Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XXIX

Während dieser Verhandlungen war auch der Obersthofmeister des Prinzen, Graf Bernhard von Twelen, in Floridsburg angekommen, wurde von Espérance begrüßt, und mit ihren übrigen Gästen bekannt gemacht. Er war ein übergroßer, überschlanker hoher Fünfziger mit langem, kahlem Pferdeschädel, glatt rasiertem Gesicht und etwas Backenbart. Dazu hatte er ein hängendes Kinn, wodurch er in unübertroffener Art den Eindruck des Verlänglichten machte. Ursprünglich von seinem Schöpfer als Muskelmensch gedacht, wirkte er jetzt körperlich flach, fast unterernährt. Sein melancholischer Blick verbreitete Entmutigung und schien nie etwas Gutes zu erwarten. Er gehörte einem der ältesten Geschlechter des Landes an, das sich rühmte, länger als die Dynastie einheimisch zu sein. Als Azzo von Twelen, der Großvater des Grafen Bernhard, ein draufgängerischer Kavallerieoffizier, dessen elementarer Fröhlichkeit der König vieles verzieh, bei einem ausgelassenen Jagdessen jene Priorität einmal andeutete, machte der König den einzigen beglaubigten Witz seines Lebens und sagte: »Schon recht, lieber Twelen, aber die Rolfinger haben doch bessere Karriere gemacht.«

Graf Bernhard war nun gerade das Gegenteil seines urwüchsigen Großvaters, streng an der Form klebend, jene historisch gewordene Bemerkung im Grund mißbilligend, aber nichts destoweniger in stetem Gram wegen der schlechten Karriere seiner Familie. Er hatte in der Tat Grund genug zum Kummer, ein kleines Vermögen, sechs – diese Zahl wurde allgemein schwer begriffen – also sechs nicht recht lebenskräftige Kinder, darunter drei aus dem Felde heimgekehrte Offiziere, mehr oder weniger vom Krieg mitgenommen, dazu die Dynastie gestürzt, der die Twelens seit Jahrhunderten treu gedient hatten und die für sie die Quelle alles Segens bedeutete. Noch blieb dem Grafen das Obersthofmeisteramt im Palais des Prinzen, dessen Vermögenslage durch die Revolution indessen sehr verwirrt war. Nur Jahre dauernde, juristische Untersuchungen würden feststellen können, was Krongut, was Privatbesitz der königlichen Familie war. Nie hätte ein echter Harringer je daran gedacht, daß es einmal von Bedeutung werden könne, dies genau auseinander zu halten.

Graf Twelen hatte die gezwungene steife Haltung bedenklicher Menschen mit schlechten Nächten und schwieriger Verdauung, die ihrer stets auszusetzen drohenden Lebensenergie durch täglich neues sich Zusammennehmen nachzuhelfen scheinen. Eigentlich hätte ihm der Holthoffsche Plan Hoffnung geben müssen. Gewiß konnte er mit einem Schlag alles retten, aber auch den letzten Rest von Lebenssicherheit verspielen. Und dann überhaupt dieser Minister Holthoff mit seinen neuen Ideen! Twelen hielt alles Neue für teuflischer Herkunft. Schon das Parlament, welche Beleidigung gegen das göttliche Recht der Könige, deren erhabene Aufgabe, zwischen Gott und den Völkern zu stehen, es doch geradezu unmöglich machte! Diese Auffassung verführte ihn indessen nicht zu übertriebenen Heroismus, der bereit gewesen wäre, das so verehrte Königtum zu retten, vielmehr nur zu einer Hochhaltung der Etikette, die im Exil noch wichtiger sei, als sonst, da sie allein die Fürsten hindere, auf das Niveau von Bürgern ohne Verantwortung herabzusinken. Nichts mißbilligte Twelen daher mehr, als das lässige Behagen, mit dem Prinz Amadeus die Zeit seiner Verbannung im Hause eines dem Hofe gänzlich fernstehenden, bürgerlichen Privatmannes verbrachte, von dem niemand mehr wußte, als daß er der Bruder des im Land fremden, dem Hof niemals recht genehmen Ministers Holthoff sei. Aber, was erlebte man nicht alles! Mit der Einführung der Gasbeleuchtung und Wasserspülung in den königlichen Schlössern Mitte der achtziger Jahre hatte es angefangen, und seitdem war keine Überlieferung mehr vor Neuerungen sicher. Das war nur der Beginn gewesen, und wirklich, allmählich hatte er Elektrizität, Telephon und Automobil über sich ergehen lassen, aber dies schwur er sich täglich: der alle gute Haltung unmöglich machende Klubsessel würde wenigstens in seine Privaträume den Einzug nicht halten. In solchen Kämpfen eines unseligen Zeitalters zehrte er sich auf.

Glücklicherweise stand für ihn die Pflicht seines Dienstes so völlig außer Zweifel, daß er sich nicht einen Augenblick die Möglichkeit vorstellte, sich der ihm von seinem Herrn jeweils zugeteilten Rolle zu entziehen. So blieb seine Abneigung gegen Holthoff Privatsache des Kränkelnden gegenüber dem Gesunden, des Denkungewohnten gegenüber dem überlegenen Kopf, der alles, auch Menschen wie Graf Twelen durchschaute und sie dann an ihrer Stelle gelten ließ.

Die Ankunft des Grafen gab Espérance die erhoffte Gelegenheit, sich vor dem Souper noch eine halbe Stunde mit dem Prinzen allein zurückzuziehen. Sie ließ Graf Bernhard mit Ferdinand und Melusinen im Salon zurück. Diese wußten nun ganz und gar nicht, was sie miteinander anfangen sollten. Melusine war weder gewohnt, noch recht gewillt, in solchen Lagen das ihr zugeworfene »Hölzl« einer gleichgültigen Redensart über die Witterung oder die Schönheit des Ortes aufzunehmen. Sie blätterte lieber in einem Album mit Photographien von Espérancens Mittelmeerreisen, Ferdinand war sehr schlecht aufgelegt. Den ganzen Nachmittag hatte er gehofft, eine Viertelstunde mit Melusinen allein zu plaudern, bald auf einem Parkweg, bald gelegentlich eines Ganges nach den Fremdenzimmern, aber sie hatte das offenbar absichtlich vereitelt.

Graf Twelen fand indessen das erlösende Wort. Er fragte Ferdinand, ob er Schach spiele, und als dieser bejahte, ließen sie sich an einem Tischchen nieder, während sich Melusine mit einer glühenden Zigarette auf ein schon im Schatten liegendes Ecksofa setzte, zu dem Ferdinand öfters unruhig hinüberschielte. Ihre Augen schienen ihm zu glimmen wie die Zigarette. Ferdinands zerstreutes Spiel brachte den Grafen fast zur Verzweiflung.

Inzwischen hatte sich Espérance mit dem Prinzen in einem sechseckigen weißen Boudoir mit gelb bezogenen Louisseizemöbeln niedergelassen. Die Fenster standen offen. Rosenrotes, schlechtes Wetter verkündendes Abendlicht schimmerte um die hohen dunklen Zypressen des Parkes. Aus den rauschenden Laubbäumen hörte man den sägenden Schrei eines abendlichen Vogels. Eine verspätete Biene summte am Fenster und stieß sich an der Scheibe. Espérance fühlte eine ihrem Wesen sonst ganz fremde Schwermut.

»Nun stirbt dieser wunderschöne Tag dahin,« sagte sie, »als ob es unser letzter wäre.«

Plötzlich ergriff sie mit beiden Händen die Rechte des Prinzen und sprach mit großer Wärme:

»Ich bin doch Ihre beste Freundin, Amadeus, vielleicht der einzige wirkliche Freund, den Sie haben. Darum darf ich mir schon eine Frage erlauben: »Haben Sie sich diese Geschichte auch hinreichend überlegt?«

»Vollkommen, liebe Espérance,« erwiderte er freundlich überlegen, ihre Hand an die Lippen führend.

»Ich bin in einer unerträglichen Lage. Sie wissen, wie ich auch mit Holthoff verbunden bin. Wir drei zusammen, das hätte eine Freundschaft für's Leben sein sollen, die mir mehr bedeutet, als vielen Frauen Ehe und Liebe. Aber Holthoff hat dieses Dreieck gesprengt. Er wird zu groß für uns zwei Durchschnittsmenschen. Ich bewundere ihn immer mehr, aber ich kann ihm nicht mehr folgen.«

»Ich verstehe Sie besser, als Sie glauben, liebe Freundin. Ich habe einmal ähnlich gefühlt, wie Sie, als ich ihn nur für besonders begabt und ehrgeizig hielt, aber seit ich weiß, daß da ein wirklich großer Mensch unter uns lebt, habe ich Ehrfurcht vor ihm und folge dem Schicksal, das mich neben ihn gestellt hat.«

Espérance schaute ihn mit großen, erstaunten Augen an. Er fuhr fort:

»Holthoff ist kein Mann wie andere Männer. Mag er einmal ehrgeizig gewesen sein, jedenfalls heute ist er über seinen eigenen Ehrgeiz hinausgewachsen. Er fühlt nur noch seine historische Sendung, er will nur sein Werk vollenden und nichts für sich selbst erreichen. Er ist Herr über seine persönlichen Neigungen und Abneigungen; keine Theorie und kein Glaube kann ihn mehr verwirren. Er ist nur noch Schöpfer, und wenn sein Werk vollendet ist, dann wird er sich ebenso ruhig, wie er heute handelt, niederlegen und sterben ...«

»O das ist wahr, Amadeus, das ist wahr, es hilft mir nichts, daß ich als Frau versuche, ihn ins gewöhnliche Menschenmaß zurückzuziehen; aber sind denn Sie, lieber Freund, dazu berufen, ihm in sein dunkles Schicksal zu folgen?«

»Dunkel?« fragte der Prinz betroffen.

»Ja, es ist dunkel, glauben Sie es mir.«

»O die Astrologie,« scherzte Amadeus.

»Nein, ich brauche nicht die Astrologie, die freilich auch eine baldige Katastrophe für ihn anzeigt; meine weibliche Ahnung allein sagt mir nichts Gutes.«

Sie zog das Taschentuch hervor, um die plötzlich aus ihren Augen fallenden Tränen abzuwischen.

Der Prinz ergriff schweigend ihre Hand.

»Ich denke an Paris zurück,« fuhr sie leise fort, »wo ich ihn vor fast einem viertel Jahrhundert kennengelernt habe. Damals war ich der erste Mensch, der an ihn geglaubt hat, damals ahnte ich nur gutes, und es ist ja auch eingetroffen, und das soll nun das Ende sein?«

»Aber was sind das für schwarze Gedanken, Espérance, viel Gefahr sehe ich in dem Unternehmen wirklich nicht. Wir handeln erst in dem Augenblick, wenn die Verhältnisse reif sind, und sie gehen täglich mehr ihrer Reife entgegen.«

»Ich sehe Sie allerdings weniger gefährdet, als ihn,« erwiderte Espérance, »aber Sie sind ganz von ihm angesteckt, Amadeus, und das macht mir Angst auch um Sie.«

»Ja, angesteckt mögen Sie es nennen, aber nicht von einer Krankheit. Schauen Sie, mein ganzes bisheriges Leben war nur dem Genuß gewidmet, aber jetzt ...«

»Ja, doch einem so edlen Genuß, daß er dem ganzen Land zum Segen wurde. Ihnen verdankt Harringen seine Kunstblüte, ja noch viel mehr. Und nun wollen Sie sich mit der häßlichen Politik abgeben.«

»Von der ich doch nichts verstehe, meinen Sie. Sagen Sie mir ruhig, daß ich politisch eine Null bin. lassen Sie mich deshalb einmal als Schüler Holthoffs sprechen: Der moderne Fürst soll gerade das Zéro zwischen den Nummern des politischen Spieles sein. Jede Partei hat einzeln genommen Unrecht und alle zusammen haben Recht. Darum muß einer da sein, der selber nichts sein will, aber dieses Geheimnis weiß.«

»Also das ist aus dem Königtum von Gottes Gnaden geworden,« spottete Espérance seufzend, »eine Null.«

»So habe ich auch erst gedacht, aber schließlich erkannte ich in diesem Nichts selber eine Möglichkeit des Wirkens, der gegenüber die Könige von Gottes Gnaden arme Marionetten waren, die jeden Augenblick unter ihrem zu schweren Prunk zusammenzubrechen schienen ...«

»Das ist mir zu tief.«

»Ja, dieser Gedanke Holthoffs ist tief, und dennoch entspricht er zugleich meinem einfachen, gesunden Menschenverstand, der nichts anderes zu tun haben wird, als Gegensätze auszugleichen. Nun, dafür kommt mir zugut, daß ich zeitlebens mit allen Schichten verkehrt habe, wie der König meint, sogar mehr als recht ist.«

»Ach, das alles ist ja nur zu wahr, doch glücklicher werden Sie nicht dabei.«

»Aber Espérance, dafür sind wir nicht auf der Welt.«

»Für was denn sonst?« entgegnete sie, den schönen Kopf zurückwerfend, »jeder will doch vor allem andern glücklich sein.«

»Ja, wir alle waren vor dem Krieg von diesem spießbürgerlichen Ideal angesteckt, ich auch, und darum haben jetzt die Massen Oberwasser, die nun auch einmal drankommen und glücklich sein wollen. Sie werden uns bald überfluten, wenn wir uns nicht wieder eines höheren Lebenszwecks erinnern, als das persönliche Glück ist.«

»Und der wäre?« fragte Espérance gespannt.

»Sie wissen doch, welchen Spitznamen man mir im Krieg gegeben hat, weil ich als Kunstmensch es tunlich vermieden habe, die Uniform anzuziehen. Den allerhöchsten Drückeberger nannten mich die Herrn im Großen Hauptquartier. Nun ich verzeihe es ihnen und mir. Ich bin nun einmal kein Soldat und wer will, mag das komisch finden, aber ich bin ein Fürst, Espérance, und wenn ein solcher sich vor der Verantwortung drücken wollte, nachdem er zeitlebens die Vorteile seines Standes genossen hat, dann, liebe Freundin, – verzeihen Sie das Wort – ist er einfach ein Schwein, wie ein Berufsoffizier, der sich bei Ausbruch des Krieges pensionieren läßt. Es hat solche Friedenssoldaten gegeben. Wir Fürsten haben die Pflicht, das Land zu schirmen, wie unsere Vorfahren getan. Vielleicht geht es mit uns allen zu Ende, aber der letzte Trumpf muß ausgespielt werden. Ich habe nicht zu fragen, warum ihn der liebe Gott in meine Hand gegeben hat.«

»Schön, doch das alles wäre eher die Pflicht der Jugend. Sie haben einen mündigen Sohn, Amadeus.«

»Joseph Viktor ist zu jung, um in einem solchen Augenblick die Aufgabe zu übernehmen, vor allem hat er die denkbar schlechteste Erziehung für einen modernen Fürsten bekommen: vier Jahre Krieg, und gerade in einer Zeit, wo einer was tüchtiges lernen sollte. Außerdem kann er noch nicht die Einsicht haben, Holthoff gegen die Partei- und Hofintrigen zu stützen, die sofort beginnen werden. Wenn es meinem Wunsch nach geht, werde ich die Krone nie selber tragen, dann lebt der arme Xaverl noch so lange, daß ich bei seinem Tod als Regent zurücktreten und dann mein Sohn gleich sein Nachfolger werden kann. Bis dahin werden die Zeiten ruhiger sein und Joseph Viktor wird noch mancherlei gelernt haben.«

Espérance versuchte einen letzten schwachen Angriff, an dessen Wirksamkeit sie aber selbst nicht glauben mochte:

»Das wäre ja alles ganz richtig, wenn dieses Volk ein solches Opfer überhaupt verdiente, aber nachdem es in so empörendem Undank die fast tausendjährige Dynastie ...«

»O das ist kein Grund, Espérance, seinen Posten zu verlassen,« unterbrach der Prinz, »man hat dieses friedliche, herzhafte Volk, ohne es zu fragen, in die Schützengräben gezwungen, die Verleugnung all seiner guten Eigenschaften plötzlich zur Pflicht gemacht und seine früher durch das Gesetz niedergehaltene primitive Rauflust über Nacht zur Tugend erklärt, angefeuert und belohnt, ihm Unmenschliches erlaubt und Unmenschliches von ihm verlangt. Ist es da ein Wunder, wenn es eine Zeit dauert, bis es seine Menschlichkeit wiederfindet?«

»Ich sehe,« sagte sie resigniert, »ich komme als Frau nicht gegen Sie beide auf, aber wenn Sie ihm durchaus folgen müssen, dann vergessen Sie wenigstens ihre einsame, alte Freundin nicht.«

Sie lehnte sich schweigend in ihren Sessel zurück. Amadeus war tief bewegt. Er ergriff ihre beiden Hände und küßte sie, dann aber faßte er sich schnell, und indem er sich zu seiner gewohnten Heiterkeit zwang, sagte er lächelnd in dem anmutigen Raum umherblickend:

»Wie glücklich bin ich, daß ich mich zur Erholung immer wieder in diesen letzten Schlupfwinkel des ancien régime werde zurückziehen können.«

Während beide schwiegen, bebte ein feiner Ton in einem Wandschrank, ein altes Glas zersprang.

Bald darauf erschien Holthoff, um dem Prinzen das Ergebnis seiner Besprechung mit den Offizieren mitzuteilen, dann gingen beide Männer zu jenen hinüber in das Schreibzimmer. Espérance begab sich in den Salon, um Melusinen zu sagen, daß es höchste Zeit sei, wenn sie sich umkleiden wollten. Jene hockte gleich einer Wildkatze in der dämmrigen Ecke und hatte eine Zigarette an der andern angezündet.

Die beiden düsteren Schachspieler setzten, allein geblieben, ihre Partie fort, bis Holthoff und die Offiziere sie durch den Eintritt in den Salon unterbrachen.

Der Prinz ließ Graf Twelen zu einer Besprechung in das Schreibzimmer bitten und eröffnete ihm, daß er im Fall der Übernahme der Regentschaft nur offiziell in der Residenz anwesend sein werde, im übrigen aber wieder sein altes, ihm ans Herz gewachsene Palais bewohnen wolle. Während beide zu den andern in den Salon gingen, sagte Prinz Amadeus scherzend:

»Ich werde jeden Morgen zum Regieren auf mein Büro in die Residenz gehen und zum Mittagessen nach Hause kommen.«

Kurz darauf erschienen Espérance und Melusine wieder, nach Vereinbarung nur in sommerlicher Straßenkleidung.

Koloman entsann sich, ohne daß ihn jemand daran erinnert hätte, noch sehr wohl aus alten besseren Tagen der Etikette und meldete, statt wie sonst der Hausfrau, mit tiefer Verbeugung dem Prinzen, daß serviert sei. Dieser nahm Espérancens Arm, während General Sobern glücklich war, die berühmte Künstlerin führen zu dürfen.

Die Tafel schmückten in großer Fülle Espérancens Lieblingsblumen, rötlich angehauchte Teerosen, die sie selber züchtete. Das Tischgespräch floß heiter dahin, da Holthoffs Unterhaltungsgabe in General Sobern einen bereitwilligen Partner fand. Erich stellte sich sofort auf dessen Generation ein, indem er die Rede auf den Berliner Hof zur Zeit Wilhelms I. brachte, bei dem Sobern als junger Offizier und Militärattaché der Harringenschen Gesandtschaft beliebt gewesen war. Sobern erzählte sehr unterhaltend von Potsdamer und Babelsberger Fêten, von Bismarck und seinen Schwierigkeiten mit der Frankreich freundlichen Kaiserin Augusta und der England freundlichen Kronprinzessin Friedrich. Graf Twelen warf eine Bemerkung ein über die imponierende Einfachheit der damaligen preußischen Hofhaltung, die ihn geradezu gerührt habe, womit er aber nicht gesagt haben wollte, daß er nicht Glanz und Prunk zur gegebenen Zeit ebenfalls für angezeigt halte. Auch Oberst Katzlinger, ein Verehrer Preußens, besonders Ziethens und Blüchers, interessierte dieses von Holthoff geschickt geleitete Gespräch, so daß er es als alter Soldat vor sich verantworten konnte, in ernster Zeit zwischen Damen, Blumen, Kunstmenschen und einem halben Sozialdemokraten zu sitzen.

Später weilte man bei erfrischendem Getränk wieder im Salon, während die immer schwüler werdende Sommernacht über Blüten durch die weit offenen Fenster hereinflutete. Draußen vernahm man bisweilen den Schrei der Käuzchen. Espérance war daran gewöhnt und fürchtete ihn nicht, aber mit Unbehagen vernahm ihn der schweigsam-nervöse Ferdinand. Dann erinnerte man sich der Stradivariusgeige, auf der besonders der General eindringlich Melusinen zu spielen bat. Sie fand unter den Noten eine Tschaikowskysche Komposition, die sie voll tiefer Schwermut vortrug, während die Begleitung Ferdinands, im Gegensatz zu seiner sonstigen Diskretion, von der Leidenschaftlichkeit des Stückes hingerissen, fast etwas zu stark vordrang. Alle waren von dem Spiel erschüttert, während Oberst Katzlinger leise das Futteral mit seiner Nahbrille aus der Tasche zog und diese umständlich aufsetzte, um den Aufdruck auf dem Bändchen seiner dicken Zigarre genau lesen zu können.

Als sich Espérance an diesem Abend in ihr Schlafzimmer zurückzog, nahm sie ein dickes Buch hervor, in das ihr jenes mathematisch so unglaublich begabte Fräulein Hasenöhrl die Horoskope ihrer Freunde, Feinde, Bediensteten, Vertrauensleute, sowie hervorragender Personen der Zeitgeschichte einzutragen pflegte. Der Prinz hatte eine freundliche, gut ausgeglichene, nicht eben bedeutende Nativität, die ein im Ganzen friedliches Leben, hohe Stellung und einen natürlichen Tod versprach. Holthoffs Horoskop zeigte abwechselnd hohen Aufstieg und Sturz. Die Sonne war durch Saturn und Uranus bedroht, und bald würde der heftige Mars über sie hinweggehen. Espérance kombinierte erregt, ein bolschewistisches Attentat werde vielleicht seine Pläne vereiteln, aber da kam ihm eine Hilfe, offenbar von einer Frau. Die Frage war, ob sie stark genug sein würde: Venus und Mond, wenn auch nicht ganz günstig zueinander gestellt, blickten die Sonne freundlich an. War damit sie oder Melusine gemeint, oder beide zugleich?

Unter solchen Gedanken ließ sie sich entkleiden und bestieg kummervoll ihr mit gebräunten Putten bemaltes, breites Rokokobett, dem der Schlummer in dieser Nacht lange fernblieb. Gegen morgen erhob sie sich und kniete lange vor dem vom Papst geweihten Elfenbeinkruzifix über dem muschelförmigen Weihbrunn aus rosigem Marmor, und dann fand sie endlich Schlaf.


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