I bin ah kan heuriger Has net. Das Madl und an Posten? – Mir kann's recht sein, i wünsch' nur, sie möcht' si net anschmiern. Im Anfang geht's recht schön, aber später oft – – no guat, am Montag ziag' i ein. Das z'Bett Umkugeln hab' i schon bis daher,« und er fuhr mit der Handseite an die Kehle.

Die neue Quartiergeberin, die ihren »Kammerherrn« schon als Knaben gekannt, war in kurzer Zeit bis über die Ohren in den jungen, ernsten, ja schwermütigen Burschen verliebt. Seelische Leiden bewirken, daß selbst ein rohes Antlitz veredelt wird und Anton war sogar ein hübscher Mensch mit einem wohlgeschnittenen Antlitz von feinem fast mädchenhaftem Ausdruck.

Die junge Frau besaß die Gabe, die Eroberung eines ihr genehmen Mannes ohne jeden Schein der Aufdringlichkeit zu machen, andererseits sich so erobern zu lassen, daß der beglückte Sieger vermeinen mußte, der einzig Auserwählte zu sein. – – –

140 Als sich Anton nach Verlauf von kurzer Zeit in ihre Arme warf, umarmte er aber nicht die hübsche Frau Ambros, sondern das Ebenbild derjenigen, die er nicht besitzen konnte und die er unaussprechlich liebte.


Unterdes prüfte Milly halb kritischen, halb entzückten Blickes ihr neues Nest. Das war einmal was, das sich sehen ließ. Geradezu entzückend. Ein Salon, ein Schlafzimmer, Baderaum (Vorzimmer, Küche, Dienstbotenzimmer gar nicht gerechnet). – Die neuakquirierte Maitresse Herrn Tänzingers stellte sich vor dem hohen Toilettespiegel in Position. Sie fühlte, sie war ihr Geld wert. Und als ihr fettiger, geifernder, wortfauler Galan ins Zimmer trat, flog sie ihm an den Hals und nannte ihn ihr »Mausi«.

* * *

Wieso kam der ehrenwerte, vielfach verstockte Hausherr, konzessionierte Fuselausschenker, brave Vater und trauernde Witwer dazu, sich ein so holdes Wesen fast an die (bei festlichen Gelegenheiten obligate) schwergoldene Uhrkette förmlich anzuhängseln?

Alles an Herrn Tänzinger widerstritt diesem unnatürlichen Verhältnis. Fusel und eau de cologne oder parme violette oder usw., Schmerbauch und engelhafte Zartheit, Geifer und Honigseim, Faulheit und graziöse Beweglichkeit, Pfennigfuchserei und wilde Verschwendungslust, Schläfrigkeit und tolles Zärtlichtun, Kröte und Lilie – – –

O Herr Tänzinger! Wer warf Ihnen dieses reizende, liebliche Geschöpf in Ihre Arme? Wer gab Ihnen das Recht, mit Ihren vor lauter Kupferheller-Zählen fast grünspanigen Fingern diesen Leib auf seine geheimsten Schönheiten hin prüfend zu betasten? Wer gab Ihnen, nicht nur das Recht, 141 sondern mehr als das beinahe, die Macht, all dieses zu tun? Hatte der Vater Ihrer Maitresse nicht einen um den andern schwer verdienten Kreuzer in Ihre Hände gelegt, um seine Tochter einst das Werkzeug Ihrer Greisengelüste werden zu lassen? Ward nicht jeder seiner Schweißtropfen ein Fetttropfen an Ihrem Körper?

Milly spielte ihrem schmerbäuchigen Seladon gegenüber die liebenswürdigste Tyrannin. Daheim ließ sich Herr Tänzinger von seiner Tochter, in seinem buen retiro von seiner Geliebten hunzen. Schlauerweise hatte er erfaßt, daß diese noch Neuling genug war, um mit ihren Forderungen nicht allzu anspruchsvoll zu sein. Er konnte sich in seinen alten Tagen einen Luxus wie diesen erlauben. Seit dem Tode seiner Frau gab es keine Gesellschaften mehr, seine sonstigen Privatbedürfnisse waren im Vergleiche zu seinem Vermögen lächerlich geringe.

In den letzten Wochen hatte ihm seine Geliebte unter Liebkosungen und zärtlichem Schmollen das Versprechen abgerungen, ihr einen Lehrer für Französisch und Klavierspielen, sowie einen schönen Flügel zu verschaffen.

Der geriebene Geschäftsmann hatte auch diesesmal ein Mittel gefunden, die ganze Sache zu verbilligen. Er mietete ein Pianino, dessen Hauptvorzug die glänzende, neue Politur war. Und als Lehrer hatte er, wie gezeigt, in Ludwig den geeigneten Mann gefunden.

Ob ihm nicht Bedenken aufstiegen, zwei so jungen Leuten förmlich die Gelegenheit zu einem Liebeshandel zu geben? Nein. Herr Tänzinger kannte die Welt und kannte seine Leute. Bis ins kleinste war er durch die Personen, denen Ludwig seine Empfehlung verdankte, über die Eigenschaften sowie den Charakter des jungen Hauslehrers unterrichtet. Seine Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und provinzlerische 142 Unverdorbenheit waren den scharf prüfenden Augen Tänzingers kein Geheimnis geblieben. Der würde den weitestgehenden Avancen des jungen Mädchens nicht entgegenkommen, wenn diese es überhaupt versuchen wollte. Denn Milly vermochte den erfahrenen Mann mit ihren erheuchelten Zärtlichkeiten nicht darüber zu täuschen, daß sie, abgesehen von der Komödie ihm gegenüber, ein nichts weniger als verliebtes, heißblütiges, sondern eitles, berechnendes und vergnügungslustiges Ding sei.

Und nahm man die Sache wirklich in ihren letzten Konsequenzen – pah! Ludwig wäre nicht der unangenehmste Nebenbuhler gewesen. Und was man nicht weiß – – –! Seinem Phlegma dankte Herr Tänzinger alles: Reichtum, Glück, Gesundheit. Sollte er diese köstliche Naturgabe wegen eines bezahlten, hübschen Dinges riskieren? 143

 


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