Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XXXII

Am Abend des Tages der Rückkehr von Floridsburg nach Sensburg hatte Prinz Amadeus zum erstenmal eine Spannung zwischen Ferdinand und Melusinen gefühlt. Er zog sich daher bald nach dem Nachtmahl zurück. Melusine wollte kurz darauf ein Gleiches tun. Ferdinand bat sie indessen um eine Aussprache, aber sie zischte ihn an:

»Was Sie nur wollen! Es gibt nichts zu besprechen, übrigens hasse ich Aussprachen.«

Als sie sah, wie sich seine Lippen zusammenzogen gleich dem Mündchen eines Kindes, dem ein Versprechen nicht gehalten worden ist und das nun gleich in ohnmächtiges Weinen ausbrechen wird, ergriff sie seine Hand und sagte plötzlich mit Wärme:

»Ferdinand, nicht böse sein ... Sie haben mich doch immer genommen, wie ich bin, bitte, tun Sie es auch jetzt.«

Dann ging sie hinauf. Im Treppenhaus stieß sie auf Skanny, der ihre Liebe heftig erwiderte. Sie nahm den vor Freude Tanzenden mit sich in ihr Zimmer. Ferdinand blieb allein zwischen den still lächelnden Buddhas und den schmerzlich gewundenen Barockfiguren, mit sympathischer Aufmerksamkeit von Cora beobachtet. Dann holte er aus einem Wandschrank eine, Flasche, trank hintereinander ein paar Gläschen Kognak und verfiel in einem Armsessel tiefem Brüten.

Gestern hatte er zum erstenmal wieder seit der Kindheit Erichs Indianerblick gesehen. Er kannte dessen Leben zu gut, um ernstlich befürchten zu müssen, daß er in Melusinen mehr als die Künstlerin und das interessante Menschenexemplar sehen würde. Erich war nicht mehr neugierig auf Frauen und damit gegen den mächtigsten Verführungsreiz gefeit, ebenso wenig aber in der Gefahr des Asketen, den sein darbender Trieb, wenn er es am wenigsten erwartet, wie aus dem Hinterhalt überfallen kann. Er hatte doch zeitlebens Berührung mit anmutigen und klugen Frauen gehabt, bedurfte ihnen gegenüber keiner ausschmückenden Romantik, liebte vielmehr ihre Wirklichkeit, und der war er durch sein breites und tiefes Weltverstehen immer gewachsen. Obendrein konnte die zwischen Hemmung und Überschwang hin- und hergerissene Melusine gewiß nicht sein Fall sein. Das war schon daran zu erkennen, daß er sie mit fast zu ausgesuchter Höflichkeit behandelte, sie sozusagen gewollt ernst nahm, wie nur der überlegene Meister einen wertvollen, werdenden Menschen nimmt, weil er der Ermutigung bedarf und ein unbesonnenes Wort Verwirrung hervorrufen könnte. So sprach wohl kein Mann zu der, die er liebt. Gefiel Erich eine Frau, dann war das erste, was geschah – das hatte Ferdinand oft genug beobachtet – daß sich in seinen Ton eine leise Ironie einschlich, die, obgleich Frauen sonst Ironie nicht ausstehen können, darum gar nicht verletzte, weil man irgendwie fühlte, daß sie sich weniger gegen die Frau selbst richtete, als gegen das, was da zu seiner eigenen Überraschung zum soundsovielten Mal wieder in ihm selber vorging, und es schien fast, als ob das seine Art zu verführen war. Jedenfalls: Eindruck machte er immer, manche Frauen haßten ihn auch, und das war ja schon bei Melusinen der Fall gewesen. Inzwischen hatte sie sich niemals mehr über ihn geäußert, war aber gern auf seinen freundlichen interessierten Ton eingegangen. Offenbar fühlte sie sich nun doch recht wohl von ihm verstanden, und das hatte ihren etwas kindlichen Widerstand schmelzen lassen, ohne aber eigentlich das Weib in ihr zu berühren.

Überhaupt das Weib in Melusinen, wo war das? Ihr ganzes sichtbares Wesen stand auf ihrer Leistung und ihrem klaren Verstand; das alles hätte ebenso gut männlich sein können. Manchmal schien ihre beherrschte Ruhe wirklich unheimlich, als habe sie all das Schlimme, das doch über sie gekommen war, vergessen oder überhaupt nie ganz richtig erlebt. War sie aber ausgelassen, und das geschah nicht selten, dann konnte sie gradezu kindisch sein. Ferdinand beglückte das sehr, denn dann duzte sie ihn bisweilen und forderte sogar zu leichten Zärtlichkeiten heraus, aber schließlich, was hatte das mit ihr selbst zu tun? Es war, als führe sie in einem Luftballon ins Leere hinaus, und dabei durfte er sie begleiten. War vielleicht Melusine überhaupt seelisch noch kein voll entwickeltes Weib? Hatte er nicht manchmal in ihr ein naives, ja ängstliches Kind wahrzunehmen geglaubt? Mit unbeschreiblichem Vergnügen dachte er daran, und ein Lächeln kräuselte seine Lippen. Ja, es gab eine Stelle, da war sie hilflos wie er, vielleicht sogar noch hilfloser, weil es bei ihr unbewußt blieb, während er wenigstens sehr genau wußte, wie es mit ihm stand und einen ironischen Abstand zu sich selbst gefunden hatte. Dies wiederum schien Melusinen an ihm zu gefallen, als ob es ihre verborgene Seite irgend wie bestätigte. So hatte er bei ihr mit all seinen Schwächen sein können, der er war, ohne sich das Geringste zu vergeben. Hier lag das Geheimnis ihrer Gemeinschaft, die so zart war, daß man nicht daran rühren durfte. Ferdinand wäre glücklich gewesen, wenn nur alles so hätte bleiben können. Warum sollte er mehr verlangen, als der Augenblick von selber gab? Nur nicht handeln, handeln erschien ihm als das Übel. Wu-Wei.

Gestern aber war nun die Lage nicht etwa anders geworden, sondern ganz plötzlich anders gewesen. Er wußte selbst nicht, worüber er sich mit Melusinen aussprechen wollte. Sollte er ihr Vorwürfe machen? Etwa weil sich, als sie in das Wasserbecken steigen wollte, ihr langes Haar gelöst hatte, oder weil sie in dem Augenblick, wo sich Erichs Blick von ihr wegwendete, plötzlich in einer grellen Dissonanz ihr Spiel abgebrochen hatte? Nein, er wünschte nur, daß überhaupt etwas gesprochen wurde, mochte es eine Beruhigung oder einen wilden Ausbruch zur Folge haben, wenn nur diese schon bald sechsunddreißig Stunden währende unerträgliche Spannung ein Ende nahm. Melusine, die auch zu leiden schien, wünschte offensichtlich das Gegenteil. Es sollte um Gottes willen, so wie bisher, nichts geschehen; lieber diese Spannung weiter ertragen, denn, was auch geschehen mochte, es konnte nur furchtbar werden. Dies alles las Ferdinand sehr deutlich aus ihren wiederholten Versuchen, sich einem Gespräch zu entziehen, und ihrem pantherartigen Zischen, als es ihm zu gelingen schien, sie zu stellen.

Dann dachte er wiederum an Erich. War das nicht geradezu empörend gewesen, wie er sich nach Melusinens wildem Spiel, das wie von seinem Blick eingegeben war, behaglich auf das Moos gestreckt, seine Zigarre zu Ende geraucht hatte und eingeschlafen war? Halb und halb wurde dem dumpf vor sich hingrübelnden Ferdinand das Sinnlose dieses Gefühls bewußt, daß er Erich sozusagen seine Uninteressiertheit an ihr übel nahm, aber das hinderte ihn nicht, sich mit einer Art Lust in dieses Übelnehmen zu verbeißen. Was er jetzt auf jeden Fall haßte, war der plötzlich wieder aufgeglommene Blick Erichs, mochte er nun Leidenschaft oder kalte Überlegenheit oder auch gar nichts bedeuten.

Jetzt wußte er auf einmal, daß ihm dieser Blick von Kindheit an durch seine Anziehungskraft doch eigentlich die ganze Welt gewissermaßen weggeschnappt hatte, als sei er ein Fangorgan. Während sich Erich mit großer Genauigkeit aller Einzelheiten ihrer gemeinsamen Kindheit entsann und gern heiter davon sprach, verschwammen Ferdinand alle sinnlichen Vorstellungen, in einen Nebel, hinter dem bisweilen nur das Auge des Bruders hervorbrach, in dessen Furcht er unbewußt gelebt. Auch das hatte er ganz vergessen gehabt, bis zu jenem ersten Gespräch, das er mit Melusinen über Erich führte. Da war ihm etwas gedämmert, und seitdem fiel ihm immer mehr Sonderbares aus der Vergangenheit ein. Nicht einmal die Bilder der Eltern konnte er sich genau vorstellen, und das erschien ihm nun selbst um so verwunderlicher, als er doch Maler, also Augenmensch war. Auch die einzelnen Stimmungen und Affekte der Kindheit waren seiner Erinnerung ganz abhanden gekommen; heute aber entsann er sich plötzlich, welchen ungeheuren Eindruck ihm die Geschichte des gottlosen Bruders Kain gemacht, und wie er immer bestrebt war, gut und fromm zu sein wie Abel, während es Erich mit der Bravheit offenbar nicht so genau nahm. Ohne es sich zuzugeben, hatte er in dem Bruder mit dem bösen Blick den Kain gesehen. Pflegte Erich ihn nicht bisweilen sogar wegen seiner Sanftmut zu verspotten? Kein Wunder, es mußte ihn ärgern, daß sich der Jüngere durch Folgsamkeit den Eltern besonders angenehm machen wollte, aber Erich zeigte es nicht, wußte es sogar unter Freundlichkeit zu verbergen. »Da ergrimmte Kain und seine Gebärden verstellten sich.« Und so kam es – er sah es nun auf einmal ganz deutlich – daß gerade Kains zur Schau getragene Liebenswürdigkeit den Eltern wohlgefällig war, und Abels Opferrauch senkte sich zur Erde. Kain hatte gesiegt, die Welt war aus den Fugen. Das befriedigte natürlich den Kain, und so hatte er es leicht, ein ganzes Leben lang mit beleidigender Großmut den Abel neben sich zu dulden wie ein kleines nichtsnutziges, aber drolliges Tier.

»Das ist alles ein schöner Blödsinn,« sagte Ferdinand laut und erschrak über seine eigene Stimme, dann murmelte er: »Ich dichte da etwas zusammen zur Korrektur der biblischen Geschichte.«

Aber die Gedanken nahmen ungerufen ihren Weg, ja, es tat geradezu wohl, sich zum vollendeten Unsinn zu bekennen, als sei das eine große, viel zu wenig beachtete Macht, eine Gegenmacht gegen die Welt, gegen den Druck der alles Leben verengenden Vernunft. Gegen Erich? Ferdinand erschrak, aber sein Schrecken verwandelte sich in eine sein ganzes Inneres durchzitternde Wollust. Das befreite ihn plötzlich von allem Druck. Er dachte an seine Entwicklung zurück. Auch später hatte er wenig von der äußeren Welt wahrgenommen, sein Blick war immer nach innen gekehrt. Selbst Melusinen konnte er sich in ihrer Abwesenheit nicht recht vorstellen, mit Ausnahme der oft rätselhaft wetterleuchtenden Augen, die ihn aber nicht erschreckten, wie die des Bruders, sondern wie seelige Tiefen verlockten, in ihr Geheimnis blind zu versinken.

Wie war er nur eigentlich, der doch an der sichtbaren Welt vorbeilebte, gerade Maler geworden? In der Tat hatte er anfangs an keinen Beruf weniger gedacht, aber in China war ihm eine Kunst aufgegangen, die, so sicher sie sich der Gestalten der äußeren Welt bedient, mit nichten diese meint, sondern in sinnlichen Symbolen eine auch ihm so wohlbekannte Innenwelt ausdrückt. Über diesen Umweg des Symbols war ihm die Außenwelt erst bemerkenswert geworden, und nun begann er plötzlich zu sehen, nicht zwar die ganze Welt, aber genug, um den inneren Gesichten Formen geben zu können, die auch ein fremdes Auge verstand. Die Entdeckung dieser Möglichkeit hatte ihn damals tief glücklich gemacht, alle früheren Leiden vergessen lassen und das geschäftig-müßige Leben zwischen Innen und Außen begründet, dessen sichtbarer Ausdruck Sensburg geworden war.

Nun konnte er neidlos die Außenwelt dem Bruder überlassen und es rückblickend gut heißen, daß schon in der Kindheit zwischen ihnen Geistlich und Weltlich wie zwei Bereiche abgegrenzt worden waren. Nur hatte er es damals unbefragt hingenommen, während es ihm jetzt gerade so recht war. Ja Erich erkannte sogar den Wert dieses beschaulichen Daseins an und erholte sich von seinem rastlosen Tun nirgends lieber, als in dem Behagen des so still dahin rinnenden Sensburger Lebens, wo einem zu Mut war, wie am Rand leise plätschernder Wasser oder beim Ticken alter Uhren.

Ferdinand fühlte sich plötzlich selbst wieder von dieser flüsternden Lebendigkeit seines Heims umfangen und war überzeugt, daß er gestern nur einen Rückfall in längst überwundene Kindereien erlebt hatte. Was war denn eigentlich in Floridsburg geschehen? Gar nichts. Die Spannung, an der er gelitten, ist nicht draußen, nur in ihm gewesen. Nun aber schien sie wiederum gelöst. Heiter würde er morgen Melusinen gegenüber treten, und mit so guten Gedanken legte er sich zu Bett, aber er schlief nicht gleich ein.

War nicht seine innere Welt unendlich reich wie ein Zauberwald? Nur mußte man sie verstehen, sonst verwandelten sich alle die bunten Lichter und Schatten zwischen den raunenden Bäumen in narrende und schreckende Dämonen. Schon als kleines Kind hatte er deutlich wahrgenommen, daß das Leben zwei sehr verschiedene Seiten hat. Da sind die bewundernswerten Eltern, zu deren Dasein es einen mit allen Fasern zieht, und ihre nicht minder herrlichen Freunde, mit denen sie sich niedersetzen zum Göttermahl an reicher Tafel. Aber da werden zugleich dunkle Unheimlichkeiten verborgen. Da ist das Schlafzimmer mit seinen Geheimnissen um das prächtige Himmelbett. Da sind im Hause außer den freundlichen und festlichen Räumen allerlei Gelasse voll verbrauchten Geräts und modernder Stofflichkeit, da sind widerliche Gerüche, teils fade, teils heftige. Da gehen Dienstboten aus und ein, in den Zimmern freundlich, aber draußen reden sie eine ganz andere, derbe Sprache und nachts schlafen sie, heißt es, in den Kammern auf dem Speicher. Da ist der Tod: manche Leute verstummen und werden in die Erde gegraben, aber damit haben Kinder nichts zu tun. Da ist vor allem der Abend, wo alles ein ganz anderes Ansehen annimmt, als bereite sich langsam etwas Schreckliches vor, die Nacht. Wie geschah es nur, daß man in eine so rätselhafte Welt geriet, die man nicht verstand? Die Eltern fragen, nein, das kann man nicht, und was hätte er denn überhaupt fragen sollen? Allein weiter forschen? Das war ganz unmöglich; etwa einmal nachts in den Garten schleichen und lugen, wie es wohl bei Mondschein in dem Winkel hinter dem gezimmerten Gartenhäuschen aussah, wo es bei Tag von Ameisen wimmelte, ja sogar von Tausendfüßlern und Asseln. Bald hatte er zu seinem Staunen bemerkt – er wollte es erst gar nicht glauben – daß andere Kinder, sogar Bruder Erich, nichts von dem Geheimnisvollen ahnten, vielmehr die Welt ganz einfach und vernünftig nahmen, wie sie beim ersten Anblick schien. Da kam er sich zum erstenmal doch viel klüger und allen überlegen vor. Zwar verstand er auch nicht viel mehr als sie, aber sie wußten nicht einmal, daß es da überhaupt etwas zu verstehen gab. Wenn er einmal etwas verlauten ließ, dann nannten sie es einfach Unsinn. Sehr bald wurde sein Grübeln über dem Geheimnis die Ursache, warum sie ihn schnell überholten durch Wissen und Können. Jetzt waren sie auf einmal die Überlegenen, und er konnte gar nichts mehr. Dann kam das Ereignis seiner plötzlichen Ernennung zum Kardinal, später der Absturz in die Bank, schließlich China, seine Zeichenkunst, das Wu-Wei, Sensburg, Melusine, und seit gestern bebte diese äußere Welt wieder in den Fugen. Aber tat sie es denn wirklich? Mochte es von außen so aussehen. War er denn nicht der Wissende, ein Zauberer, der längst, ehe es einen großen Erich und einen zurückbleibenden Ferdl gab, an das Geheimnis der Welt gerührt hatte, an das Geheimnis des großen Unsinns, der tief verborgen hinter allen scheinbaren Sinn liegt und am Ende das wahre Leben ist? Während er eindämmerte, verwandelten sich die Gedanken in immer verschwommenere Bilder. Im Traum klopfte er an eine Pforte und flüsterte: Sesam öffne dich!


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