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Schatzkammer der Eremitage

Daß ich die Eremitage wirklich gesehen habe, werde ich nie den Mut haben, zu behaupten: ich bin nur in allen ihren Sälen gewesen. Denn sie wirklich sehen, forschend sehen, eindringlich betrachten, wer vermag das in einem Tage, wer vermag das in einer Woche? Vergessen wir's nicht über dem gleichgebliebenen Namen: die Eremitage, schon vor dem Kriege ein Museum, so groß wie das Louvre oder die von London und Berlin, hat seit der Revolution sich zum Kubus ihrer selbst entfaltet durch die Expropriation des ganzen russischen Kunsteigentums. Man denke sich einmal vergleichsweise aus, die Wiener Galerie hätte mit einem Happ die Liechtensteinische, die Harrachsche, die Czernin-Galerie, alle privaten Wiener Sammlungen und dazu noch alles, was an Kostbarkeiten und Kunstgegenständen sich in den tausend Kirchen und Klöstern Altösterreichs einzeln aufbewahrte, in sich hineingeschluckt – dann ungefähr hätte man eine vage Vorstellung von der phantastischen Erweiterung, die die Eremitage während dieser Zeit dank der kommunistischen Privatenteignung erfahren. Selbstverständlich hat sie ihre Räume gesprengt, sie ist durchgebrochen ins nachbarliche, tausendfenstrige Winterpalais und füllt nun alle Wohnräume, Prunkräume und Empfangssäle der Zarendynastien: man kann, ohne zu übertreiben, ihre Ausdehnung nach Kilometern berechnen, und schon das bloße Durchwandern (geschweige das wirkliche Schauen) bedeutet eine physische Arbeitsleistung.

So habe ich den gütigen Direktor, der mich begleitete, ersucht, mir nur das Allerwichtigste zu zeigen, ich bin bewußt durch vierzig und fünfzig Säle mit geschlossenen Augen gegangen, nur um bei den Rembrandts zu verweilen, denen vielleicht einzig jene vom Haag und von Kassel ebenbürtig sind, und bei den Watteaus und Fragonards, diesen außerhalb von Paris sonst fast Unauffindbaren. Nur Wesentlichstes, bat ich, von dieser Fülle betäubt, wollte ich sehen, nur etwas, das nur hier und nirgends anders zu finden wäre. Und so zeigte man mir das Unvergleichlichste dieser Sammlung, gerade das, was sonst nicht gezeigt wird: die Schatzkammer.

In einem ebenerdigen Saal, unscheinbar seitlich versteckt, eine schwer gepanzerte Tür. Sie ist versiegelt, wir müssen warten, bis einige andere Beamte zur Stelle sind als protokollierende Zeugen, dann erst löst man den magischen Verschluß. Geräuschlos dreht sich eine schwere Tresortür und verschließt sofort wieder den engen Raum. Ein Druck jetzt auf verborgenen Schalter, grell schießt Licht in die Glühbirnen, und Gold funkelt einem in die Augen. Gold, pures, reines Gold, kunstvoll geschmiedete Wucht, jahrhundertealt, jahrtausendealt, aus mythischen Gräbern geholt, aus den Siedlungen der Griechen in der Krim, von den Lagerstätten der Skythen gewonnen, eine Urkunst, deren Zeit und Ursprung man kaum ahnt, nirgends zu sehen als hier in gleicher Fülle und Vollendung. Skythen, Barbaren haben vor mehr als zweitausend Jahren diese Herrlichkeiten gefertigt, und mit leisem Mißtrauen, plump Verzerrtes, ungelenk Barbarisches zu sehen, tritt man an die Schränke und erstaunt: denn hier sind Werke feinsten Filigrans, vielleicht mit glühenden Nadeln in jahrelanger Arbeit gebosselt, Jagddarstellungen von zauberischer dekorativer Kraft, magische Amulette und goldene Totenmasken, geformt über den Antlitzen verstorbener Könige, feinste Proportionen irdischer Gesichter, eine Barbarenkunst, aber nicht minder kunstreich, raffiniert und werktüchtig als die des frühen Mittelalters und nur vielleicht noch den deutschen Goldschmieden, den italienischen Kleinskulptoren der Renaissance vergleichbar. Dazwischen massige Gefäße aus wuchtigem Gold, kaum aufzuheben, so schwer. Sie wurden in der Krim, dem alten Pontus, entdeckt, ohne daß man heute noch den Ursprung der Gruben ahnt, aus denen jene Völker die kostbaren Metalle geholt. Daneben edelsteinbesetzte Kronen, Wehrgehenke, Kämme und Ringe, der phantastischste Reichtum von Völkern, die hordenhaft auf Pferden lebten, in rauchigen Hütten kauerten, aber doch durch alle Dumpfheit der Existenz schon magische Formen der Schönheit erahnten und gestalteten.

Und im Nebenraum, kaum daß das Licht aufbrennt, blitzen Hunderttausende Steine mit: die Juwelenkammer. Türkische Säbel, von der Schneidespitze bis zum Griff überpflastert mit Diamanten, Smaragden, Rubinen, Chrysopasen, die Diademe Katharinas mit gelben Diamanten und riesengroßen weißen, aber die meisten leise farbig unterlegt, so daß, wenn man sie seitlich betrachtet, ein rosa oder ein blauer oder grüner Glanz wie Schmetterlingsschatten über ihnen schwebt; Pferdeschabracken aus kostbaren Stoffen, ganz durchsternt von Juwelen; Dosen, Uhren, Zepter, alle Arten von Spielzeug und Kleinodien und alle, alle märchenhaft übersät von diesen Tausenden unschätzbaren Steinen, für deren jeden einzelnen man ein ganzes russisches Dorf kaufen konnte mit all seinen Bauern als Leibeigenen, all seinen »Seelen«, und genug, in ihrer Gesamtheit noch heute notfalls dieses Riesenreich für Jahre zu ernähren. Und hier, in dieser Schatzkammer, in diesem fürstlichen, überkaiserlichen, also zarischen Palast, in dieser ganzen, aus rasendem Reichtum und wahnsinniger Verschwendung gebauten Stadt begreift man erst die für europäische Begriffe niemals faßbare Gespanntheit zwischen dem einstigen übergangslosen Oben und Unten in Rußland, zwischen der irrwitzigen und gotteslästerlichen Verschwendung der Zaren und jener abgründigen, fast teuflischen Armut der moskowitischen Hungerdörfer. Mit einem Herzriß fühlt man die weltweite Spannung zwischen Reich und Arm, die hier innerhalb von zwei Jahrhunderten sich ins Titanische gereckt. Und man begreift, warum sie so gewaltsam und mit einem so ungeheuren Ruck endlich einmal zerreißen mußte. Immer versteht man die Geschichte eines Volkes wahrhaft nur an Gestalten seines Blutes und in seiner unmittelbaren Gegenwart: und nirgends darum das Organische der russischen Revolution besser als in den Schatzkammern und Prunkpalästen der Zaren, in Zarskoje Selo und im Winterpalast.


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