Oscar A. H. Schmitz
Melusine
Oscar A. H. Schmitz

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XXXIX

Sein Betragen galt für musterhaft. Pünktlich reinigte er die Zelle. Andeutungen des pfiffig dreinschauenden, stets etwas alkoholisch duftenden Wärters, eines Mannes mit buschigem Vollbart und behaarten Ohren, daß ein besserer Herr sich von dieser Verpflichtung in der Untersuchungshaft leicht befreien könne, lehnte er ab. Das Essen ließ er sich aus dem Gasthaus kommen, aß indessen wenig und überließ den Rest dem Wärter, auf dessen Versuche zu jovialen Gesprächen er nicht einging.

Schon am ersten Abend in der Dämmerung besuchte ihn der Anstaltsgeistliche, ein älterer schwerfälliger Mann mit müden Zügen. Das graue, etwas in die Stirn gekämmte Haar wirkte fast wie sogenannte Simpelfransen. Er nahm Ferdinand gegenüber am Tisch Platz und begann trocken.

»Sie sind Katholik?«

»Ja.«

»Sie haben sich selbst angezeigt. Dann fühlen Sie gewiß das Bedürfnis zu beichten?«

»Ich habe nichts weiter zu beichten, als daß ich ein Brudermörder bin, und dafür verlange ich die Todesstrafe.«

»Nicht doch, nicht doch ...« erwiderte der Priester, ein nach Österreich verschlagener Westfale, fast erschrocken, »Sie müssen bei der Wahrheit bleiben. Auch die übertriebene Selbstanklage ist Unwahrheit und darum Sünde. Vor allem sind Sie kein Mörder, denn ihr Bruder lebt, ich habe eben am Telephon mit dem Primararzt gesprochen; er sieht im Augenblick keine Gefahr, und selbst wenn er stürbe, dann wären Sie höchstens ein Totschläger, denn Sie haben nicht vorsätzlich getötet, sondern in der Erregung der Eifersucht. Das ist gewiß eine schwere Sünde, aber Mord ist es nicht.«

»Ew. Hochwürden befinden sich im Irrtum,« erwiderte Ferdinand fast scharf, »ich habe nicht aus Eifersucht getötet. Dazu fehlten alle Voraussetzungen. Vielmehr habe ich seit frühester Kindheit meinen Bruder gehaßt und seinen Tod gewünscht. Nur Feigheit hat mich bisher an der Tat gehindert, und nun ist sie endlich vollbracht.«

»Aber Gottes Gnade hat Ihren Bruder am Leben gehalten. Gott wollte nicht, daß Sie ein Mörder würden.«

»Das ist mir ganz gleich,« erwiderte Ferdinand eisig, »das mag Gott halten wie er will. An meiner Tat wird dadurch nichts geändert.«

»Wie?« rief der Priester, der in seiner Anstaltspraxis schon mancherlei Unbegreifliches gehört hatte, erstaunt, »das ist Ihnen gleich? Ja bereuen Sie denn nicht?«

»Ja, ich bereue, daß ich ein ganzes Leben in Lüge verbracht habe, als sei ich Abel. Nun aber kommt alles ins Gleichgewicht. Ich bin Kain

»Das nennen Sie das Gleichgewicht,« sagte der Priester, ihn fest anschauend, »wenn Kain den Abel tötet?«

»Ja, so ist es immer gewesen, Kain muß den Abel töten, aber er darf sich nicht einbilden, er sei Abel. Wenn auch jetzt das Gleichgewicht noch nicht hergestellt ist, so wird es das durch meine Strafe ... ich versuche ja nicht, mich rein zu waschen ... was ich getan habe, ist eine schwere Sünde und ich will sie büßen ... keine mildernden Umstände haben. Das ist das Gleichgewicht, aber bereuen kann ich nicht, ich mußte so handeln, um endlich ich selbst zu werden ... Kain ...«

»Mir scheint,« sagte der alte Mann traurig, »Sie sind einer von den modernen Menschen, deren Gefühle besser sind als ihre Gedanken. Ihr Herz ist unverdorben und das sagt Ihnen, daß Sie schwer gesündigt haben und dafür büßen müssen. Das ist christlich und nichts anderes als Reue, was auch Ihr Verstand sich dazu für Theorien ausdenken mag ... Ich kann nicht mit Ihnen disputieren, dazu ist mein einfacher Verstand nicht fähig und mein Kopf zu alt. Ich habe auch nichts von den modernen Philosophen gelesen, von Nietzsche und diesem gefährlichen Russen ... nein, nicht Tolstoi meine ich, den andern ... nun, es ist ja gleich, wie er heißt, aber eines, mein lieber Herr, kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, weil ich die Heilige Schrift kenne und das Leben: Das, was Sie da von Kain und Abel sagen, das ist ein glatter Unsinn. Das ist eine alte Geschichte aus grauer Vergangenheit, die schlagen Sie sich nur aus dem Kopf. Sie haben nichts mit Abel zu tun und nichts mit Kain, und Ihr Bruder auch nicht. Wenn er vielleicht böse zu Ihnen war, dann verzeihen Sie ihm, und er wird Ihnen verzeihen, dann ist das innere Gleichgewicht wieder hergestellt, und für das äußere lassen Sie die irdische Gerechtigkeit sorgen. Findet sie in Ihrer Tat mildernde Umstände, dann danken Sie Gott und greifen Sie ihr nicht trotzig in den Arm.«

Ferdinand schwieg. Nach einer Weile, während die Dämmerung sich in die enge Zelle senkte, fragte der Priester väterlich:

»Wenn Sie das einsehen wollten, dann könnte ich Sie absolvieren und Ihnen die Heilige Kommunion reichen.«

Ferdinand fühlte, wie ein Strom weicher Gefühle in ihm aufstieg. Die Heilige Kommunion! Das war ihm einst als etwas Wunderbares erschienen. Als er sie, ein halbes Kind, zum erstenmal nahm, war die Mutter mitgegangen und hatte ihn in seinem neuen, etwas unbequemen schwarzen Anzug an der Hand geführt. Aus seiner ganzen Jugend erinnerte er sich keines so seligen Tages, an dem die Mutter ihm allein gehörte, sich ganz ihm widmete. An jenem Tage galt nur er, Erich war durchaus in den Hintergrund getreten. Aber gerade, weil das einmal so gewesen war, und weil alle die späteren Gänge zum Altar jenes Charakters besonderer Liebe entbehrten – meist war er sogar mit Erich zusammen gegangen, der das Heilige mit derselben unerschütterlichen Sicherheit tat wie das Weltliche – verlor das Sakrament allmählich ganz jene große Bedeutung für ihn. Seit dem Verlassen der Schule hatte er es überhaupt nicht mehr genommen. Auf die unverhoffte Frage des Priesters aber trat die Erinnerung an jene erste Kommunion so mächtig in sein Gedächtnis, daß er auf die wiederholte Frage, ob er kommunizieren wolle, ganz plötzlich mit Ja antwortete.

Er blieb in tiefer Erregung zurück. Die Starrheit, die ihn seit seiner Tat erfaßt hatte, war von ihm genommen, und mehr noch, eine kaum wahrgenommene, weil tief in seinem Innersten verborgene andere Starrheit, die sein ganzes Leben heimlich gehemmt hatte, begann sich zu lösen.

Von den Gängen hörte man die Geräusche des sich zur Ruhe rüstenden Hauses: vereinzelte rohe Stimmen, die weithin über die Steinfließen hallten, Rasseln von Schlüsselbünden, zugeschlagene Türen, nahe, fern, ganz ferne. Dann wurde es so plötzlich still, daß die Stille geradezu unheimlich wirkte. Ferdinand entkleidete sich und bestieg zum erstenmal das Lager seiner Gefangenschaft.

Hatte er sich eben wieder zum Glauben seiner Kindheit bekehrt? Das hätte er so wenig zu sagen vermocht, wie er je in seinem Leben gewußt, ob er ihn eigentlich verloren hatte oder nicht. In die Kirche war er zwar nicht mehr gegangen, aber eigentlich hatte er doch das Band mit dem Ewigen niemals wirklich verleugnet, das er als Kind so tief gespürt. Freilich vermischten sich seine heiligen Gefühle immer kindlich verworren mit den weltlichen Trieben, den edlen zu der Mutter und den gemeinen einer heimlichen Eifersucht auf den Bruder, mit seinem künstlerischen Treiben, das den Sinn der sichtbaren Dinge suchte, und zuletzt ... ja zuletzt mit seiner Liebe zu Melusinen, diesem Geheimnis der Geheimnisse. Hinter solchem richtunglosen Leben war wohl das Heilige immer mehr seiner Aufmerksamkeit entschwunden, aber dunkel gefühlt hatte er es immer, und nun, da er den weltlichen Trieben bis ans furchtbare Ende gefolgt war, trat dieser Priester herein, knüpfte den Faden seines Lebens wieder an, wo er ihn vor langen, langen Jahren fallen gelassen, indem er ihm die Kommunion verhieß, die alles wieder herstellen sollte, und jetzt war er ein Erwachsener von vieler und trauriger Erfahrung, der Heilig und Weltlich zu unterscheiden verstand.

Der Priester hatte ihm ein schwarz gebundenes Buch zurückgelassen. Er schlug es auf und las im Bette liegend mühsam im Zwielicht einige besonders groß gedruckte Worte, die ihm unendlich Vertrautes aus jenen Zeiten seiner Kindheit zuzuflüstern schienen. Es waren die Anrufungen der Lauretanischen Litanei, die er als Knabe unzählige Male gedankenlos herunter gebetet und bisweilen auch verlacht hatte, die aber doch, ohne daß er es bis jetzt gewußt, ein inneres Eigentum geworden waren. So konnten sie ihm jetzt Tiefen seiner Seele offenbaren, die jemand, der eine heilige Schrift zum erstenmal als Erwachsener noch so andächtig liest, in ihrem bloßen Wortlaut niemals finden kann. Der Text stand lateinisch und deutsch nebeneinander. Hätte er ihn nicht doch noch halb im Gedächtnis gehabt, es wäre ihm in der eintretenden Dunkelheit unmöglich gewesen, ihn zu lesen. Während er sich halb entsann, halb entzifferte, klang es in seinem Innern wie Orgelmusik:

Mater amabilis – o liebenswerte Mutter
Mater boni consilii – o Mutter des guten Rates
Sedes sapientiae – Sitz der Weisheit
Causa nostrae laetitiae – Ursache unserer Freude.

Er hielt inne, Tränen rannen ihm über die Wangen. Gerade diese Worte schlossen in ihm tief verborgene Gefühle der Liebe auf. Er hatte den ältesten Sohn seiner Mutter töten wollen, dem er so viele Jahre am selben Familientisch zwischen den Eltern gegenüber gesessen war.

Die nächsten Zeilen vermochte er nicht mehr ganz zu erfassen. Nur noch vereinzelte Worte traten aus dem verdämmernden Text hervor:

Rosa mystica – geheimnisvolle Rose
Stella matutina – o Morgenstern.

Dann dachte er: »Erich lebt. Und Melusine gehört nun Erich. So kann die Welt doch wieder ins Gleichgewicht kommen.«

Am andern Morgen betrat Ferdinand mit einigen anderen Gefangenen eine vergitterte Galerie, von der man in eine schmucklose Kapelle blickte, wo von dem alten Geistlichen die Messe zelebriert wurde. Einen Augenblick erschauerte Ferdinand, diesmal in solcher Gesellschaft sich dem Altar zu nähern, aber was schadete das, sie versperrte ihm ja nicht den unmittelbaren Zugang zu dem Sakrament, das sich da unten im Strom der Jahrtausende jetzt wie jeden Tag vollzog, und während er dies Wunder begriff, da wurden in Christo alle diese seine Brüder, die es im Leben der Welt nie hätten werden können, und sein leiblicher Bruder, auf den er die Waffe gerichtet, war nur einer unter ihnen. Als während der Wandlung die Glocken läuteten, fühlte sich Ferdinand befreit von uralten Lasten, die ihm so gewohnt gewesen waren, daß er sie vorher kaum gespürt hatte. Wenn nur Erich am Leben blieb, war alles gut.

Kurz darauf kam der Priester in seine Zelle. Er beichtete, bekannte ohne viel Worte seine aufrichtige Reue und empfing das Abendmahl. Indessen brachte es ihm doch nicht den erwarteten Trost. Wohl hatte er den einst fallen gelassenen Faden seines wahren Lebens wieder aufgenommen, aber da war noch ein gutes Stück weiter zu spinnen, bis er zum Heute reichte.


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