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Wie Ola sein Abendgebet verkaufte.

Ola hatte die ganze Nacht unruhig geschlafen und war nun an diesem Herbstmorgen zeitig erwacht; er guckte vorsichtig unter der Pelzdecke hervor, hinaus in die geräumige Häuslerstube.

Aber die Sonne war bereits aufgestanden und zeichnete das Fenster als ein schräges Viereck mitten auf dem Fußboden ab, und beim Herd war die Mutter damit beschäftigt, das Feuer zu schüren und den Kaffee zu kochen – der Vater war sicherlich bereits auf Arbeit gegangen – ja, da war es vielleicht doch schon so spät, daß Berit, seine Schwester, ihn trotzalledem überlistet hatte!

Er lag in einer kleinen Bettstelle am Fußende des großen Bettes, und als die Mutter ihm gerade den Rücken zukehrte, hob er vorsichtig den Kopf und guckte über die Bettkante hinüber.

Nein, Berit lag noch, aber es war ihm wirklich, als ob sie im selben Augenblick die Augen zusammengekniffen und bloß so getan hätte, als ob sie schliefe.

O nein, das sollte ihr denn doch nicht gelingen, ihn zum Narren zu haben, er wollte schon aufpassen! Er hatte freilich gesehen, daß sie gestern heimlich einen Korb aus der Stube herausgebracht und hinter dem großen Steinhaufen versteckt hatte. Und Kari Rönningen, ihre Spielkameradin, war auch mit dort gewesen, war öfter gegangen und hatte sich aus dem Staube gemacht, damit er sie nicht sehen sollte. Sie führten etwas im Schilde, das war sicher, und wenn sie jetzt mit Körben herumwirtschafteten, so konnte es sich um gar nichts andres handeln, als darum, daß sie in die Preiselbeeren gehen wollten; denn die waren jetzt gerade reif. Und er wußte sehr wohl, daß sie ihn nicht mit dabei haben wollten. Sie gaben vor, er wäre noch zu klein, weil er bloß sechs Jahre war, und sie waren zehn. Als ob ein Junge mit sechs nicht ebenso gut wäre wie ein Mädel mit zehn! Er hatte übrigens schon vor drei Tagen mit der Mutter darüber verhandelt, und sie hatte ihm halb und halb versprochen, daß er mitgehen dürfe, wenn er die nächsten Tage nur recht artig sein wolle. Und das hatte er auch wirklich versucht, – er hatte es zwar vielleicht hin und wieder vergessen, aber er war doch immerhin viel artiger gewesen als sonst. Und gegen die Berit auch; in ihrer Puppenstube, dort beim Steinhaufen, war er nicht öfter, als ein einziges Mal gewesen und hatte nur ein bischen herumgestöbert; und daß er dabei das Pech gehabt hatte, ein Brettchen mit einer Masse Krimskrams drauf umzureißen, war eigentlich gar nicht seine Schuld – das dumme Brett war so ungeschickt angemacht gewesen. Also hatten sie ihm auch nichts vorzuwerfen. Aber gerade deshalb dachten sie wohl auch daran, sich heimlich fortzustehlen, bevor er aufgewacht war; aber daraus sollte nun nichts werden, er wollte schon achtgeben, daß er nicht wieder einschlief, wollte ganz mäuschenstill liegen und abwarten, was sie unternahmen – und Ola steckte den Kopf wieder unter die Pelzdecke bis ganz über die Nase, so daß bloß die Augen gerade noch aus der Bettdecke hervorguckten, und so blieb er ruhig liegen.

Es dauerte eine Weile. Dann hörte er, daß sich oben in dem großen Bette etwas vorsichtig regte, und daß es unten am Fußende kratzte.

Ja, nun war an Berit die Reihe, nachzusehen, ob er noch schliefe – da steckte sie den Kopf über die Bettkante – er hatte gerade noch Zeit, das eine Auge, mit dem er zu ihr hingeblinzelt hatte, zuzumachen. Sie sah eine lange Weile nach ihm hin und atmete ganz vorsichtig. Darauf zog sie sich ebenso leise wieder zurück, und er hörte, wie sie ihren Unterrock nahm und ihn über den Kopf stülpte, und gleich daraus hüpfte sie mit den nackten Beinen auf den Fußboden; und als sie sich auf den Schemel setzte und ihre Strümpfe anzuziehen begann, kam sie soweit zum Vorschein, daß er sie gerade sehen konnte, und da sah er, wie sie der Mutter Zeichen machte und pst! sagte und auf das Bett zeigte, in dem er lag.

Sie kleidete sich schnell an, schlich zur Tür hin und sah von dort aus nach seinem Bett zurück, und dann ging sie hinaus.

Kaum war aber die Tür ins Schloß gefallen, da packte Ola seine Hosen und sprang mit einem Satze hinein.

Die Mutter sah sich verwundert um:

Bist du denn schon wach, Ola?

Ja, mir scheint, es ist die höchste Zeit!

Was hast du denn so Eiliges vor?

Ich hab dran gedacht, in die Preiselbeeren zu gehen.

Dahin kannst du aber doch nicht allein gehen, weißt du.

Ola sah sie listig an:

Oh, wenn ich ein bischen warte, dann kriege ich vielleicht Begleitung.

Die Mutter wurde ein wenig verlegen, – er hatte es also gemerkt. Ola und Berit hatten sie, eines wie das andre, die ganze Zeit so sehr geplagt, daß sie jedem fast zuviel versprochen hatte; ja, nun half nichts, sie mußte sehen, wie sie zwischen ihnen vermittelte.

Er zog sich rasch an und war gerade in die Schuhe gekommen, als die Tür wieder aufging, und Berit und Kari, jede mit einem Korb in der Hand, vorsichtig hereinschlüpften, sie wollten wohl erst noch frühstücken und etwas Wegzehrung in ihre Körbe haben, da sie ja den ganzen Tag fortbleiben sollten.

Sie schraken förmlich zusammen, als sie Ola fix und fertig angekleidet stehen sahen, versteckten schnell ihre Körbe auf dem Rücken und blieben ziemlich verlegen an der Tür stehen.

Eine Weile war es ganz still; Ola stand da, als hätte er nichts gemerkt; die Mutter bastelte am Herde herum und trug das Frühstück auf, und Berit und Kari nahmen die Gelegenheit wahr, sich etwas zuzuflüstern, und dann gelang es ihnen, die Tür hinter sich leise ein wenig zu öffnen und ihre Körbe draußen vor der Tür verschwinden zu lassen.

Dann sagte die Mutter:

Kommt nun und frühstückt etwas, ihr drei!

Die Mädel kamen still an den Tisch heran, immer nach der Tür hinschielend. Ola aber zögerte etwas:

Ich will erst draußen nach dem Wetter sehen.

AIs er aber nach der Tür ging, da sprang Berit auf und stellte sich in den Weg:

Nein, du darfst nicht auf den Gang hinaus!

Meinetwegen auch nicht. Ich wollte bloß sehen, wie groß mein Korb sein muß; denn ich muß den größten haben!

Die Mädels sahen sich an. Er wußte es also! Berit beeilte sich zu sagen:

Wir wollen ja gar nicht in die Preiselbeeren.

Nein, wir denken nicht daran, fügte Kari hinzu.

Und wir wollen dich nicht mithaben, denn du bist uns immer im Wege.

Nein, das wollen wir nicht.

Fragt die Mutter, meinte Ola, sie hat's gesagt.

Nein, sie hat gesagt, wir brauchten dich nicht mitzunehmen.

Eßt nur erst, sagte die Mutter, dann können wir weiter reden.

Ich will aber mit, sagte Ola, und dann setzte er sich, zog wie ein Erwachsener sein Taschenmesser hervor und begann zu essen.

Sie aßen eine Weile in aller Stille, die Mutter schenkte den Kaffee ein, und sie warteten alle darauf, daß sie das entscheidende Wort sagen sollte – keine der beiden Parteien war ganz sicher, was daraus werden würde. Als sie aber nichts sagte, begannen sie nach und nach sich die Sache zu überlegen: es war doch vielleicht besser, zu verhandeln, einen Vergleich einzugehen, dann verlor man doch nicht alles.

Ola hielt sein Taschenmesser so, daß es ihnen in die Augen fallen mußte, und er sah auch, wie Berit nach ihm hinschielte. Sie hatte es schon oft borgen wollen, aber da war er eigensinnig gewesen; jetzt aber könnte er es – vielleicht – für einen halben Tag oder so – vielleicht doch entbehren – –

Er war gerade so weit in seinem Gedankengang gekommen, als Berit von einer ganz andern Richtung ihren Angriff begann:

Der Ola kann sein Abendgebet immer noch nicht, und da will er mit in die Preiselbeeren!

Ola hatte nämlich Berit mit dem Abendgebet geärgert.

Früher hatte sie es immer allein gesprochen, laut, jeden Abend – es war das »Vater unser« und »Lieber Gott beuge« und noch eins, das sie mit der Mutter selbst zusammengesetzt hatte und in dem sie nicht nur sich selbst, den Vater und Ola, sondern auch die Kuh Brandsi und das Schwein mit bedachte; nun im Sommer hatte aber die Mutter gesagt, jetzt müsse Berit die Gebete auch dem Ola beibringen, und dann sollten sie sie abwechselnd einen Abend um den andern laut aufsagen. Sie hatte das auch die ganze Zeit getan; Ola war aber so entsetzlich faul, daß er immer aus dem Texte kam und gleich ganze Zeilen übersprang, und da mußte sie wie ein Heftelmacher aufpassen und ihm einhelfen und oft das ganze Gebet zu Ende sprechen. Und dabei war sie felsenfest davon überzeugt, daß er es gekonnt hätte, wenn er nur wollte! Jetzt sollte er wenigstens hierin klein beigeben müssen! Und Ola ging auch gleich in die Falle und sagte:

Ach du, natürlich kann ich's!

Gestern konntest du es jedenfalls nicht!

Vielleicht wollte ich bloß nicht! Wenn ich aber heute mit in die Preiselbeeren gehen darf, will ich die ganze Woche für dich beten.

Wüßte ich nur, ob du auch dein Versprechen wirklich hältst, was gibst du mir, wenn du's doch nicht hältst? – sie schielte zu seinem Taschenmesser hinüber.

Ola bemerkte es wohl.

Halte ich's nicht, dann darfst du das Messer eine ganze Woche behalten.

Ja, dann darfst du mit. Wenn du aber heute nicht den ganzen Tag folgst, dann will ich's auch noch eine Woche länger behalten.

Ja, – Ola ging freudestrahlend auf alles ein, und sie nahmen die Mutter zum Zeugen.

* * *

Es war ein herrlicher klarer und kühler Herbstmorgen, als die drei mit ihren Körben, die mit allerlei Eßwaren gefüllt waren, den Waldpfad hinaufzogen – Ola hatte keinen Korb, sondern einen kleinen Blecheimer. Die Luft war so klar, daß sie weit ins Tal hinaussehen konnten, in dem die Laubbäume bereits in der ganzen Farbenpracht des Herbstes leuchteten, und weit weg über die Berghänge hin, wo der Tannenwald so dunkelgrün dastand wie das ganze Jahr hindurch.

Die Sonne stand schon hoch und wärmte so tüchtig, daß Ola bald seine Jacke ausziehen mußte, aber die Luft war so leicht, daß sie nicht müde wurden; und bald waren sie in steileres Gelände gekommen, gleich unterhalb der Berghalde, wo der Wald abgeholzt war und –

Ach –! Wie dort weithin all die kleinen Erdhügel von den herrlichsten roten Beeren leuchteten! Sie warfen sich auf die Kniee nieder – sprangen wieder auf und vor einander her; denn ihren Augen war, als wären da, da doch noch reichere Büsche, und ihre kleinen Hände liefen emsig bald in die Körbe, bald zum Munde. Sie vergaßen alles andre – nur waren die Mädchen ärgerlich über den Ola, weil der ihnen immer nachlief und sich ihnen gerade vor der Nase auf den Boden warf und in den Beerenbüschen auf seinen Knieen herumrutschte, bis die Beeren zu reinem Preiselbeermus wurden.

Der Tag war bereits weit vorgeschritten, und da die Mädchen ihre Korbe halbvoll hatten, beschlossen sie auszuruhen und zu essen, und dann wollten sie zu dem Fleck da drüben auf der andern Seite des Baches gehen. Da erst bemerkte Ola, daß er fast ganz vergessen hatte, in den Eimer zu pflücken, und bloß in den Magen gepflückt hatte. Er wurde etwas ärgerlich und setzte den Eimer beiseite, saß nieder und aß mit. Aber die hatten es freilich auch gesehen; denn während sie im besten Essen waren, sagte Berit:

Ola-Mann,
Nur essen kann.

Er wurde so wütend, daß er die geballte Faust hob, aber im selben Augenblick sah er, wie sie nach seinem Taschenmesser hinschielte, das er in der Hand hielt.

Oh, er wollte sich schon in acht nehmen, sie sollte ihn doch nicht in Wut bringen!

Sie wollten wieder aufbrechen. Ola eilte voraus. Er wollte sehen, daß er zuerst über den Bach hinüberkäme und seinen Eimer in aller Eile vollkriegte; jetzt wollte er sich die besten Sträucher sichern!

Er nahm einen Anlauf und wollte über den Bach hinüberspringen, aber er sprang zu kurz, und da lag er drin, daß das Wasser nur so um ihn herumspritzte, und sein Blecheimer fiel ebenfalls hinein – nun verlor er auch noch die wenigen Beeren, die er hatte.

Er kam rasch wieder auf die Beine und kriegte auch den Eimer wieder. Aber da waren die Mädchen bereits über den Bach hinübergekommen, hatten ihre Körbe vor sich hingestellt und lachten drin zwischen den Preiselbeerbüschen, und Berit sagte:

Ola, ach,
Fiel in den Bach!
Ola-Mann,
Nur essen kann!

Da wurde er so wütend, daß er alles vergaß, hinsprang und mit dem Fuße ihren Korb umstieß.

Die Mädchen sagten kein Wort. Sie standen bloß eine Weile da und sahen ihn an; dann knieten sie nieder und fingen an, die Beeren wieder aufzusammeln, die herausgefallen waren.

Auf einmal überkam ihn etwas wie Scham. Er stand lange da, dann kniete er ebenfalls nieder und fing an ihnen zu helfen. Sie sahen, daß ihm die Tränen in den Augen standen, und deshalb sagten sie auch kein Wort zu ihm.

Nun war aller Spaß vorbei, fand Ola. Keins redete die ganze Zeit ein Wort mit ihm, und er hielt sich deshalb auch etwas abseits. Er pflückte aus allen Leibeskräften, – er hätte gar zu gern der Berit geholfen, aber es ging doch nicht an, sich anzubieten, ehe sein eigner Eimer voll war. Als der aber endlich gefüllt war, da war auch ihr Korb voll.

Die Sonne war im Begriff unterzugehen und warf die letzten langen Schatten, als sie endlich den Heimweg antraten. Die Mädchen gingen voran, und Ola trottete hinterdrein. Sie gingen so schnell, fand er, und er wurde so merkwürdig schlaff in den Knieen – seine Kleider waren ja aber auch ganz naß und so schwer geworden, und es gluckste in den Schuhen. Sie gingen so schrecklich lange – er hatte gar nicht gemerkt, daß es so weit war, als sie herkamen. Je länger sie gingen, desto schlaffer wurden ihm die Kniee und auch die Arme, – schließlich konnte er einfach nicht mehr weiter, sank bei einem großen Stein nieder und weinte still vor sich hin. Da sahen sie sich um.

Als sie ihn weinen sahen, war es, als ob alle Bosheit mit einem Mal von ihnen wiche, sie dachten plötzlich daran, daß er klein war, und kamen schnell zu ihm zurück.

Weine doch nicht, Kleiner, wir wollten nicht schlimm gegen dich sein.

Er sagte bloß:

Ich bin so müde, und weinte weiter.

Dann wollen wir ein bischen ausruhen – willst du nicht etwas zu essen haben?

Ja, das wollte Ola.

Als er etwas gegessen hatte, wurde er wieder munterer.

Wollen wir nun versuchen, wieder ein bischen zu gehen, sagte Kari, ich will dir den Eimer tragen.

Ja, Ola wollte es versuchen. Da strich ihm Berit mit der Hand über den Kopf und flüsterte:

Ich werde der Mutter nichts sagen, und du darfst auch ein andermal wieder mitgehen.

Als sie am Abend zu Bett gegangen waren, sollte Ola sein Versprechen einlösen. Er war so müde, daß es ihm unmöglich schien, die Augen offen zu halten, aber er mußte dran.

Er kam auch ganz schön durch das zu Hause gemachte Gebet und das »Vater unser« hindurch und begann mit dem letzten: »Lieber Gott, beuge mein junges Herz zur – zur – wahren Gottes – furcht – und – und – Amen!«

Berit hatte in ihrem Bett genau aufgepaßt:

»Erkenntnis –«, sagte sie – du hast »Erkenntnis« vergessen, Ola! O – – la!

– Hm?

Du sollst »Erkenntnis« sagen, Ola!

– »nis« – sagte Ola, aber da schlief er auch schon.

Berit hielt es doch für das Sicherste, das ganze Gebet selbst noch einmal herzusagen; aber zur Strafe mußte Ola auch sein Messer eine ganze Woche lang entbehren, weil er vergessen hatte, »Erkenntnis« zu sagen.

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