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Auch Gorki, der sinnlichste Repräsentant des aus der eigenen Volkstiefe emporgestiegenen Rußlands, hat es als seine Pflicht empfunden, während einer so welthistorischen Entwicklung nicht dauernd fern vom Vaterland zu sein. Zwar drängten ihn heftig die Ärzte, nicht den heilkräftigen italienischen Süden zu verlassen und seine labile Gesundheit nicht dem nordischen Klima auszusetzten, aber er ist doch in seine Heimat zurückgekehrt, und zwar gleich zu einer Zehntausend-Kilometer-Reise quer durch das ganze Land. Leider hatten die Ärzte recht behalten: ein Rückfall warf ihn auf das Krankenlager zurück, und so fehlte er bei der Feier und war unauffindbar, unerreichbar. Schon machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, Rußland verlassen zu müssen, ohne seinen großen Dichter gesehen zu haben, ohne dem Menschen danken zu können, dem ich persönlich für manches private und öffentliche Wort verpflichtet war, als man mir endlich verriet, daß er in Moskau selbst verborgen sei. Und noch am selben Abend durfte ich ihn sehen.
Sein Gesicht überrascht, gerade weil man es von Photographien her zu kennen glaubt. Aber alle, die ich gesehen habe, verschatten es merkwürdig ins Düstere, lassen es hart erscheinen, bitter und vergrämt, indes gerade die Helligkeit der erste Eindruck seines Antlitzes ist. Kurzgeschorenes, strohblondes Haar, blasse Brauen über lichtgrauen Augen, ein gelber buschiger Schnurrbart; das Antlitz eines klugen, slawischen Bauern, eines gescheiten Handwerkers, geistig leuchtend und dabei warm und hell wie frischgebackenes Brot. Besonderheit darin nur der stark vorgebaute, hart gemeißelte Stirnbogen; durch diesen vorgetürmten Block bekommt sein Blick Gewalt aus einer Tiefe, eine prachtvolle eindringliche Konzentriertheit. Diese Konzentriertheit, diese sachliche feste Ruhe lebt in jedem seiner mündlichen Worte genau wie in seiner Schreibart – mit ein paar Sätzen rückt er jeden Gegenstand fest und klar ins Licht. Er übertreibt nicht, er passioniert sich nicht; darum haben seine Worte genau wie seine Werke den Wert unbestechlicher und unbezweifelbarer Zeugenschaft. Was ihn nach seiner Rückkehr nach vier oder fünf Jahren am meisten an dem neuen Rußland frappiert, ist das gleiche, was auch uns Fremde so sympathisch bei diesem Volk berührt: die plötzlich aufgebrochene stürmische Gier nach Bildung bis in die untersten Klassen hinein, die Passion für das Schöpferische. Jahrhunderte war hier eines der begabtesten und aufgewecktesten Völker durch den Zarismus und die ihm gefällige Kirche gewaltsam verdumpft und von allen Bildungsmöglichkeiten abgeschnitten worden (das schwerste Verbrechen, das eine Regierung an ihrem Volk begehen kann). Und mit einem bewundernswerten, rapiden Elan hat die ganze Nation, oder haben vielmehr alle jetzt in der Sowjetrepublik vereinigten Republiken die Gelegenheit benutzt, sich vom Analphabetismus zu befreien. Über Nacht sind in den kaukasischen, georgischen, turkestanischen und sibirischen Gebieten Universitäten entstanden, Zeitschriften, Dichterschulen; bis in die winzigsten Dörfer dringen jetzt, dank einer unablässig hämmernden, zwar politisch gemeinten, aber doch bildungswirkenden Organisation, die neugeschaffenen Bauernzeitungen, die vom Volk selbst geschrieben und redigiert werden. »Sie würden nicht glauben«, erzählt mir Gorki, »was für ausgezeichnete Briefe und Schilderungen in diesen populären Zeitschriften, die das Volk selbst schreibt, zutage treten. In ihnen ist oft mehr darstellende Kraft als in allen schulgemäßen Literaturen, und ich bin selbst mit einer ganzen Reihe dieser Schreiber in Korrespondenz geraten, soviel Anregungen und Kenntnisse haben mir ihre urtümlichen Mitteilungen gegeben.« Selbst er, genau wie Dostojewski und Tolstoi von Jugend an gläubig an das russische Volksgenie, ist dennoch erstaunt über das Tempo dieses Bildungsaufschwunges, den innerhalb von wenigen Jahren die untersten Schichten des russischen Volks genommen haben. Und sein neues Buch, an dem er noch arbeitet, wird nicht Dichtung sein, sondern Darstellung seiner Erlebnisse mit dem Volk bei dieser Wiederbegegnung nach Jahr und Jahren. Und ich glaube, gerade dieses Buch wird für Europa von äußerster Wichtigkeit sein, denn das klare Auge Gorkis ist unbestechlich in Urteil und Erkennen, unfähig zu schmeicheln, unwillig zu lügen. Und wenn dieser wahrhaftige Bildner, dieser warmherzige Kenner seines Volkes dann, trotz allen Einschränkungen, im wesentlichen der Leistung der letzten Jahre zustimmt, sollten immerhin manche vorsichtiger sein, von ferne her und, bloß zweideutigen Nachrichten folgend, all das, was in Rußland im letzten Jahrzehnte geschehen ist, einzig als ein hoffnungsloses Chaos und eine wütige Verblendung zu betrachten.