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Dreizehn-Kari und Vierzehn-Kari.

Wer aus der undurchdringlichen Finsternis des Herbstabends in die kleine Hütte dort oben dicht unterhalb des dicken Tannenwalds eintrat – falls er sich überhaupt in dieser Finsternis bis dort hinfand – der konnte sofort sehen, daß er nicht gerade in ein Schloß kam; es waren nicht viele Ellen von Wand zu Wand; ein großer gemauerter Herd nahm die eine Ecke in Anspruch, die andre ein breites Bett, und wenn noch die Tischplatte niedergeschlagen war, die übrigens jetzt gerade aufgeschlagen an der Wand lehnte, so blieb nicht viel Platz zum Tanzen übrig. Sollte der Besucher trotzdem darauf verfallen, es für ein Schloß zu halten, so mußte es wenigstens ein verhextes sein; und darauf hätte er immerhin verfallen können, denn das erste, worauf sein Auge beim Scheine einer winzig kleinen Hängelampe fiel, war etwas, was er wirklich für die Hexe selber ansehen konnte; über einen alten Spinnrocken, der so still lief, daß man auch nicht den geringsten Laut hören konnte, saß nämlich ein altes grauhaariges Weib krumm gebückt und tunkte und tunkte mit ihrer langen Nase, während sie eifrig Werg spann, daß es um sie nur so herumstob; und auf einem Schemel daneben saß etwas, das er zur Not für die Prinzessin nehmen konnte, ein kleines, lichtes, blondhaariges Mädchen, das einen Strickknäuel in der Hand hielt.

Was er aber sah, war weder eine Hexe noch eine Prinzessin; es war Alt-Kari, die das ganze Dorf Dreizehn-Kari nannte, und ihr Enkelkind, die ebenfalls Kari hieß. Und freilich waren sie allein; denn bis hinauf zur Karihütte kam ganz sicherlich niemand, und am wenigsten an einem Abend wie diesem, niemand hatte hier etwas zu tun.

Es war angenehm warm in der Stube. Die Klappe in der Herdesse war geschlossen, auf dem kleinen Kochofen stand ein vom Rauch geschwärzter Kaffeekessel, aus dem frischer Kaffeeduft aufstieg, und das Spinnrad lief so still, daß man das leise Herbstrauschen draußen im Tannenwald hören konnte.

Keine der beiden sagte etwas; die lange Nase tunkte nur immer schneller im Takt mit dem Rade, und Klein-Kari, die etwa neun Jahre zählen mochte, sah sie mit ihren blauen Augen an, bis sie eine Masche nach der andern fallen ließ, sie saß so aufmerksam da, als wartete sie auf etwas; und ganz richtig, da riß der Alt-Kari der Faden, Werg reißt immer so leicht. Sie hielt das Rad mit einem Rucke an, sah jedoch nicht auf, sondern tunkte nun mit der Nase bis ganz auf den Spinnrocken hinunter und begann nach dem Ende des Fadens auf der Spindel zu suchen.

Da kam es aus Klein-Karis Munde:

Weshalb willst du mich denn nicht länger bei dir behalten, Großmutter?

Die Alte beugte sich noch tiefer herab:

Weil ich ohnehin genug damit zu tun habe, mich selber zu ernähren und zu kleiden. Du sollst dir gar nichts daraus machen, hier zu bleiben; es ist viel besser für dich, wenn du anderswohin kommst.

Aber ich möchte doch am liebsten bei dir bleiben, bis an dein Lebensende.

Bis an mein Lebensende. Ach, wenn ich im Frühjahr nicht der Lungenentzündung erlegen bin, kann das noch lange dauern, allzulange, wäre wenigstens deine Mutter nicht so darauf versessen gewesen, dich Kari zu nennen, dann –

Aber so heiße ich ja nach dir!

Ja, das ist auch was feines, nach mir zu heißen!

Sie hatte endlich das Ende zu fassen gekriegt und begann von neuem zu tunken zum Zeichen dafür, daß die Unterhaltung nun ein Ende haben sollte. Aber die krummen Finger griffen so sonderbar zitterig in die Wergflocken, und es währte auch nicht lange, so riß der Faden von neuem. Klein-Kari hatte überhaupt nicht wieder angefangen zu stricken, sondern still dagesessen und mit nachdenklichem Ausdruck vor sich hingesehen. Als sie das Rad Halt machen hörte, fragte sie:

Großmutter, was heißt denn das, Dreizehn-Kari?

Die Alte ließ den Spinnrocken fahren, als hätte sie sich gebrannt.

Wo hast du das gehört?

Neulich hat mirs jemand nachgerufen, wie ich das letztemal in der Schule war.

Da begann es in den Mundwinkeln der Alten langsam zu zittern, und ein paar Tränen kamen in die runzligen Augenwinkel.

Klein-Kari fühlte sich ganz beklommen. Sie hatte noch nie zuvor die Großmutter weinen sehen, sie, die so hart und bestimmt war; sie sagte ganz ängstlich:

Was heißt es denn, Großmutter?

Alt-Kari schob den Spinnrocken weg, stand auf und bürstete sich den Schoß ab. Darauf setzte sie den Spinnrocken in die Ecke, wo das Holz lag, nahm den Stuhl und setzte sich an den kleinen Ofen. Klein-Kari war die ganze Zeit mit verwunderten Augen allen ihren Bewegungen gefolgt.

Komm hierher mit deinem Schemel und setz dich, dann will ich versuchen, dir zu erzählen, warum ich dich nicht länger behalten will.

Klein-Kari wurde immer erstaunter, sie vermochte kein Wort hervorzubringen, nahm aber ganz still neben der Großmutter Platz und sah sie mit großen Augen an. Diese begann:

Es ist, weil ich nicht möchte, daß du mich beerbst. Ich habe nichts als meinen Namen, und den möchte ich dir gern ersparen. Ich bin ehrlich und redlich Kari getauft, aber ich habe nie anders geheißen als Dreizehn-Kari seit – ja, seit ich so groß war wie du jetzt. Du fragtest, was Dreizehn-Kari bedeute. Das ist ein Unhold oder eine Hexe, von der sie glauben, sie könne keinen Umgang mit Christenmenschen haben, sondern dürfe nur einmal im Jahre sich zeigen und durch das Dorf auf Weihnachtsbesuch fahren, und zwar am Dreizehn-Abend. Anm. d. Übersetzers: In Norwegen wird Epiphanias (6. Jan.) auf dem Lande allgemein »Dreizehn-Abend« genannt. Der Name ist mir nachgerufen worden in der Schule, als ich noch klein war, beim Tanz und bei andrer Lustbarkeit, als ich heranwuchs; und auch jetzt noch – ja, jetzt kann er wohl auch passen; man wird leicht das, wofür einen andre halten, und wie sie einen nennen, wenn man so eine ist, wie ich. Und nun haben sie also angefangen, ihn auch dir nachzurufen. Ich glaubte, ich würde im letzten Frühjahr sterben, dann hätten sie mich wohl vergessen und ebenso, daß du mir zugehört; und kommst du nun weg, am besten weit weg, dann werden sie es vielleicht auch jetzt noch vergessen können.

Wieder standen ihr Tränen in den Augen.

Klein-Kari verstand nicht alles, nur, daß sie schlecht gegen die Großmutter gewesen waren; und darum fragte sie:

Aber wie bekamst du denn den Namen?

Die Großmutter wischte sich die Tränen mit dem Handrücken weg.

Hm. Ich kann dirs ja erzählen, das auch, hast du jemals die Altbäuerin auf Hoël gesehen, die Berit? Nun es ist ja wahr, du erzähltest, sie hätte dich einmal angesprochen. Die ists, die ihn mir gegeben hat. Wir waren ungefähr gleichaltrig, und ich war als Armenkind auf Opsal, wo sie her ist. Wir spielten täglich zusammen und hatten einen Kuhstall und Schafe und Kühe und dergleichen mehr, und es gehörte uns gewissermaßen alles zusammen. Da hatte sie eines Tages viele kleine Mädchen, so groß, wie wir selber waren, zu Besuch. Ich durfte nicht mit hineinkommen, da ich ja bloß ein Bettelkind war; als sie aber zu unserm Spielzeug hingingen, da kam ich herbei: ich dachte wohl, es gehöre doch gewissermaßen mir auch. Da fragte eine: Was ist denn das für eine? Berit ist immer stolz gewesen, und da mochte sie sich wohl meiner schämen, weil ich in zerlumpten Kleidern herumging; denn sie sagte: Das ist die Dreizehn-Kari, wißt ihr, die am Dreizehn-Abend auf Weihnachtsbesuch fährt. Was willst du hier? Mach, daß du fort kommst, du garstiges Ding! Ich blieb wie festgenagelt stehen. Darauf sagte sie: Wir wollen sie beschwören! und nun begannen sie alle im Chor zu rufen: Dreizehn-Kari, Dreizehn-Kari, wo ich dich seh'! Dreizehn-Kari, Dreizehn-Kari, wo ich dich seh'! Ich lief davon und hörte sie die ganze Zeit hinter mir herrufen; manchmal ist mir, ich höre sie noch immer. Seitdem spielte ich nie wieder mit ihr trotz aller Schelte, die ich deshalb bekam; und seitdem ich von dort weggekommen bin, habe ich auch nie wieder mit ihr gesprochen, obwohl wir uns oft getroffen haben, und ich habe auch niemals meinen Fuß auf den Hoëlshof gesetzt, obwohl sie einmal nach mir geschickt hat, als wir beide alt geworden waren. Das war gleich nachdem sie ihren Enkel verloren hatte.

Sie schwieg ein Weilchen, und Klein-Kari saß da und sah sie mit offnem Munde an. Darauf äußerte sie in einem ganz andern Ton, indem sie aufstand:

Hm, hat man je so etwas gesehen, ich sitze hier und schwätze, als wärst du erwachsen; ich wills aber nicht haben, daß sie dirs nachrufen, deshalb sollst du fort.

Klein-Kari stand gleichfalls auf.

Ich will aber nicht von dir fort, Großmutter; sie können mich meinethalben Dreizehn-Kari nennen, so viel sie Lust haben!

Darüber ist nicht mehr zu reden. Morgen gehe ich weit weg ans andre Ende des Sprengels und gebe dich dort in Pflege.

* * *

Klein-Kari lag die Nacht lange wach, es geschah gewiß zum ersten Mal, daß sie nachdachte. Alle ihre Gedanken aber sammelten sich um ein Bild, ein schönes altes Gesicht mit einem bestimmten, zusammengekniffenen Mund und einem Paar starken, aber freundlichen blauen Augen, und als sie endlich einschlummerte, folgte das Gesicht ihr auch in ihren Traum: ihr war, als wären Berit Hoël und die Alte zusammen unterwegs und führen »auf Weihnachtsbesuch«.

Aus Dreizehn-Karis Absicht, am nächsten Tage ans andre Ende des Sprengels zu gehen, wurde nichts. Denn am Morgen hatte sie solches Stechen im linken Schulterblatt, daß sie nicht aufstehen konnte. Sie kannte das vom letzten Frühjahr her. Klein-Kari mußte zum Nachbarhaus, Hoëlsrönningen, hinüberlaufen und die Oline zur Hilfe holen. Als aber Oline sie fragte, ob sie nicht mit heimgehen wolle, antwortete Klein-Kari, sie müsse erst unten im Dorfe eine kleine Besorgung für die Großmutter ausführen.

Sie trippelte rasch hinunter, ihre kleinen Händchen vor Eifer fest zusammengeballt; denn nun wußte sie, daß sie etwas wollte und was sie wollte. Berit Hoël, die die Macht besessen hatte, der Großmutter diesen Namen anzuhängen, mußte ihn ihr auch wieder wegnehmen können – oder wenigstens ihn auf Klein-Kari übertragen. Denn sie wollte sich nicht das geringste darum scheren, wenn sie ihn ihr nachriefen, nur die Großmutter sollte es nicht länger so schlecht haben, sie hatte die Großmutter gestern abend gewissermaßen ganz anders lieb gewonnen als bisher.

Eine Weile später stand sie in der großen Küche von Hoël und fragte, ob sie mit Berit reden könne. Sie wurde zu ihr in die Kammer hineingewiesen. Berit saß in einem Lehnstuhl am warmen Kachelofen, ein Garnknäuel in der Hand und einen kleinen Tisch neben sich, auf dem ein Buch und eine Brille lagen.

Als die Tür aufging, sah sie auf, wie sie zu tun pflegte, und wurde ein kleines hellblondes Mädel in einem weiten Rock gewahr, das sich tief bis auf den Fußboden verneigte. Sie wartete ein wenig, darauf sagte sie verwundert:

Was ist das für ein hübsches kleines Mädel, das so früh am Morgen zu mir auf Besuch kommt?

Ich heiße Kari und bin aus der Karihütte.

Ists möglich, ist das Klein-Kari, die Enkelin der –, sie hielt plötzlich inne. Nach einer Weile sagte sie noch freundlicher:

Komm her, laß dich anschauen.

Kari trat näher.

Ja, du ähnelst wirklich deiner Großmutter, als sie noch klein war. Wie geht es ihr denn jetzt?

Sie ist heute krank.

Eine schwache Röte ergoß sich über Berits Gesicht, und sie sagte leiser:

Du hast vielleicht von ihr einen Auftrag an mich?

Kari war so eifrig, daß sie die kleinen Händchen fest zusammenballte und ihre Mundwinkel bebten, als sie sagte:

Nein, nicht von ihr, es ist von mir selber.

Ja so –

Ob du nämlich nicht die große Güte haben könntest und der Großmutter den Namen abnehmen –

Ihre Augen waren bittend auf Berits Gesicht gerichtet, und sie sah, daß ihre Augenbrauen sich auf einmal zusammenzogen und einen strengen Ausdruck bekamen; ihr wurde ganz angst, und in ihrer Verlegenheit fügte sie, während ihr die Tränen in die Augen traten, rasch hinzu:

Wenn du willst, kannst du mich dafür Vierzehn-Kari nennen!

Es blieb eine lange Weile still. Klein-Karis Augen hingen flehentlich bittend am Gesicht der Alten. Langsam taute es auf, als dächte sie an etwas Schönes, und dann auf einmal sah sie freundlich in Klein-Karis blaue Augen, legte ihr die Hand auf den Kopf und sagte bestimmt:

Jetzt werde ich dich zu deiner Großmutter nach Hause bringen.

Als sie zur Karihütte hinauf kamen, durfte Klein-Kari nicht mit hinein; Berit wollte allein gehen.

Was sie und die Dreizehn-Kari da zusammen geredet, weiß keiner; aber sicher ist, daß keine Rede mehr davon war, daß Klein-Kari fort sollte, und daraus konnte auch schon deshalb nichts werden, weil die Dreizehn-Kari immer elender wurde; und drei Wochen darauf wurde ihr Sarg hinausgetragen. Und diesmal fuhr die Dreizehn-Kari »auf Weihnachtsbesuch« in die Kirche und unter Psalmengesang, und gleich hinter dem Sarge fuhren Berit Hoël und Klein-Kari im zweisitzigen Wagen. Und als sie heimwärts fuhren, kam Klein-Kari mit nach Hoël und zog in Berits Kammer, und nun wurde sie nie anders als Vierzehn-Kari genannt; alle aber wußten, daß das ein Schmeichelname war.

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