Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV

Erich begab sich gleichzeitig nach Paris, von seinem Vater an das Haus Rothschild empfohlen, wo er als Volontär Einsicht in die Geschäfte nehmen sollte. Bei einem großen Abendempfang seines Chefs machte er die Bekanntschaft von Espérance Waldegg.

Espérance war eine jung verheiratete Frau. Ihr Gatte, Graf Arthur Waldegg, befand sich bei der Harringenschen Gesandtschaft in einer wenig unterhaltlichen Hauptstadt und hatte Espérance, mit der er die Sommermonate auf der Insel Wight verbringen wollte, gestattet, einige Wochen vorher den tötlichen Ort zu verlassen und ihn in Paris zu erwarten, wohin sie schon lange von einer weitläufigen Kusine eingeladen war. Sie wirkte eher wie ein großes, aber gerade durch seine unbeirrte Naivität sehr selbstsicheres junges Mädchen. Das rötlich blonde Haar und die klassischen, wenn auch eher großen Hände sollten später in der europäischen Gesellschaft eine gewisse Berühmtheit erlangen. Das reizvollste aber war der, genau genommen, nicht schöne Mund, dessen unregelmäßige und doch nicht formlose Lippen sich dauernd im Ausdruck ihrer bald heiteren, bald staunenden oder ablehnenden Gemütsbewegungen kräuselten und dabei ein bewunderungswürdiges Gebiß entblößten.

Espérance genoß ihren Pariser Aufenthalt in vollen Zügen. Es war zum erstenmal in ihrem Leben, daß sie sich ganz frei bewegen konnte, und so unternahm sie täglich Kreuz- und Querfahrten durch die Stadt; dabei bekundete sie bereits die selbständige Eigenart der Lebensführung, die sie später auszeichnen sollte. Die Geselligkeit der verschlafenen Paläste des Faubourg St. Germain fand sie nur wenig anregender, als den Hof daheim in Rolfsburg, während die Herzoginnen und Marquisen sie darum beneideten, daß in ihrer Heimat die Sonne des Königtums noch unbewölkt leuchtete. Hingegen bot ihr der Verkehr in den reichen Häusern des republikanischen Bürgertums des Neuen nicht wenig. Dort traf man Leute, die »wirklich interessant« waren, deren Welt für Frauen aus Espérancens Kreis mit nicht weniger Romantik verklärt war, als Hofgesellschaft für die Weiblichkeit der Mittelklassen. Nur kam dazu noch ein verrucht prickelnder Duft wie von eigentlich verbotenen Früchten. Espérance spürte den verwegenen Reiz der Atmosphäre, die Männer ausstrahlten, welche entweder unbegrenzt Geld verdienen oder die öffentliche Meinung beeinflussen. Fast täglich wurden sie in den Zeitungen genannt, zwar einer Erfindung des Teufels, aber doch nur von unheimlich gescheiten Menschen zu machen, die man Abends mit halbnackten Geliebten im Theater betrachten konnte. Nun, und gar diese Frauen, die bekanntlich nach ihrem eigenen Geschmack die Mode erfinden, welche man nur ein Jahr später auch in Rolfsburg und zwei Jahre später sogar in jener tötlichen Hauptstadt sah, wo Espérance zur Zeit mit Graf Arthur ihren Wohnsitz hatte. Kurz, in dieser Welt geschah gerade das, was man daheim für indiskret, geschmack-, takt-, wenn nicht schamlos hielt, mit einer so überlegenen Sicherheit, daß man sich allen Ernstes fragen konnte, ob die daheim nicht mit ihren Konventionen einfach am Leben vorbeilebten. Das alles mußte auf Espérance wirken, wie auf eine Frau aus der Provinz der unverhoffte Anblick einer großen Kurtisane, die gerade um der Dinge willen Verehrung genießt, die man ihr bisher als das Allerschändlichste nur schattenhaft angedeutet hat, und die doch ganz entschieden ihren Reiz besitzen. Trotzdem ließ sich Espérance in der ihr neuen Umgebung nicht einen Augenblick aus der Fassung bringen. Wie vergnüglich sie auch die aus mancherlei Düften zusammengesetzte Luft mit ihren beweglichen Nasenflügeln einatmete, über das Wesen der einzelnen Menschen, mit denen sie sprach, ließ sich ihr unbefangenes Herz hier so wenig durch Ruhm oder Reichtum täuschen, wie daheim durch große Namen und Titel.

Espérance bemühte sich, nach Tisch den Polypenarmen ihres Tischherrn im Palmenfrack der Académie Francaise zu entrinnen, der sie wie mit Saugnäpfen hatte festhalten wollen. Im Gedräng der nun erst zum Empfang erscheinenden Gäste begegnete sie dem jungen Holthoff, der ihr schon vor dem Essen kurz vorgestellt worden war. »Furchtbar arrogant« war er ihr im ersten Augenblick durch Gesichtsausdruck und Ton erschienen, aber dann hatte sie ihn bei Tisch ein wenig beobachtet und interessant gefunden. Infolge der Gleichheit des Alters und der Sprache schien er ihr jetzt gerade geeignet, sich bei ihm von einem langweiligen Tischgespräch zu erholen. Sie redete ihn deutsch an, und als sie bemerkte, wie sehr den hier noch Fremden das beglückte, gab sie einem Lakei ein Zeichen, daß er die Kaffeetassen auf ein Tischchen unter den Palmen des Wintergartens stellen solle.

Erich taute sehr schnell auf und war von dieser Sicherheit einer großen Dame jünglinghaft begeistert; er ahnte so wenig, daß das große Mädchen Espérance eben zum erstenmal etwas derartiges unternahm, wie sie erkannt hatte, daß seine »furchtbare Arroganz« die Haltung des noch Ungeübten auf Glatteis war. In Rolfsburg hätte sie als junge Frau ein solches »Aparté« mit einem unbekannten Herrn nicht wagen dürfen. Hier aber befand man sich in Paris. Diese Menschen waren doch frei, Klatsch gab es sicher nicht. Wie fühlte sie sich von der Pariser Luft getragen, in der es so leicht war, zu fliegen! Mehr als eine Stunde saß sie mit Erich lachend und deutsch sprechend unter der Palme, und während es ihr sehr pariserisch schien, daß dies anging, ahnte sie nicht, daß man es ihr nur als einer Fremden von Distinktion verzieh. Besonders erstaunte sie indessen, zu finden, wie harmlos, ja kindlich sich unter vier Augen dieser grimmige Löwe zeigte, der ihr nun immer mehr als ein Löwenjunges erschien, wie sie einmal in Rolfsburg im zoologischen Garten eines auf den Arm genommen hatte.

Sie fühlte sich von Erich bezaubert. So klug er für sein Alter schon war, noch trug er das Herz auf den Lippen und besaß die Naivität genialer Jünglinge, denen ihr eigenes originelles Wesen als etwas Selbstverständliches erscheint. Seine Enttäuschungen hatten daran nichts geändert. Das ließ ihn, wie hochmütig er den Durchschnitt auch verachtete, sofort bei einem Partner, der ihn einigermaßen anzog, eine Gemeinschaft voraussetzen, was wohl manchen Reiferen voreilig, manchem Unwürdigen lächerlich erscheinen mochte. Gerade Espérance aber schlug er damit sofort in seinen Bann. Sie hatte auch schon erfahren, daß sie sich durch ihr unmittelbares Erleben und Beurteilen der Dinge sehr wesentlich von allen anderen Menschen ihrer Umgebung unterschied, die, statt selber die Dinge anzuschauen, fertige Anschauungen übernahmen, bestenfalls zwischen mehreren eine heraussuchten und sich aneigneten. Dies erschien bereits als Originalität. So hatte sie z. B. schon öfters mit einem Anhänger der damals geplanten Weltsprache Volapük gesprochen und einmal sogar mit einem Freimaurer. Es war in Franzensbad. Wenn sie auch wohl schon wagte, oft und erheblich an der unbedingten Richtigkeit der Anschauungen ihres Kreises zu zweifeln, so war sie doch immer nur so weit gegangen, für möglich zu halten, daß vielleicht die Auffassungen anderer Gesellschaftsgruppen die richtigen sein konnten. Daß aber überhaupt keine geltende Meinung, sondern gerade sie, die jeden Menschen und jeden Vorgang unmittelbar von sich aus anzuschauen pflegte, damit vielleicht recht haben könnte, der Gedanke war ihr nie gekommen. Eine Frau muß ja so vieles unterdrücken; ein wahres Glück, daß es, wenn sie »horreurs« sagte, wie es ihre Gouvernannte genannt hatte, ohne ihr Zutun in einer Art geschah, welche die Leute liebenswürdig oder zum Wälzen komisch fanden. Sie aber hatte es oft gar nicht komisch gemeint, sondern ihre ernstesten Überzeugungen ausgesprochen, so, als sie mit 14 Jahren sich zu erklären erdreistete, daß sie einen kleinen Vetter nicht nur seelisch, sondern auch körperlich liebe. Freilich hatte sie es französisch gesagt: » et moralement et physiquement«.

Erich griff noch beherzt nach den Menschen, die ihn anzogen, und kümmerte sich nicht um die anderen. Auch ihn hatte sein Tischpartner, eine ältliche, angelsächsische Spinster spätviktorianischen Stils, gelangweilt, und das schilderte er sofort Espérance sehr anschaulich, während er bei ihr aufatmete.

Eine so voreilige Intimität war nun wirklich eine »horreur« aber sie gefiel Espérance außerordentlich, hatte sie sich doch in ganz ähnlicher Lage befunden, und so beging sie entzückt dieselbe »horreur«, indem sie sich bei Erich über ihren Tischherrn lustig machte, ja ihn sogar nachahmte.

»Wir benehmen uns wirklich skandalös« rief sie, hinter ihrem Spitzenfächer lachend, und freute sich über dieses »wir«, das Erich heimlich erbeben ließ. Das merkwürdigste aber war, daß dieser wildfremde Gesprächspartner, mit dem sie sich so weit vergaß, über anwesende Gäste zu spotten, ihr nicht eine Spur von jenem leisen Mißtrauen einflößte, wie diese ganze Pariser Welt, in deren Flut sie doch mit so viel Vergnügen umher plätscherte. Er hatte ihr gleich erzählt, warum er in Paris war und was er in Preußen für Erfahrungen gemacht. Ihr war zu Mut, als ob sie auch ihm wie einem Altbekannten alles erzählen könnte und ihr das ein großes Vergnügen bereiten würde.

Espérancens Mutter war ein Fräulein Gandolphine de Nesle aus altbretonischem Geschlecht gewesen. Das Französische hatte daher schon das Kind auch schriftlich beherrschen gelernt. Das Deutsche sprach sie nicht ganz korrekt und mit gerade so viel süddeutschem Anflug, als anmutig ist. An diesem Abend fühlte sie indessen zum erstenmal, wie innig die gemeinsame Sprache verbinden kann, und ihr kam vor, als ob das, was französisch ganz unbedingt eine »horreur«, gewesen wäre, auf Deutsch gar nicht so schlimm ist, war doch damit so viel vertrauliche Herzlichkeit verbunden, wie sie seit langem nicht mehr gefühlt hatte, auch wenn sie deutsch sprach. Dies tat sie als Kind gewöhnlich, wenn sie unartig war, und später, wenn sie sich gehen ließ. Heute abend fühlte sie sich wieder einmal köstlich unartig, und es war beglückend, sich gehen zu lassen.

Unbefangen fragte sie Erich, wie er seine freie Stunden verbringe. Nun, er führte das Leben der jungen Leute in Paris, hatte zwei nicht sehr wohnliche Zimmerchen in einem garni, war infolgedessen nie zu Haus, speiste im Gasthaus, besuchte Theater, ernste und heitere, dann und wann auch die Vergnügungslokale. »Beneidenswert«, rief sie aus und klatschte vor Vergnügen in die Hände. Ein Mensch, der wirklich tun und lassen konnte, was er wollte, dem niemand etwas zu sagen hatte! Nicht minder erstaunt war Erich zu erfahren, daß diese schöne Frau, die mehrmals die Woche in großen Häusern speiste, außer der Oper, der Comédie Française und natürlich den Geschäften der Rue de la Paix, sozusagen nichts von dem »wahren« Paris kannte, weder die kleinen Frühstücke en goguette in den Vororten an der Seine, noch die eleganten Restaurants mit Ausnahme des sehr vornehmen, aber gar zu langweiligen Café Anglaise, weder den damals noch in Blüte stehenden Montmartre mit seinen in jeder Beziehung, außer in Hinsicht auf Geist und Witz, bescheidenen Kabaretts, noch die lustigen kleinen Theater à côté; von Moulin Rouge und Bullier, die noch ihre einzigartige Atmosphäre hatten, ganz zu schweigen. Kurz, das Gespräch unter der Palme des Rothschildschen Wintergartens endigte damit, daß Erich sich als Begleiter durch alle diese Herrlichkeiten anbot und Espérance erwiderte, er möchte dieser Tage bei ihrer Kusine, wo sie wohnte, vorbei kommen und seinen Namen in das Buch der Besucher einschreiben. Als sich Erich später beim Hausherrn nach der Adresse erkundigte, erfuhr er, daß Espérancens Kusine die Exkönigin Marie Sophie von Neapel war, die zu jener Zeit in einer Villa in Saint-Mandé nahe dem Vincenner Wäldchen ziemlich zurückgezogen lebte. Er verbarg geschickt sein Erstaunen, schrieb am folgenden Tag dort seinen Namen ein und erhielt eine Einladung zum Frühstück. Ein wie ernster junger Mann er auch war, so versäumte er doch nicht, an diesem großen Tag eine Kravatte bei Charvet auf der Place Vendôme zu kaufen, ja mehrmals vor Geschäften mit Spiegelscheiben stehen zu bleiben, um sich zu überzeugen, daß sie ihn gut kleidete. Die Persönlichkeit der leise alternden, in ihren Bewegungen etwas unbeholfenen Königin Marie Sophie war wohl dazu angetan, dem »Vernunftmonarchismus« eines jungen Mannes, den dieser als geistiges Inventarstück von seinem Vater ererbt hatte, den Schwung eines begeisternden Gefühls zu geben, zumal, da die Begegnung stattfand in einem Augenblick, als das bisher noch unberührte Gefühlsleben des nachdenklichen Jünglings zum ersten Mal in tiefe Wallung geraten war. Manches über Marie-Sophie, so die heldenmütige Verteidigung von Gaëta, kannte er aus der Geschichte; Einzelheiten über das Martyrium ihrer Ehe mit einem Tropf erfuhr er von Espérance. Sie hatte für diese viel ältere Kusine, die sie als Kind oft in Tutzing besucht hatte, eine Mädchenschwärmerei gehegt, welche sich nun, da sie ihr als Erwachsene wieder begegnete, in Ehrfurcht vor dem tragischen Geschick dieser Frau verwandelte. Als sehr junges Mädchen war sie dem König Franz II. von Neapel in Stellvertretung angetraut worden, in der Meinung, in ihm einen ritterlichen jungen Gatten zu bekommen. Statt dessen fand sie einen unsauberen Fresser, feig und schlaff, den die Napolitaner wegen seines kleinlichen Gepolters im Gegensatz zu seinem temperamentvollen Vater, dem Ré Bomba, Ré Bombetta, d. i. König Bömbchen nannten. Beim Einmarsch der Truppen Garibaldis lief das Bömbchen davon und überließ die Verteidigung der Krone seiner Frau. Anfangs der neunziger Jahre ist er endlich gestorben. Erich fragte sich, ob denn in der ganzen Festung Gaëta nicht ein einziger Mann gewesen war, und in Tagträumen sah er sich selbst auf dem Wall für die verlorene Sache der kühnen Frau fechten. Marie-Sophie lebte in Saint-Mandé in Zurückgezogenheit und Einfachheit. Noch war die große Gestalt mit den nun ergrauenden, einst tiefschwarzen Haaren schön zu nennen. Trotzdem gefiel sie den Parisern nicht, die kaum bemerkten, daß diese Frau, welche die bayrische Schwerfälligkeit der Kleidung nie ganz überwand – » fagoté« nannten sie das – unvergleichlich viel mehr große Dame war, als die pikanten Löwinnen des Quartier de l'Etoile, wo die Eleganz in jenen Jahren bereits begann, ein Selbstzweck und damit das Gegenteil von Vornehmheit zu werden.

Die Königin, die nicht viel sprach, aber Espérancens Geplauder mit Erich gern lauschte, teilte deren Interesse an dem jungen Herrn, der trotz seiner ungewohnten Art durchaus » bien pensant« schien. Nach jener offiziellen Einladung wurde er meist zum Tee gebeten, wo er nicht selten die beiden Kusinen allein traf, ohne den winzigen Hofstaat an der Frühstückstafel, der wenigstens die eine Funktion mit Vollkommenheit erfüllte, lebendig werdende Gespräche im Keim zu ersticken. Der eisgraue fadendünne Monsieur de la Brillière mißbilligte jedes Wort Erichs, ehe er es noch ausgesprochen hatte, während man dem vertrockneten und knochigen Fräulein von Oberfuhr-Civetta die Gerechtigkeit widerfahren lassen muß, daß es mit seiner ablehnenden Miene doch erst abwartete, bis es gehört und wenn möglich verstanden hatte, was der Gast sagte. Sie auf seine Seite zu ziehen, wäre für Erich ein Leichtes gewesen, wenn er sich hie und da verbindlich an sie gewendet hätte, und dann wäre der freilich hoffnungslose Fall des Monsieur de la Brillière, der schon die Tafel des Königs Bömbchen tötlich gelangweilt hatte, wenigstens isoliert worden. Diese Kunst der gesellschaftlichen Kleingeldwirtschaft besaß aber Erich Holthoff noch nicht. Er war bis über die Ohren verliebt in Espérance und teilte sofort deren Verehrung für die Königin; was gingen ihn da diese zwei versteinerten Wesen an? Er betrachtete sie als Verkehrshemmnisse, nichts sonst, und behandelte sie demgemäß. Wieder eine » horreur« unglaublichen Grades, aber durchaus nach dem Herzen Espérancens, die darin Kühnheit sehen wollte; und selbst das menschenfreundliche Herz der Königin schien diesen beiden massiven Säulen ihres Alltags zu gönnen, daß sie einmal wie Luft behandelt wurden. Immerhin vermied sie häufige Wiederholung solcher moralischen Züchtigung.

Die Teeeinladungen erschienen allen Beteiligten als die beste Lösung. Es war leicht, einen kleinen Ritt zu zweit in das an den Garten angrenzende Vincenner Gehölz anzuschließen, oder Erich ruderte, wenn mit den Pferden etwas nicht in Ordnung war, Espérance auf dem Lac de Daumesnil, wo sich die Kleinbürger der nächsten Quartiere, ja offensichtlich ineinander verliebte Pärchen, auf die gleiche Art ergötzten.

Espérance war fern davon, Erich zu etwas mehr Rücksicht auf den »Hofstaat« anzuleiten – solchen sittigenden Einfluß übte sie auf ihn erst später – vielmehr forderte sie ihn geradezu heraus, wenn er bisweilen zu einem einfachen Diner blieb, bei Tisch von ihren gemeinsamen Beobachtungen zu erzählen. Dies tat er mit lebhafter Anschaulichkeit, von zwei bereits liebenden und zwei wohlwollend begönnernden Frauenaugen ermutigt. Espérance war stolz darauf, mit ihrem »Protégé«, wie die Königin Erich in seiner Abwesenheit zu nennen pflegte, bei dieser so viel Glück zu haben, und als sie deren Vertrauen und Sympathie zu dem nun fast täglichen Besucher hinreichend gefestigt fühlte, konnte sie es endlich wagen, für einen Abend um das Kupee zu bitten, da sie nach dem Diner mit Herrn Holthoff in's Theater fahren wolle. Dies wiederholte sich nun öfter. Espérance ließ bald den Kutscher vom Theater gleich wieder nach Hause fahren, damit man nach der Vorstellung in Ruhe soupieren konnte, und spät in der Nacht brachte Erich sie in einem Fiaker zurück. So wurden die Lücken in ihrer Kenntnis des »wahren« Paris, die beide an jenem Abend bei den Rothschilds so tief beklagt hatten, schnell ausgefüllt. Am anderen Tag pflegte Espérance das ihr geeignet Scheinende von dem, was sie, besonders in den Theatern, gesehen hatte, offen und ausgelassen bei Tisch zu erzählen. Die Königin lachte und dachte im Stillen, daß ja nun Graf Arthur bald kommen und sie abholen würde und daß es vielleicht höchste Zeit dazu sei. Herr de la Brillière aber und Fräulein von Oberfuhr-Civetta mußten auf ihre alten Tage Gespräche mit anhören, die in ihrer Jugend in der Umgebung einer Königin einfach unmöglich gewesen wären.

Es gab nun nichts mehr in Erichs Leben was er Espérance nicht mitgeteilt haben würde, und auch von ihr wußte er genug, um es zu wagen, ihr seine rückhaltlose Liebe zu gestehen, nämlich, daß Graf Arthur zwar ein sehr achtenswerter Charakter und rührender Vater ihres Buben sei, aber ihr als Gatte von den Eltern bestimmt worden war und in ihr nicht mehr als Gefühle der Freundschaft und der Pflicht erweckt hatte, die sie ihm ihr Leben lang immer zollen würde. Hätte Erich Espérance daheim kennen gelernt, so wäre er vielleicht jahrelang ihr stummer Bewunderer geblieben, ohne zu wagen, sie für etwas anderes als unnahbar zu halten. Die vertrauliche Gemeinschaft nicht nur im Ausland, sondern auch innerhalb einer für beide fremdartigen Gesellschaft, änderte die Lage indessen völlig und ermutigte zum Ungewöhnlichen, ja Abenteuerlichen. Erich überließ sich zum erstenmal ganz einem Gefühl; er wußte, daß die, welche es ihm einflößte, so schnell, wie sie in seinem Leben aufgetaucht, wieder verschwinden würde, und dies bewirkte, daß die ganze Leidenschaft, deren er fähig war, die aber sonst nicht auf der Gefühlsseite lag, plötzlich hierher übersprang und sein Wesen durchaus zu verändern schien. Er lernte nun die tiefen Melancholien und die plötzlichen Entzückungen der Liebenden kennen, die Blicke, die wie ein Sonnenstrahl die ganze Welt plötzlich verwandeln, und die Düfte, die Ewigkeitsschauer auszulösen scheinen. Er fühlte sich als die eine Hälfte der Welt und Espérance als die andere, und nur, wenn sie allein zusammen waren, schien ihm die Welt ganz. War er einsam, so mußte ihm ein entwendeter Handschuh, den er an das Gesicht drückte, die fehlende Hälfte seines Lebens ersetzen; hörte er in Gesellschaft den so ungemein persönlichen, dunklen Klang ihrer Stimme, dann erzitterte er oft bei dem Gedanken, mit wie dünnen Fäden er sie hielt. Was war das nur? Sein Leben, das er vor aller äußeren Beeinträchtigung hatte wahren wollen, um ihm eine besondere und große Gestalt zu geben, er hatte es nun rückhaltlos auf eine Karte gesetzt, und er dachte nicht daran, daß sie vielleicht verlor. War er sich ganz entfremdet worden, oder aber fand er in diesen Gefühlen jetzt erst seine wahres Selbst? Aber wozu fragen und grübeln? Eine Strömung trug ihn dahin, ebenso mächtig wie sanft, und er erkannte Schicksal und Erlebnis als Eines. Zum erstenmal fühlte er auch ganz nah und wirklich einen andern Menschen und schaute in dessen Inneres hinein, und die Tiefe, in die er da blickte, schien ihm dieselbe, in die er nun durch sein eigenes Inneres schaute: der Abgrund der Welt selber. Das Ich wurde dort hinuntergeworfen, aber doch ist es noch da, reicher und ganzer als bisher. War er wirklich so hochmütig, kalt, »egozentrisch«, wie die Menschen glaubten? Er lächelte.

Das einzige, was Espérance an ihrem jungen Freund mißbilligte, war, daß er seinen ursprünglichen Ehrgeiz aufgegeben hatte und nun ein Geschäftsmann werden wollte. Zwar war ihr noch nicht beigekommen, tief über das Wesen der Staatsmannschaft nachzusinnen, aber sie hatte doch schon oft Minister gesehen, bald in Hofuniform mit Stern und Ordensband, bald vor dem Parlament, das tun mußte, wie sie wollten. Sie ahnte auch dunkel, daß sie gescheiter waren, als der ganze Hof, ja vielleicht sogar gescheiter, als der König. Wie konnte nur Erich eine solche Zukunft aufgeben, wo er doch dazu wie geschaffen war mit seiner großen Gestalt und dem scharf geschnittenen, etwas fremdartig brünetten Gesicht? Wenn man sich sein dunkles Haar in späteren Jahren gar etwas grau meliert vorstellte, dann war er geradezu das Muster eines großen Staatsmannes. Ein großer Bankier dagegen ist dick und rundlich, hat eine Glatze und einen Vollbart, gebärdet sich zwar manchmal galant, aber seine Witze sind oft peinlich, kurz, nichts für eine richtige Frau; nein, so durfte Erich nicht werden. Man sieht, Espérance hatte nicht ohne Nutzen die Pariser Gesellschaft besucht, sie kannte nun die Welt.

Eines Nachts, während eines verschwiegenen Soupers, fragte sie ihn, ob er nicht versuchen könne, das, was ihm in Preußen unmöglich schien, in Harringen zu erreichen. Dieses Wort traf Erich wie einen im Dunkel ringenden Frommen die Stimme eines Engels. Er sprang auf, bedeckte Espérance mit Küssen, dann kniete er vor ihr, ihre beiden Hände an seine Stirn drückend. Espérancens Worte waren die Lösung eines Zwiespalts, den er, solange ihr Glück blühte, nicht recht ins Bewußtsein hatte kommen lassen, der ihn aber doch heimlich die ganze Zeit gequält. Er wußte, daß Graf Arthurs Ankunft täglich näher heranrückte und Espérance dann Paris für immer verließ. Wenn er aber in Harringen seine Rechtsstudien wieder aufnahm und dort in den Staatsdienst trat, dann konnte er ihr immer nahe sein und zugleich sein aufgegebenes Ideal wieder ergreifen. Oh, Espérance war sein guter Engel! Er sagte es ihr, und sie fand, daß er recht hatte. Sie besaß enge Beziehungen zum königlichen Haus und würde schon dafür sorgen, daß man Erich oben bemerkte.

»Aber nicht zu bald,« sagte er, lächelnd in ihre Kinderaugen blickend, während ihm vor Erregung über sein plötzlich erschautes Lebensschicksal fast das Herz zersprang, »erst will ich doch etwas leisten; wenn du mir dann die notwendigen Beziehungen vermitteln willst ... «

Das verstand Espérance nicht recht, aber die Männer haben offenbar ihre eigene, sonderbare Art. Alles fangen sie beim andern Ende an. Nun, sie würde da schon helfen, die gesellschaftlichen Verhältnisse kannte sie besser, als er mit all seiner Gescheitheit, und mit freudiger Überraschung merkte sie nun, wie wertvoll diese Kenntnis war. Oh, Erich mußte überhaupt noch manches lernen. So wie er sich in Saint-Mandé benahm, erwog sie plötzlich mit Ernst, durfte der künftige Staatsmann in Rolfsburg doch nicht auftreten, aber es war nicht nötig, hier in Paris davon zu reden.

Im schwermütigen Schein eines bläulichen Morgengrauens in den ersten Julitagen brachte Erich Espérance zum letzten Mal nach Saint-Mandé zurück. Von der Königin hatte er sich schon am Vorabend verabschiedet. Er und Espérance hatten vermeiden wollen, daß er jetzt mit Graf Arthur zusammentraf, der heute erwartet wurde und morgen mit seiner Frau und dem kleinen Herbert, den eine Kinderfrau in bunt gestickter Nationaltracht mitbrachte, den Kanal überfahren wollte.


 << zurück weiter >>