Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

L

Erich empfing öfters von Pausecker Briefe. Dieser hatte ohne Mühe Prinz Amadeus und seinen Sohn zum endgültigen Verzicht auf den Thron veranlaßt, und nun handelte es sich darum, die Wahl des ersten Präsidenten der Republik Harringen vorzunehmen. Erich wußte, daß die bürgerlichen Parteien sich auf ihn geeinigt hatten, und daß demnächst eine offizielle Anfrage zu erwarten war. Es stand für ihn fest, daß er ablehnen würde. Bei Tisch sagte er einmal ironisch zu Ferdinand und Melusine:

»Nun kann ich, wenn ich will, vielleicht sogar noch Staatsoberhaupt werden und mit Kaisern und Königen rangieren, was für eine Karriere! Wenn ich das als junger Mann in Paris geahnt hätte! Nur schade, daß es mich heute nicht im geringsten freut, sondern geradezu anwidert.«

Nun rief Melusine mit einem eigentümlichen Eifer aus:

»Wie, etwas Derartiges willst du ablehnen, das wäre geradezu eine Sünde, so etwas ist Schicksal, das muß man annehmen.

Du bist doch unersetzlich!«

Erich warf ihr einen schmerzlichen Blick zu und sagte:

»So sprichst du, Melusine ...?«

Auch Ferdinand blickte sie fragend, ja erschrocken an.

»Mein Ehrgeiz ist Gott sei Dank erloschen,« fuhr Erich fort, »und wer ihn wieder in mir entfachen will, der rät mir schlecht, der ist nicht mein Freund, übrigens wird es ihm nicht gelingen.«

Er stand auf und ging auf sein Zimmer. Melusine blickte fragend auf Ferdinand, der wie versteinert ihr gegenüber saß, dann sagte er:

»Du bist fürchterlich, Melusine.«

An diesem Tag ging Ferdinand allein spazieren. Nein, nein, sagte er sich, das darf nicht wiederkommen, das ist vorbei. Sie gehört ihm, das ist doch klar. Liebt sie mich denn? Wie wäre das möglich? Was will sie also von mir? Immer noch Brüderchen und Schwesterchen spielen, nachdem solche Dinge geschehen? Ja, sie ist wirklich fürchterlich, unheimlich wie ihre Namensschwester in der Sage, kein Mensch, ein Dämon, berückend und zerstörend. Was aber sollte er tun? Mit ihr ernsthaft reden? Das war schon geschehen. Wenn sie wieder zu weinen begann, war er machtlos. Mit dem Bruder offen sprechen? Der schien noch zu angegriffen und schonungsbedürftig. Ferdinand hatte erwartet, daß er nach dem Verlassen des Krankenhauses sofort Anstalten machen würde, Melusinen zu heiraten, aber bis jetzt war nichts dergleichen geschehen. Warum zögerte er? Ferdinand durchschauerte ein Gedanke. War ihm vielleicht Melusine auch fürchterlich geworden?

Einige Tage später kam während des Frühstücks wieder ein Brief von Pausecker. Er berichtete, daß er mit seiner Partei, welcher zunächst der innere soziale Aufbau der Republik am Herzen lag, einig geworden war, dem bürgerlichen Kandidaten für die Präsidentschaft keine Schwierigkeiten zu machen, so daß also Erichs Wahl mit großer Mehrheit gesichert schien. Er, als der Einzige, der in diesem Augenblick einem solchen Amt gewachsen sei, dürfe nun nicht ablehnen, seine Pflicht ... Erich las nicht weiter, ärgerlich warf er den Brief Ferdinand hinüber und sagte:

»Da lies ... Pflicht ... jetzt macht er es mit mir, wie ich einst mit Amadeus ... Ja, unsere Taten kehren zu uns zurück.«

Ferdinand las, dann reichte er den Brief schweigend Melusinen.

»Nun, so gib mir doch einen Rat,« sagte Erich, und seine Stimme klang verzweifelt.

»Ich kann dir nicht raten ...« stammelte Ferdinand unsicher. Melusine aber sagte zu Erich, nachdem sie den Brief gelesen: »Komm ... es regnet und stürmt zwar draußen, wie bei uns im Norden, aber laß uns einen Spaziergang machen.«

Als sie sich von der Stadt entfernt hatten, sagte sie sehr weich:

»Erich, ich habe dir niemals sagen können, daß ich dich liebe, obwohl mir sehr oft so zumut war; auch in jener schrecklichen Nacht versprach ich nur, deine Magd sein zu wollen. Ich glaube, ich habe dir redlich gedient seitdem, aber nun weiß ich, daß das nicht Liebe ist. Erst habe ich deine menschliche Vollkommenheit gehaßt, dann bin ich verehrend vor ihr in die Knie gesunken, und auch jetzt bewundere ich sie noch aufrichtig und will dir eine herzliche dankbare Freundin bleiben, denn du hast mich aus einem albernen, anspruchsvollen modernen Frauenzimmer zu einem richtigen Weib und Menschen gemacht. Was kann nun aber dieses Weib dazu, daß seine Frauenliebe nicht zu dir, dem Vollkommenen, geht, sondern zu dem Unvollkommenen, der so namenlos um uns beide gelitten hat und noch leidet? Du bist ja weise und verstehst alles, aber er versteht noch immer nicht ganz. Er kann nicht verstehen, so lange du sein Gott bist. Er hat seinen Gott zu töten versucht, aber innerlich hat er das noch nicht gewagt. Darum muß ich zu ihm und fort von dir. Bei dir könnte auch ich nicht vollkommen werden, von jetzt ab würdest du mich nur erdrücken, und das könnte mich wieder zur Teufelin machen. Bei Ferdinand aber kann ich gut werden, während wir zusammen Tag für Tag unseren Weg suchen. Dein Los ist ein Herrscher über Menschen zu sein, dein trauriges Los.«

Sie standen sich zwischen grauen Olivenbäumen gegenüber, die gespenstisch in den trüben Herbsthimmel ragten. Als Melusine geendet hatte, legte Erich seinen Kopf auf ihre Schulter und schluchzte. Sie schwieg und schlang den Arm um ihn. Nach einiger Zeit sagte er:

»Alles, was du sagst, ist so wahr, daß es darauf keine Antwort gibt. Übrigens weiß ich es ja schon lange.«

Sie kehrten zurück. Bei Tisch war Erich völlig gesammelt, gehalten und schweigsam. Zu Ferdinand sagte er:

»Ich nehme mein Kreuz auf mich und fahre morgen früh nach Rolfsburg.«

Der Nachmittag ging mit Packen und Reisevorbereitungen hin. Nach dem Abendessen legte Erich Melusinens Hand in die Ferdinands, dann ging er in sein Zimmer und begab sich zu Bett.

Beim Einschlafen sah er wieder jene verschleierte Frau aus der Tiefe seines Inneren steigen, die ihm einst zugerufen hatte: »Geh vorwärts, du stolzer Teufel, du bist auf dem rechten Weg zu mir.« Später hatte sie das Antlitz Melusinens angenommen, als sein Weg den ihren kreuzte. Jetzt glich sie niemand, war ihm zugleich neu und altvertraut, und er erkannte in ihr das Bild seiner eigenen Seele, die wie aus weiter Fremde zu ihm heimgekehrt war. Sie aber sprach:

»Tröste dich, du Mensch, über dein Leiden, denn nun hast du mich aufgenommen, und ich lasse dich nicht mehr in der Wüste verderben.«


 << zurück