Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XXXVI

Lange nach Mitternacht war Ferdinand mit einem Angstschrei aus einem Traum erwacht, der in ihm ein Gefühl völliger Verzweiflung zurückließ. Langsam vermochte er sich zu erinnern, was er geträumt hatte: es war in seiner Kindheit, und doch kam er sich erwachsen vor, als der heutige Ferdinand Holthoff. Er befand sich mit seiner Mutter in einem kleinen, grünen Zimmer, das er nun im Wachen sofort als den an ihr Schlafzimmer daheim angrenzenden Toilettenraum erkannte. Die Mutter zankte ihn heftig aus. Er hatte etwas ganz furchtbares begangen und fühlte sich selber tief schuldig, ohne aber zu wissen, was es eigentlich war. Auch im Traum wurde die Schuld nicht ausgesprochen, offenbar war sie überhaupt unaussprechlich und dennoch außer allem Zweifel. Er versuchte gar nicht, sich zu rechtfertigen. Die Strafe bestand darin, daß er, der bisher in einem Bettchen neben der Mutter geschlafen hatte, nun zu der Kindsfrau verbannt wurde, die ihn sofort aus den Händen der Mutter empfing und mit sich führte. Auf einmal war die Kindsfrau zugleich die Hexe in dem Märchen von Hänsel und Gretel. Er wurde bei ihr in einen Käfig gesperrt. Jeden Morgen mußte er nun seinen Finger herausrecken, um zu zeigen ob er schon fett genug sei, aber jedesmal lachte die Alte höhnisch: viel zu klein, noch immer viel zu klein. Da packte ihn die Wut. In der Nacht rüttelte er mit aller Kraft an dem Gitter des Käfigs, so daß er zerbrach und rannte durch einen finsteren Wald, bis er an eine Tür kam. Es war eine ähnliche Tür wie die des Schlafzimmers, aus der ihn die Mutter vertrieben hatte. Das Schlüsselloch erschien ihm ungewöhnlich groß und es stak gerade kein Schlüssel darin. Unter Zittern legte er das Auge an, aber was sah er? Mitten in dem Zimmer befand sich ein rundes steinernes Becken, in dem eine Frau badete. Der Oberkörper ragte über die Flut empor, das Haar erreichte den Rand des Wassers. Unter der durchsichtigen Oberfläche aber setzte sich der Leib in Gestalt eines schuppigen Fischleibs fort, der in einem nach oben gekrümmten Schwanz schrecklich endigte ... Das war ja Melusine ...

Hier erwachte Ferdinand zitternd mit jenem Angstschrei. Nun aber fiel ihm ein, daß es nicht allein dieser Anblick war, der ihn in solche Erregung versetzte. Da war noch jemand in dem Raum gewesen, nicht ganz wirklich, mehr wie ein düsterer Schatten, ein schwarzer Mann mit einem Bart ... Erich, nein unmöglich, Erich hatte ja nie einen Bart getragen ... aber es war doch Erich ... der Indianerblick ... davor hatte er aufgeschrieen.

Ferdinands Glieder bebten wie in einem Schüttelfrost, seine Zähne klapperten. Da stürzte er plötzlich im Nachthemd hinaus auf den Gang, auf dem trübes Licht seinen wankenden Schatten an die weißgetünchte Wand warf. Es trieb ihn zu Melusinens Tür. Wachte er oder war er wieder in den Traum zurückgekehrt? Bebend starrte er auf das Schlüsselloch. Da bemerkte er, daß die Tür nur angelehnt war. Um seinen Mund zuckte es. Mit irrer Hand griff er nach der Klinke. Das Zimmer war leer. Eine furchtbare Ahnung durchfuhr ihn. Wieder stürzte er auf den Gang. Da lag am Boden ein schwarzer Gegenstand ... Melusinens weggeworfener Revolver. Er erkannte ihn sofort. Sie hatte ihn bei ihrer Flucht aus Rußland bei sich gehabt. Plötzlich überkam ihn eine Bewußtseinsklarheit, wie er sie nie gefühlt, als verstehe er mit einem Mal diese ganze dunkle Welt und sich in ihr, ohne zu grübeln und zu denken. Sein verzerrtes Gesicht entspann sich. Er hob den Revolver auf und betrachtete ihn genau, die Sicherung war offen. Nicht einen Augenblick fragte er sich, wie die Waffe hierher kam, sie war einfach da, ganz selbstverständlich wurde sie ihm in diesem Augenblick in die Hand gedrückt. Schon stand er vor dem Zimmer des Bruders. Da hörte er beider Stimmen. Es erstaunte ihn nicht im geringsten, es war ja nur, wie es sein mußte. Er riß die Tür auf.

Das elektrische Licht auf dem Nachttischchen brannte nun unter gelbem Schleier. Erich saß aufgerichtet im Bett, nach der Tür gekehrt, Melusine stand dabei. Sie schienen ihn in voller Ruhe zu erwarten.

»Kain...« schrie Ferdinand, als beschwöre er endlich einen dunklen Zauber durch Aussprechung der bannenden Formel, und er erhob die Waffe.

Erich sprang aus dem Bett, Melusine trat vor ihn mit einem Schrei. Da krachte ein Schuß, ein schauerlicher tierischer Laut erscholl, beide fielen nieder, am Bettrand herabgleitend. Erich saß am Boden, mit dem Rücken gegen das Holz gestützt, den Kopf nach rückwärts übergelehnt, auf der Matraze aufliegend. Der Mund stand offen, Melusine lag stöhnend in seinem Schoß. Ihr sandfarbiges Haar verbreitete sich blutig am Boden. Ferdinand blickte starr auf die Gruppe, die rechte Hand umkrampfte noch die Waffe; ihm war, als befände sich das Zimmer in schwingender Bewegung wie ein Schiff im Sturm.

Der Schuß hatte den Prinzen und das Personal geweckt. In hastig übergeworfenen Gewändern eilten sie herbei. Man fand Melusinen stöhnend und bei Bewußtsein, mit einer heftig blutenden Wunde an der Schulter. Erich schien ohne Leben.

Der Prinz, in großblumigem Seidenschlafrock, den er mit der Linken zusammenhielt, war anfangs ratlos und warf hilfesuchende Blicke auf die herbeigeeilte Frau Betty, die vor Angst Augen und Mund aufsperrte und Unverständliches lallte.

Die beiden Mädchen suchten Melusinens Gewand zu öffnen, um die Wunde freizulegen.

Mit letztem Kraftaufwand brachte sie mühsam das Ohr in Erichs Herzgegend, Spuren seines Lebens suchend.

»Arzt holen, Arzt holen ...« rief sie mit schwacher Stimme den beiden über sie gebeugten Mädchen zu. Das brachte den Prinzen wieder zu sich. Er schickte Cilli hinüber in den andern Flügel, wo der Chauffeur Wildgruber schlief, er solle sofort wegen schweren Unglücksfalles den Bezirksarzt Dr. Entholzer holen.

Inzwischen war Ferdinand mit einem irren Schrei zu Boden gefallen. Niemand achtete seiner. Dem Prinzen gelang es, Melusine sanft von Erich zu lösen, wogegen sie wimmernd, aber kaum mehr Worte findend, Einspruch erhob. Mit Hilfe des Mädchens legte er die Blutende auf eine Ottomane; den leblosen Erich, der nirgends zu bluten schien, hoben sie aufs Bett.

Frau Betty stand noch immer wie angewurzelt, war aber dann doch fähig, dem Mädchen die Schüssel zu halten, das sich daran machte, Melusinens Wunde zu waschen. Indessen öffnete Prinz Amadeus Erichs Kleider. Der Schuß war, nachdem er erst Melusine verletzt hatte, ihm durch die linke Brust gegangen. War er tot? Lebte er?

Amadeus wendete sich nun zu Ferdinand, der auf dem Bauch am Boden lag und, abwechselnd nach den beiden Gruppen lauernd, wie ein Tier leise hin- und herkroch. Als ihn der Prinz sanft anredete, sprang er plötzlich auf die Füße, schaute mit Wahnsinnsblicken im Zimmer herum und schrie:

»Mord ... Mord ... Polizei.«

Er wollte davonrennen.

»Was tun Sie? Wo wollen Sie hin?« rief der Prinz entsetzt.

»Zur Polizei ... ich habe doch gemordet.«

»Aber vielleicht lebt er ...«

»Nein, nein, er kann nicht leben, ich bin sein Mörder, ich muß mich dem Gericht stellen.«

»Aber Sie sind ja gar nicht angekleidet ...«

Ferdinands Blick fiel auf Melusine, die fast ohnmächtig war. Der Prinz hielt ihn zurück.

» Sie lebt ...« hauchte Ferdinand und in seinen irren Augen blitzte es einen Augenblick wie ein listiges Einverständnis mit irgend etwas, das so war, wie es sein sollte. Dann ging er auf sein Zimmer.

Der Prinz setzte sich zu Erich aufs Bett und rief wiederholt seinen Namen. Tränen brachen ihm hervor, als er das strenge Antlitz des Leblosen so starr vor sich sah.

»Lebt er?« rief die wieder zu sich gekommene Melusine, deren Wunde bereits zu bluten aufhörte.

»Ich weiß nicht ... ich weiß nicht,« schluchzte Prinz Amadeus. In diesem Augenblick begann der Wecker, den Erich Holthoff vor dem Schlafengehen auf halb vier Uhr gestellt hatte, sein nervenzerreißendes Gerassel. Erich schlug plötzlich die Augen auf. Der Prinz ergriff die Uhr, dämpfte den Lärm mit der Hand und steckte sie Frau Betty zu, die sie schnell hinausbrachte wie ein schreiendes Kind. Erich war unfähig zu sprechen, aber er drückte dem Prinzen die Hand.

Kurz darauf verließ Ferdinand das Haus, ohne nochmals in dem Zimmer Erichs erschienen zu sein. Er ging die dämmerigen, ihm so wohlbekannten Wege zu dem nahen Dorf. Der blasse Frühlingshimmel erblaute allmählich. Scharen flockiger Lämmerwölkchen zogen hoch dahin, als gäbe es heute nichts anderes auf der Erde, als die Hoffnung eines guten Erntetags. An Gräsern und Zweigen hing der Tau, hie und da von Spinnweben aufgefangen. Ferdinand schaute weg, wenn sein Blick auf solch eine vertraute Einzelheit der Natur fiel, als dürfe er dies alles nun nicht mehr sehen. Da bemerkte er plötzlich, daß ihm Skanny wie ein armer Sünder scheu und leise folgte. Er nahm ihn auf den Arm, streichelte ihm den Kopf und schob ihn in ein Gartenhäuschen.

Er hatte keinen Mantel an und erschauerte in der Kühle. Einen weichen Hut ins Gesicht gedrückt, die Hände in den Hosentaschen, eilte er quer über die feuchte Wiese, um den Weg abzukürzen. Bald begannen die Berge, hinter deren schwarzen Wänden die Sonne aufging, an den Rändern zu erglühen, ein Schauspiel, das er selten im Freien, aber oft von seinem Schlafzimmer aus beobachtet hatte, um sich dann wieder behaglich niederzulegen. Des kommenden Spätsommertages mit seinem Lerchenjubel nicht achtend, ging er auf das schmale Gendarmeriegebäude zu, wo er das letztemal vor nun etwa neun Monaten wegen der Anmeldung des Dr. Schenk zu tun gehabt hatte. Noch waren die Läden geschlossen, auf der traulichen Dorfstraße ging kein Mensch. Ferdinand klopfte an die gelb gestrichene Tür, um den Wachtmeister zu wecken. Es dauerte ziemlich lange, bis ihm geöffnet wurde.


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