Karl Adolph
Haus Nummer 37
Karl Adolph

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Zweites Kapitel.

(Vermittelt die Bekanntschaft einiger weiterer Personen und zeigt die Kehrseite der humoristischen Lebensauffassung des Drahrerordens.)

Es war das letzte Haus der erst zum vierten Teile ausgebauten Straße in dem sich mächtig vergrößernden Fabriksbezirke; ein vorgeschobener Posten der Großstadt gegen die noch durchaus ländlichen Charakter aufweisende Gegend. Von allen Seiten stand es frei, umgeben von wüsten Bauplätzen, die ihres spärlichen Grasbestandes wegen vom Volke »Wiesen« genannt wurden.

Obwohl an die Feuermauern schablonierte Inschriften vor »jeglicher Verunreinigung, Ableeren von Mist, Schutt und dgl.« warnten, bildeten diese sogenannten Wiesen mehr oder weniger bloße Schuttablagerungsplätze.

Freilich hinderte dieser Umstand die armen Bewohner der umgebenden Häuser nicht, diese Plätze als Erholungsstätten zu benützen. Die Mütter suchten sich irgendeinen, mit staubigem Gras versehenen Fleck zum Niedersitzen aus, und mit irgendeiner Flickerei oder dem Strickstrumpf beschäftigt, leiteten sie die ziemlich belanglose Aufsicht der spielenden Kinder.

Zerrissene, verlumpte Trunkenbolde suchten im Schatten der Mauer ein Plätzchen, an dem sie, das Gesicht mit dem Hute bedeckt, den in einem Branntweinladen erkauften Rausch verschliefen. Ab und zu suchte sich einer auch den Ort als Bedürfnisanstalt aus, unbekümmert um die 17 neugierig umherstehenden und gaffenden kleinen Mädchen. Wie ungeschützt die Kinder des Volkes auch sein mögen, die größte Schutzlosigkeit, der sie preisgegeben sind, ist die auf dem Gebiete der Moral.

An den Sommerabenden bildete die Wiese auch den Zusammenkunftsort der vom Tagewerk heimkehrenden müden Arbeiter mit ihren Familien. Eine halbe oder ganze Stunde verrastete wohl auch der Vater den oft sehr weiten Marsch von der Arbeitsstätte, dann zog alles heim zum Abendessen.

Die neue Gasse lag ziemlich abseits von der zur Feierabendzeit äußerst belebten Bezirkshauptstraße, und nur ein winziger Bruchteil der mächtigen Arbeiterlegion hatte hier seine Behausungen. Das erwähnte, einsam dastehende Haus war erst vor kurzem vollendet worden und hauchte dem Vorübergehenden fast noch den kühlen Duft frischen Kalkes entgegen.

Nichtsdestoweniger war es schon vollständig bewohnt, und selbst die im Parterre befindlichen Geschäftslokale hatten bis auf ein, für ein Gasthaus bestimmtes, ihre Mieter gefunden: den unerläßlichen Greisler, einen Branntweinschenker und einen Pferdefleischausschrotter, der auch eine »Kosthalle« hielt, in der man um wenige Kreuzer undefinierbare Speisen vorgesetzt bekam, die sich aber trotzdem vortrefflich rentierte. Besonders zur Abendzeit war das Lokal dicht gefüllt und offenbar schmeckte es den Gästen ganz ausgezeichnet. Der Magen ist ein Despot, heißt es. Aber er ist auch das feigste, anpassungsfähigste Ding der Welt. Und Optimist ist er ebenfalls. Wie eine launische Herrin mag er wählerisch beim Überfluß sein, aber bescheiden und dankbar ist er zur Zeit des Mangels. Ihm wird Fleisch zu Fisch und Fisch zu Fleisch, je nachdem es die Einbildung erfordert. –

18 Ein Wirt konnte die Konkurrenz noch nicht aufnehmen. An diesem abgelegenen Posten war nicht daran zu denken, ein besseres als konsumtionsloses oder zahlungsunfähiges Publikum anzulocken. Der Greisler stellte in Flaschen ein dünnes Bier, der »Roßfleischhacker« ein fragwürdiges Menü bei. Wer sollte da den Wirt in Anspruch nehmen?

Aus der Richtung der Hauptstraße kamen zwei junge Leute, deren einer einen Handkoffer trug und den zugereisten, stadtfremden Provinzler nicht verkennen ließ. Der andere in Arbeitsbluse war der Typus des autochthonen Bewohners der Kaiserstadt.

Die beiden waren im Begriffe, den Hausflur zu betreten, als ein kleiner, hübscher, aufgeweckter Knabe daraus hervorkam. Von Bekleidung desselben war kaum zu sprechen. Ein Hemd und ein kurzes Höschen war alles. Übrigens die Normalbekleidung aller Knaben und Knäblein in weitem Umkreise.

»No, Franzerl,« sprach der junge Arbeiter den Kleinen an, »wia geht's denn?«

Der zuckte die Achseln und blickte mit traurigen Augen auf den Fragenden.

»Sag's nur, Franzerl, schenier di net, ös habt's an Hunger daham. Hab' i Recht?«

Der Ausdruck des schmalen Kindergesichtes war sprechend genug, um eine Bejahung überflüssig zu machen.

»D'r Voda is schon wieder a paar Täg net hamkumma, was?«

»Schon seit'n Samstag net, und mir wissen ah net, wo er is. D'Muatta fürcht't, daß eahm eppa a Malör g'scheg'n is.«

»Na, das kunnt's schon g'wöhnt sein, daß er net ham 19 kummt. War net dös erstemal. Aber habt's gar nix daham zum Beißen?«

»Seit gestern hab'n m'r nix g'essen«, schluchzte der kleine Kerl.

»Was? Seit gestern? Du und d'Mutter und d'klane Lintschi? Ja, sagt's m'r, werd't's denn ös no Hungerkünstler? Da, kumm her, Franzerl, daß i di net länger aufhalt.« Und der junge Arbeiter zog seine Geldbörse hervor. »Vurige Woch'n hab' i an guaten Akkord g'habt, so kann i ah a bißl was springen lassen. So! Da hast an Guld'n. Geh da zum Greisler und kauf an Lab Brot und an Butter. Beim Ihaha holst a Wurst.«

»Ja, wann i zum Greisler geh', nimmt er mir 's Geld weg und gibt m'r nix, weil m'r eahm schon schuldi san«, äußerte das Kind bedenklich.

»Und liaßt enk verhungern, gelt ja? No wart, i hol' dir's außi. Bleib da derweil beim Haustur stehn. I kumm glei.«

Ohne sich um seinen Begleiter zu kümmern, trat der Arbeiter in den Greislerladen. Der Zurückbleibende sah mit einem Blick, der Mitleid und ein gewisses Staunen ausdrückte, den kleinen Franzerl an, der sich scheu in die Ecke des Haustores drückte und geduldig wartete.

»Wie, mein Kleiner, seit gestern hungert ihr?« frug er ergriffen.

Franzerl blickte scheu zu dem Fremden auf. »D'r Voda hat nix hambracht, und d'r Greisler leicht uns nix.«

»Aber um Gotteswillen . . . . nun, was hilft da alles Reden und Fragen. Wenn ich auch nicht zu viel entbehren kann, da, nimm auch von mir eine Kleinigkeit, gib das Geld 20 deiner Mutter! Vielleicht kommt der Vater heute noch. Was ist er denn?«

»Kutscher, a Schwerfuhrwerker. Aber, wann er ah heut kummt, so bringt er sicher kan Geld, das hat er wahrscheinli schon verdraht

»Wie?« fragte der junge Mann, dem die Wiener Ausdrücke nicht geläufig waren.

Franzerl wollte sich gerade verwundern, daß der Herr ihn nicht verstehe, als zwei Frauen aus dem Hausflur auf die Straße traten. Eine trug einen Bierkrug, die andere einen Milchtopf.

»A so a öde Gegend da, Frau Wachtler, i sag' Ihna, was mein' Mann ein'gfall'n is, daß mir uns daher hab'n ziag'n müassen? Jetzt kann i allweil a halbe Stund um's Bier laufen. Das G'wascht in die Flaschen, was der Greisler hat, trinkt er net, er will überhaupt nur a Lager und umadum is ka urnd'lichs Wirtshaus.«

»Bei d'r Mülli hams grad ah dasselbe. Um Ihna teures Geld kriag'n S' nix, wia a G'schlader. Freili für dös G'lumperthaus is all's guat, denkt si d'r Greisler. Was er bei der Bagaschi mit'n Aufschreib'n draufzahlt, solln mir eahm einbringen.«

»Na, Franzerl,« wendete sie sich, als sie den Kleinen erblickte, an diesen, »auf wem wart'st denn?«

»Am Herrn Brenner, er holt m'r a Brot vom Greisler außi. An ganzen Guld'n hat er mir g'schenkt, und der Herr da hat m'r a was geb'n,« sagte der Bub im Überquellen der Dankbarkeit und Freude über so außerordentliche Freigebigkeit.

»So? Na, da hat's der Herr Brenner, wann er 21 so mit dö Guld'n umhau'n kann. Sollt enker Voda liaber hamkumma und net sein Geld beim Branntweiner versauf'n.«

Obwohl beide Frauen angelegentlich den andern Wohltäter Franzls gemustert hatten, fiel ihnen nicht ein, mit einem Worte seiner Güte für das unschuldige Kind zu gedenken. Sie ahnten offenbar nicht das Verletzende ihrer Rede in Gegenwart eines Menschen, der sich derselben Offenbarung eines mitleidsvollen Herzens schuldig gemacht, wie derjenige, dem ihre absprechende Äußerung galt.

»Da plagt si so a junger Mensch die ganze Woch'n,« nahm die Frau mit dem Bierkrug in unerbetener Vertretung fremder Interessen das Wort, »und dann unterstützt er d'Faulheit und dö Lumperei von an Falotten, der selber für seine Leut' sorg'n sollt'. I sag' Ihner, das wird ka guats End mit dem Fischer nehmen. Soll aner ka Famüli gründen, der s' net derhalten kann oder will. Mein Gott und Herr! Da kunnt' unseraner net gnua tuan, wann m'r für so Leut' ah no sorg'n sollt'. Unseraner muaß sie's ah einteil'n. No adje, Frau Wachtler, mein Alter wart't schon auf sein Bier.«

»Adje, Frau Zlamal!«

Im selben Augenblicke trat der für sein Samariterwerk so wenig Bedankte mit einem mächtigen Laib Brot aus dem Laden.

»Da hast a Brot, Franzerl, und an Butter. Da nimm das Geld, was übriblieb'n is. Und wann bei enk d'r Hunger wieder anmal z'groß is, geh nur zum Greisler. Auf a paar Laberln wird's eahm net ankumma, so weit hab' i schon g'redt. Servas!«

»Da hab' i no was von dem Herrn«, sagte Franzerl 22 schüchtern und wies auf der flachen Hand die paar Silberstücke vor.

»So? Da hast ja heut' dein' Geldtag. Und hast di schon schön bedankt?«

»Na,« gestand der Kleine, »i hab' mi net traut.«

Die beiden jungen Leute lachten.

»So bedank di halt jetzt und tummel di zu der Muatta.«

»I dank' schön«, flüsterte Franzl.

»Ist schon gut, mein Kind. Werde nur recht brav!« sagte der fremde Wohltäter.

Der Dank für den jungen Arbeiter bestand in keinem Worte, aber Kinderaugen sprechen deutlicher als der beredste Mund.

Die jungen Männer traten ins Haus und erklommen den dritten Stock, der heute gemeiniglich ein viertes oder fünftes Stockwerk ist. – Mittlerweile harrte Frau Ernestine Ambros schon seit reichlich einer Stunde in der kleinen Küche und lugte hinter dem Vorhange des Fensters auf den Gang hinaus.

Die Ambros war die Wohnungsgeberin Anton Brenners, der sich als »Kammerherr« deklarieren konnte, im Gegensatze zu der überwiegenden Mehrzahl seiner Arbeitsgenossen, die nur »Bettgeher« waren. Heute sollte er mit seinem Vetter erscheinen, der von nun ab auch sein Wohnungsgenosse wurde.

Dieser Verwandte war Student, und schon der Titel eines solchen verlieh ihm das Anrecht auf weitgehendere Neugierde und Teilnahme, als sie sonst einem neuen Einmieter entgegengebracht worden wäre. Dem seltenen Ereignisse entsprechend war die ganze Wohnung in einen viel 23 netteren Zustand versetzt worden, als zu gewöhnlichen Zeiten.

Auch das Äußere der noch jungen, begehrenswerten Witwe, der Delila des Hauses, hatte eine Umwandlung erfahren.

Hübsche Frauen vertragen gewöhnlich das Odium einer gewissen Schlampigkeit. Man zürnt manchmal gar nicht einem abgesprungenen Knopf, einem aufgerissenen Hemde, wenn diese Defekte der Kleidung eine frische weiße Haut zum Vorschein bringen. In diesem Sinne kam die Ambros den Ansprüchen schönheitslüsterner Augen oftmals zu sehr entgegen.

Sie hatte Anlaß zu vermuten, daß der junge Student ein hübscher gebildeter Mensch sei. Gewisse Titel und Beschäftigungen decken sich immer auch mit einem gewissen Bilde. Aristokraten besitzen stets eine lässige, zierliche Vornehmheit, Studenten sind muntere, lockere Sausewinde, die das Zinsquartal nicht respektieren und denen man trotz aller übermütigen Streiche nicht böse sein kann. Daß sich ein Arbeiter einer Manikure anvertrauen könnte, würde niemandem auch nur im Schlafe einfallen.

Kurz, Frau Ambros träumte von einem großen, flaumbärtigen, flotten jungen Mann mit lachenden Augen und burschikosen Manieren.

Jetzt näherten sich Schritte.

Zweimal ließ sie die Ankommenden klopfen und einmal anläuten.

Als sie öffnete, tat sie dies mit dem Gehaben einer Frau, die in dringlichen häuslichen Arbeiten gestört wurde. Delila hatte aber auch diesmal nicht verabsäumt, ihrer häuslichen Tracht jene Korrektur zu verleihen, die geeignet ist, 24 Männer mit Entzücken für ein gewisses Derangement zu erfüllen.

Die junge Frau ließ diesmal viel weniger sehn, als ersehnen. Beinahe enttäuscht schloß sie hinter den Eingetretenen die Türe.

Anton Brenner hatte kurz und abweisend gegrüßt. Der Andere – mein Gott! wo blieb das Studentenideal? – ließ einen Blick an der Erwartenden haften und nach einem gleichfalls kurzen, fast schüchternen Gruß verfügte er sich mit seinem Verwandten durch das Wohnzimmer der Ambros in das Kabinett.

Darin angelangt, ließ vor allem Anton einen erstaunten Umblick über die neue Ordnung gleiten. Alles nett und sauber, einmal seinen Anforderungen entsprechend, wirkliche Ordnung.

Der Begleiter wiederum vergewisserte sich, daß das Fenster des kleinen Raumes eine unbegrenzte Aussicht ins Freie bot, und er richtete sich in Gedanken blitzschnell in seinem künftigen Heime ein. Die Türwand verschaffte günstigen Raum zur Anbringung eines Schreibtisches, die entgegengesetzte zum Aufhängen eines Bücherregals.

Mehr hatte Ludwig nicht erwartet und erhofft. Er betrachtete seinen künftigen Wohnraum mit dem Ausdruck des Behagens, das jedermann empfindet, der seine Erwartungen erfüllt oder übertroffen sieht.

Von früheren Studiengenossen, die schon die Universität bezogen, hatte der junge Provinziale die denkbar schlechtesten Schilderungen über Wiener Wohnungsverhältnisse erhalten. Finstere, ungemütliche Häuser – turmartiger Aufstieg – trostlos dunkle, zellenartige Zimmer – mit der Aussicht in einen trübseligen Hof – so hatte sich seiner Phantasie ein künftiger Aufenthalt in der Reichshauptstadt eingeprägt.

Wie angenehm jedoch mutete ihn sein neues Heim an. Kein Wunder. Ludwig hatte sich nicht im Quartier latin eingemietet, sondern im zehnten Bezirke, fast mitten unter Feldern. Den Ausblick aus seinem Kabinettfenster begrenzte keine Hofmauer, sondern weit über den Laaerberg hinaus konnte sein Blick die weite grüne Natur überfliegen. Und wie bei unserem Eintritt in neue Verhältnisse oft verschiedene Dinge zu einem harmonischen Ganzen verfließen, so hatte auch auf Ludwigs Empfinden die junge, hübsche Frau mit ihrem prachtvollen Blondhaar im Vereine mit dem freundlichen, sonnigen Eindruck seines nunmehrigen Wohnortes ein Gefühl freudigen Behagens erzeugt.

Anton hatte mit sichtlicher Genugtuung bemerkt, wie vorteilhaft sein Stübchen auf den Studenten wirkte. Mit Stolz wies er auf die armseligen Schätze der Einrichtung, Überbleibsel aus der ehemaligen einfachen Elternwohnung.

»Alsdann, jetzt mach m'r uns z'erst kommod. Dann werd'n m'r was essen und trinken.«

»Was das Essen anbelangt, so habe ich hier im Koffer Schinken und Bäckerei und Verschiedenes.«

»Is recht. Dann laß i was zum trinken hol'n. Willst Bier oder Wein?«

»Eigentlich bin ich weder das eine, noch das andere gewohnt. Es ist mir daher ganz gleich.«

»So soll uns die Ambros an Wein hol'n.«

Anton ging hinaus, um der Frau den Auftrag zu geben. Er fand sie schmollend und unzufrieden in der Küche.

»Weil's wahr is, dürft' i der Neam'nd sein. Es war do a G'hörtsi g'wesen, daß d' mi eahm vorstellst.«

Anton fuhr sie barsch an. »Hör mir mit dö Dummheiten auf. Und wann i d'r glei an Rat geb'n kann, den 26 Menschen laß in Ruah! Der hat andre Sach'n z'denken, als si von dir 'n Kopf verruck'n z'lassen. Jetzt geh, nimm an Kruag und tummel di. Teller, Gläser und Eßzeug trag' schon i derweil hinein.«

Die Frau gehorchte, wenn auch noch immer maulend und unwillig.

Anton suchte in der Küche Eßgeschirr und Trinkgläser zusammen und kehrte zu Ludwig zurück, der mit dem Auspacken seines Handkofferchens beschäftigt war. Ein halber Schinken, ein halber Laib Brot, einige »Wuchteln«, »Gollatschen«, dann Äpfel und Nüsse wanderten ans Tageslicht.

»Du siehst, wie Mutter um mich besorgt war,« sagte der junge Mann lächelnd.

»Da kann m'r si's schon guat g'scheg'n lassen,« gab der andere heiter zurück, »den ersten Abend in Wean muaßt a bißl einweich'n.«

Anton deckte den kleinen Tisch, ordnete die Eßwaren und die beiden begannen zu essen. Als diese Tätigkeit beendet, zündete sich Anton eine»Sport« an.

Dann erzählten sich beide von ihren Verhältnissen. Die Vettern hatten einander bisher noch nicht persönlich gekannt. Ludwig, der als armer Stipendist und Freitischler in seiner Vaterstadt das Gymnasium absolviert, mußte, um die Universität der Residenz beziehen zu können, sich der größten Sparsamkeit befleißen.

Seine Mutter, eine Wäscherin, hatte mit vieler Zähigkeit und einem großen Talente Leute für ihren Sohn zu interessieren gewußt und es erreicht, diesen einem Handwerk zu entreißen. Ihrer Schwester (Antons Mutter) entgegengesetzt, besaß sie einen energischen Charakter und die arme Witwe, die für sich und ihr Kind durch Waschen in den 27 Häusern sorgen mußte, tat an diesem mehr, als viele bessersituierte Eltern es imstande gewesen wären.

Nun es hieß, in Wien das angefangene Studium zu vollenden, stand Ludwig ganz auf sich allein angewiesen. Er hatte Empfehlungen an verschiedene Persönlichkeiten, mochten sie ihm nun durch Zuweisung von Lektionen oder Freitischplätzen nützlich werden.

Tante Anna hatte sich auch ihres Neffen in Wien erinnert und ihn gebeten, seine Wohnung mit ihrem Sohn zu teilen. Anton war ohne Besinnen auf die Bitte eingegangen. Damit war Ludwig wenigstens gegen die eine Eventualität geschützt, vielleicht gleich in den ersten Wochen, falls er keine Lektionen auftrieb, ohne Obdach zu sein. Der Sparpfennig der Mutter war sehr gering und es hieß haushalten, mit der Willenszähigkeit des armen Studenten.

Jeder dieser jungen, einfachen Leute besaß eine rührende Verehrung für die Mutter.

Der eine für die verstorbene, deren schlichte Güte und Sanftmut noch aus dem Grabe auf den Sohn fortwirkte.

Der andere für die lebende, sorgende, tatkräftige, nur für ihr Kind bedachte.

Das verband die in ihrem Äußern, in ihren Lebensbedingungen und Berufen so verschiedenen Männer.

Mittlerweile war die Ambros mit dem Weinkruge zurückgekommen und stellte ihn mit einem gewissen Zögern auf den Tisch.

Ludwig, der sich seiner Höflichkeitsverpflichtung gegen seine Hauswirtin bewußt wurde, bat sie, für sich auch ein Glas zu füllen und mit anzustoßen.

Also folgte die Frau der Einladung und nahm sogar den angebotenen Platz. Die Gläser klangen zusammen.

28 »Auf an guaten Eingang ins neuche Leb'n. Hoch! Hoch! Hoch!« rief Anton.

»Auf unsere neue Freundschaft und dein stetes Wohlergehen. Und Sie, Frau . . .« Ludwig zögerte.

»Ambros, junger Herr. Also auf recht viel Glück in der Liab.«

Anton blickte finster, Ludwig lächelte verlegen.

»Das wird für sehr lange Zeit keine meiner Sorgen sein. Sagen Sie, auf ein glückliches Studium!«

Jetzt hatte die Ambros Gelegenheit, den neuen Hausgenossen genauer ins Auge zu fassen.

Sie konstatierte, daß er schöne warmbraune Augen, einen entzückenden Schnurrbart und blendend weiße Zähne besaß. Dazu bei viel Freundlichkeit ein gewisses Selbstbewußtsein, das die sonst kleine Gestalt größer erscheinen ließ.

Sie war sich darüber im klaren, daß trotz Antons Verbot, ihre Absicht auf den jungen Mann zu richten, diese schon fest bestand.

Und bei dem Gedanken lächelte sie leise, was ihr sehr gut stand und was auch Ludwig finden mochte. In dem Augenblicke, da er sie ansah, sah auch sie auf und wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, erröteten sie heftig.

»Er ist noch ein sehr unschuldiger Mensch,« sagte sich das Weib.

»Sie scheint sehr anständig zu sein,« sagte sich Ludwig. »Hübsch ist sie jedenfalls.«

Anton war, wie aus dem kurzen, in der Küche abgemachten Dialog hervorgeht, der Geliebte seiner Quartiergeberin, wie bisher noch jedes männliche Wesen, das in der Wohnung der Ambros längeren oder kürzeren Aufenthalt genommen hatte.

Aber schon zu Lebzeiten ihres Mannes, während einer 29 kurzen, nur dreijährigen Ehe, hatte es Frau Ernestine mit der ehelichen Treue nicht sehr ernst genommen. Sie war eines jener Geschöpfe, die von Sinnlichkeit und Liebebedürftigkeit gleichmäßig beherrscht werden und die nur ein unbestimmtes Gefühl der Ehrenhaftigkeit, auch besondere Umstände davor bewahren, ihre Liebe erkaufen zu lassen.

Anton, im übrigen gegen die hübsche Witwe gleichgültig, fühlte sich nur aus einem Grunde zu ihr hingezogen, weil er sie noch aus seinen Knabenjahren kannte, und ihre Gegenwart ihn an eine Jugendgespielin erinnerte, an der er mit inniger, aber aussichtsloser Liebe hing. Seltsamerweise stieß ihn eine frappante Ähnlichkeit, die letztere mit der jungen Frau gemein hatte, mehr ab, als daß sie seine Zuneigung vergrößert hätte. Er konnte der Ambros diesen Umstand fast nicht verzeihen.

Aber er war nicht umsonst zwanzig Jahre alt und der Wohngenoß eines hübschen, heißblütigen Weibes. In kurzem war er dessen Geliebter in dem Sinne, daß die Liebe an diesem Verhältnisse gar keinen Anteil hatte, bei dem männlichen Teile wenigstens, und nur die gewöhnliche Sinnenbefriedigung auf ihre Kosten kam.

Im ganzen Hause galt jeder neue Bettgeher oder »Kammerherr« der Ambros als deren legitimer Geliebter. Man nahm das ohne Anstoß als ganz selbstverständlich hin.

Zur Zeit war das Kabinett an Anton Brenner, das Zimmer an vier Bettgeher vermietet. – Ein junges Liebespaar, das sich »zusammengezogen« hatte und die Förmlichkeit eines kirchlich gesegneten Bundes für unbestimmte Zeit hinausschob, schlief in dem einen Bette rechts von der Eingangstüre. Der männliche Teil, ein Tapezierer, hatte aus Latten und Tapetenresten eine 30 spanische Wand verfertigt, gewissermaßen das Feigenblatt der Illegitimität.

Im Falle einer Verehelichung wäre das Ganze unnötig geworden. Sicher ist, daß das Papiergerüste auf keinen Fall mehr eine Nachfolgerin erhalten wird. Das Gewohnheitsrecht ersetzt die Legitimität.

Der dritte Bettgeher war der fidele Volkssänger Huxtl. Dieser, der oft genug Tag und Nacht durchschwärmte, aber niemals vor zwei Uhr früh nach Hause kam und bis gegen Mittag oder auch länger schlief, hatte sich seinen Schlafraum gleichfalls partikuliert. Er schuf sich eine Abteilung mittels eines alten, großen Stehspiegels, wenn von einem Spiegel gesprochen werden konnte, da jedes Splitterchen Glas schon längst verschwunden war. Bilder von Damen im Trikot, Photographien von Bühnenkünstlern und diverse Anschlagzettel schmückten die dem Bette zugewendete Seite des Toilettmöbels, das einen ziemlichen Teil des keuschen Junggesellenlagers verdeckte.

Als vierter Zimmerbewohner, resp. Bewohnerin, hauste in unbestimmbaren Zeitläufen eine alte Krankenpflegerin. Ihr Bett befand sich auf der linken Langseite, dem des Volkssängers entgegengesetzt.

Die Inhaberin der Wohnung selbst schlief in der Küche.

Die friedliche Unterhaltung der drei Leute wurde plötzlich durch ein fürchterliches Geschrei und Geschimpfe, das vom Gange bis herein schallte, unterbrochen.

Die Stimme einer keifenden Frauensperson übertönte das Gemurmel einer angesammelten Menge.

»Was gibt's denn?« frug Anton. »Das is ja d'r Blaschkin ihr' Stimm'. Was hat denn dö Luftzauberin wieder?« Die Ambros eilte hinaus und kam gleich wieder mit der Botschaft zurück:

31 »Na denken S' Ihner (das Du-Wort galt nur unter vier Augen), d'r Polizeimann war da und hat d'r Blaschke amtlich mit'teilt, daß ihr Mann eing'spirrt is. Als a Bsoffener hat er 'n Wachmann um d'Erd g'haut, 'n Ringkrag'n aberg'rissen und g'schimpft. Jetzt macht die Blaschkin an Murdsbahöll und streit't mit 'n Wachmann.«

Anton lachte. »Der war anmal g'scheit, der Blaschke. Kann a paar Monat' wenigstens a Ruah hab'n.«

Das Geschrei der geifernden Megäre war ein derartiges, daß alle Leute aus den unteren Stockwerken emporgeeilt waren und nun erregt die Neuigkeit diskutierten. Auch die zwei Cousins traten in die Küche, um zu hören, wie die redegewaltige Nachbarin die Wortschlacht schlug.

»B'suffene Sau, Lackl behmische, Haderlump, wann er hamkummt, kriegt er Futz'n, Hundling elendige. Und den gibte net, daß er bleibt einspirrt, wegen ane Rausch und weil Wachmann g'scherte, patscherte sich herumrafen mit so b'suffene, dumme Kedl. I werd' ich seg'n, i hau' ihnen Sauhütten z'samm und werd' mi selber Richter machen.«

Der Wachmann hatte einige Male versucht, den Redestrom zu unterbrechen. Vergebens, er hätte ebensogut mit seinen Armen den Niagara aufzuhalten versuchen können.

So entfernte er sich achselzuckend und frug eine der am Gange herumstehenden Frauen um den Namen Fischer.

»Marrand Anna, Herr Wachmann, is der vielleicht ah . . .?«

»'s wird so was sein«, brummte der. »Nur a bißl ärger. Also wo is sein' Familie?«

»In Keller unten. Mein Gott und Herr, dös arme Weib, die armen Kinder!«

Diese Nachricht hatte sich rasch herumgesprochen. Man bekümmerte sich um die schimpfende Frau Blaschke nimmer, 32 alles drängte dem Wachmanne nach, der sich zur Behausung der Fischerfamilie begab.

In kurzer Zeit brachte die Ambros, die ebenfalls mit hinuntergeeilt war, die Nachricht zurück, daß Fischer, der Vater des kleinen Franzl, wegen schwerer körperlicher Verletzung eines Branntweinschenkers und anderer Exzesse dem Landesgerichte eingeliefert war.

Anton war erschreckt aufgefahren:

»Und was hat das arme Weib g'sagt?«

»O du lieber Himmel, sie hat nur den Wachter ang'schaut und is wia a Stückl Holz umg'fall'n, ohne an Laut. Ja, wo woll'n S' denn hin?« frug sie Anton, der Miene machte fortzueilen. »Hinunter? Is eh das ganze Zimmer voll Leut'. I werd' schon frag'n gehn, wie's mit ihr steht. Da is der Wein.«

»Is wahr, helfen kann i eahna nix. Laß m'r uns den Abend net verderb'n«. Aber ein über das anderemal murmelte er:

»Dös Elend – dös Elend!« und er trank seinen Wein mit weit geringerem Behagen als einige Augenblicke zuvor. Nichtsdestoweniger kam nach kurzer Zeit die Unterhaltung der drei wieder instand. Ludwig bat die Ambros, die Unterbrechung als nicht geschehen zu betrachten und wie es schon kommt, daß bei gewissen, außergewöhnlichen Gelegenheiten selbst die Mäßigsten etwas des Guten zu viel tun, so ließ auch Anton eine nochmalige Auflage des, beiläufig erwähnt, nicht besonders feurigen Rebenblutes holen.

Der junge Arbeiter sah mit einem Blicke, der Wehmut und Heiterkeit zugleich ausdrückte, in dem kleinen Raume umher.

»Das erinnert mi heut an frühere Zeiten,« meinte 33 er. »Nur zwa fehl'n die ane kummt nimmer z'ruck und die andre . . . .« Er schloß mit einem leisen Seufzer. Und als wäre über diesen Punkt schon zu viel gesprochen gewesen, hüllte er sich in den Dampf seiner Zigarette und begann über die Ambros zu brummen, daß das »Weibsbild a Ewigkeit net mit den Wein kummt.«

Endlich hörte man von der Küche her ihre Stimme und die lallende eines Mannes.

»Mein Gott und Herr,« sagte die Ambros, »mit so an Rausch und dem Aufzug! Ja sag'n S' mir nur, schamen S' Ihner denn gar net? Zwa Nächt' drahn S' scho um, das is ja a Schand und Spott.«

»Tinerl, stad sein – net schimpfen!« lallte die männliche Stimme, »jetzt leg' i mi – nieder und schlaf' – mi – mi aus. Heut – wird nix am Brettl – g'standen, der Huxtl mag net.«

»Schauert liab aus, Sie und heunt am Brettl! Recht war's schon, daß Ihner alle Leut' secherten, was S' für a Lump als san.«

»Tinerl – net – net schimpfen!« hörte man den Unglücklichen flehen. »A Gaudee war das, – ah! höcher geht's – nimmer. Denk – nur, in Tschickerl – ham s' richti arretiert – in Sim – Simmering, weil er – mit an Poli keck war – und an offnen Anspanner – an Spanner für a – Pissoir ang'schaut hat – haha!«

»San S' stad, Sie ordinärer Mensch,« sagte die Ambros etwas gedämpft, »und leg'n S' Ihner anmal nieder. Hätten S' nur heut erlebt, was mit dem Saufen und Umdrahn berauskummt. Aber das war ja b'sunders heut zu an Stückl Holz g'redt.«

»An Durst hätt' i, Tinerl . . .«, sagte die Stimme wieder, die, wie man ersieht, Herrn Huxtl angehörte.

34 »Draust is d' Bassena, wird Ihner guat tuan.« Man hörte nimmer, was Huxtl zu diesem demütigenden Vorschlage äußerte, denn die Ambros kam jetzt zur Tür herein und stellte den Wein auf den Tisch. Ihr Gesicht war vor Entrüstung und Verlegenheit gerötet, was ihre Reize nur erhöhte.

Ludwig blickte sie und Anton fragend an.

»Der Huxtl, a Volkssänger,« erläuterte Anton, »a fescher Kerl, aber a Drahrer wia's höcher nimmer geht. Zu d'r ganzen Welt segt er ›Du‹. Er schlaft im Zimmer draußt.«

»I hatt' eahm schon kündigt,« schob die Ambros ein, »wann er net zu andrer Zeit so a liaber Kerl war. A so tuat er ah nix, wann ma si mit eahm net einlaßt, legt er si ruhig nieder und schlaft bis murg'n nachmittag.«

Jetzt drang von draußen das Geräusch auf den Boden fallenden Schuhwerks herein, dann vernahm man einige Takte eines Liedes, jedenfalls als letzte Ausläufer der famosen Stimmung, die Herrn Huxtl seit mehr als achtundvierzig Stunden beherrscht hatte, und ein Gemurmel, das deutlich auf Tschickerl endigte. Die kleine Gesellschaft unterhielt sich noch ein wenig, bis der Wein getrunken war; und als die Ambros ihren neuen Mieter verließ, war sie überzeugt, noch keinen reizenderen Mann jemals kennen gelernt zu haben. 35

 


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