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Heroismus der Intellektuellen

Dieser Heroismus der russischen Intellektuellen ist es, was mich am meisten in Rußland bewegt und erschüttert hat. Ein Proletariat, eine geknechtete Bauernschaft von hundertvierzig Millionen ist aufgestiegen zur Macht, hat sich erhöht und befreit. Dieses leidenswillige und fast leidensfreudige Volk hat Entbehrungen unvergleichlicher Art auf sich genommen, Notdurft und Mühsal ohne Ende, aber selbst, wo es heute noch eingeschränkt ist und entbehrt, wird es immer doch gestählt durch das Gefühl seines Aufstieges in höhere Lebenskreise, durch das triumphale Bewußtsein seines proletarischen Sieges. Die Intellektuellen aber, sie sind nicht aufgestiegen in ihren Lebensformen und nicht in eine höhere Freiheit hinein, sondern eher zurückgeworfen in dumpfere, drückendere Daseinsbedingungen, in ein engeres Maß an räumlicher und seelischer Freiheit. Sie zahlen noch immer am vollsten und vielleicht am unbedanktesten den bitteren Zoll dieses Übergangs. Darin liegt an sich keine böswillige Absicht der Regierung, nur ganz naturhaft haben die Verhältnisse sich gegen sie am härtesten gewandt. Sie haben ihnen, die Raum und Ruhe um sich ebenso notwendig wie Nahrung brauchen, eine Geißel erfunden, die wir in den Nachkriegsjahren selber im Fleische gefühlt haben, die Wohnungsnot. Aber hier ist sie nicht Geißel mehr, sondern dreimal geknotete Knute, diese für unsere europäischen Begriffe unerträgliche Wohnungsnot, die den Menscheninhalt eines Waggons in eine mittlere Wohnung hineinpfercht. Fünf Familien an einem Herde und mit einem Klosett sind keine Seltenheit, ein einziges abgesondertes Zimmer und Küche für eine vierköpfige Familie schon ein beneideter Glücksfall. Was Wien in den schweren Jahren bereits als Hölle empfand, wäre hier noch Fegefeuer und für manche fast Paradies. Denn dieses Moskau wächst mit diabolischer Geschwindigkeit; zur Hauptstadt des Hundertvierzigmillionenreiches plötzlich ernannt, vollgedrängt mit Ämtern und dabei gehemmt in seinen Bauarbeiten, preßt die überpferchte Hauptstadt (schon vorher unkomfortabel und unhygienisch in ihren Unterkünften) nun ihre Menschen grausam nahe zusammen, und ganz besonders furchtbar lastet natürlich dieser Druck auf jenen, die für ihre geistige Tätigkeit Raum und Absonderung wie Sauerstoff nötig haben: auf den Intellektuellen. Aber bewundernswert der Gleichmut und die Gelassenheit, mit der all diese Menschen dieses Eingekeiltsein ertragen, noch immer nicht genug bewundert diese unbeschreibliche russische Geduld, die von der Scholle des Volkes bis in die feinsten Verästelungen ihrer geistigen Blüte, bis zu den Intellektuellen und Künstlern kraftwaltend emporsteigt. Ich besuchte einen großen Gelehrten im einzigen Zimmer, das, neben einem zweiten winzigen Räumchen ohne Küche, er und seine Familie zu viert bewohnen, also Arbeitszimmer, Speisezimmer, Wohnzimmer und Schlafzimmer in einem, und als ich unwillkürlich betroffen mit dem Blick diese Enge nachmaß, lächelte er das alltröstende »Nitschewo«, »Es macht nichts«, dies sieghafte »Man gewöhnt sich daran«. »Wir sind wenigstens durch einen Holzverschlag von unseren Nachbarn abgesondert.« Schon dies zählt als ein Glück, ein paar Kubikmeter abgesonderter Luft mit den Seinen atmen zu dürfen. Oder ein anderes Beispiel: Ich besuchte Eisenstein, den heute weltberühmten Regisseur des Potemkin-Films, der mir seine neuen (herrlichen!) Arbeiten zeigen wollte. Dieser Meister, der für das russische Können mehr Propaganda geleistet als hundert Bücher, hat ein einziges Zimmer innerhalb einer Gesamtwohnung, Schlafraum, Atelier, Sekretariat, Speisezimmer in einem: ein Tisch, ein Teebrett, zwei Sessel, eine winzige Waschschüssel, ein Bett, eine Bücherkante. Aber auf dem kleinen Tisch liegen ein Dutzend Telegramme, Angebote auf drei Monate nach Hollywood für dreißigtausend Dollars – und doch, sie lassen sich durch Geld nicht weglocken von ihrer Aufgabe, alle halten sie durch, alle kehren sie wieder aufopferungsvoll nach Rußland zurück, in ihre schweren Lebensbedingungen, schlecht bezahlt, gerade nur das Notdürftigste verdienend und schon empfindungslos für alle kleinen Bequemlichkeiten, die uns, ihren europäischen Brüdern, Selbstverständlichkeiten sind. Das ist der großartige Heroismus der russischen Intellektuellen von heute, daß sie, nicht genug gewürdigt, nicht genug gerühmt – weder im eigenen Land noch bei uns – ausharren, weil sie es für ehrlos halten, ihren Posten zu verlassen um besserer Verdienstmöglichkeiten in Europa willen, und dies nur aus dem stolzen Gefühl sittlicher Verpflichtung, aus dem Bewußtsein, daß nichts heute Rußland, dem jetzt Helligkeit und Heiterkeit fehlt, so notwendig ist wie gute Universitäten, gute Schulen und Museen, eine vollendete und volksmäßige Kunst. Und wenn dieses ungeheuerste soziale Experiment, das Rußland unternommen hat und zum Staunen der übrigen Welt jetzt schon durch zehn Jahre allein gegen diese andere Welt durchhält, nicht gescheitert ist, so dankt es dies (man begreift es hier) nur dreierlei: der unerhörten, harten fanatischen Energie seiner Diktatoren, der unvergleichlichen Willigkeit und Geduldkraft dieses leidensgewohntesten aller Völker und nicht zuletzt dem Idealismus und der Aufopferungsfähigkeit der so oft als bürgerlich geschmähten, als zu lau und zu unpolitisch geringgeschätzten russischen Intellektuellen.


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