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Vierzig Schritte sind sie voneinander entfernt, das alte und das neue Heiligtum Moskaus, das Heiligenbild der iberischen Muttergottes und das Grabmal Lenins. Das alte, rauchgeschwärzte Heiligenbild steht unbekümmert wie seit unzähligen Jahren in einer kleinen Kapelle zwischen den beiden Durchgängen des Tores, das zum Roten Platz führt. Unnennbare Scharen pilgerten früher hierher, um einige Minuten andachtsvoll sich vor dem Bildnis hinzuwerfen, ein paar fromme Kerzen anzustecken, ein Gebet zur Wundertätigen zu sprechen. Nun steht nebenan die warnende Inschrift der neuen Regierung: »Religion ist Opium fürs Volk«. Aber doch ist das alte Volksheiligtum unverletzt geblieben, der Zugang jedermann gestattet, und tatsächlich sieht man auch immer einige alte Weiblein auf den Steinen knien oder im Gebet ausgestreckt, – die letzten, die noch alten Herzens und alter Gesinnung der Wundertätigen anhängen.
Einige, aber nicht viele, denn die wahre Menge, die wirkliche Masse pilgert zum neu aufgerichteten Heiligtum, dem Grabmal Lenins. In sechs- oder siebenfach gewundener Schlange stehen die Menschen, Bauern, Soldaten, Volksfrauen, Dorfweiber, ihre Kinder auf dem Arm, Kaufleute, Matrosen, – ein ganzes Volk, hergekommen aus der unendlichen russischen Welt, das seinen vom Schicksal gefällten Führer im künstlichen Schein des Lebens noch einmal sehen will. Geduldig stehen sie, die Hunderte, die Tausende, angereiht vor dem modernen, ein wenig schachtelhaften, sehr einfachen und symmetrischen Bau aus rotem kaukasischem Holz, der selbst völlig schmucklos, nur mit den fünf Buchstaben LENIN bestirnt ist. Und man fühlt, hier wirkt sich dieselbe Frömmigkeit desselben glaubensfanatischen Volkes aus, die sich dort drüben niederwirft vor dem Bildnis der Madonna, nur hat eine geschickte Hand mit energischem Ruck sie vom Religiösen ins Soziale gewandt, – Führerverehrung statt des Heiligendienstes. Aber doch im tiefsten ein und dieselbe und bewußt so gewollt, damit die ungebrochene und unzerbrechliche Glaubenskraft des russischen Volkes vollkommen übergeleitet werde von Symbol zu Symbol, von Christus zu Lenin, vom Volksgott zum Mythos des allein gerechten und herrschenden Gottvolkes.
Man zögert einen Augenblick, ob man wirklich die Stufen mit hinabschreiten soll, denn man weiß, dort unten ruht im gläsernen Sarg, durch neuzeitliche technische Kunst balsamiert, koloriert und so in einer furchtbar täuschenden Scheinlebendigkeit erhalten, die Leiche Lenins. Man fürchtet etwas Mittelalterlich-Byzantinisches einerseits und anderseits etwas an Panoptikum Erinnerndes zu sehen: der Gedanke – ich gestehe es – dieser raffinierten chemischen Lebensimitation eines Gestorbenen als Schaubild war mir gespenstisch. Aber doch, man schließt sich an, tritt schweigend mit Schweigenden die Treppe nieder in die hellerleuchtete, von den Sowjetzeichen überstirnte Krypta, um in langsamem Gang (niemand darf stehen bleiben), den gläsernen Sarg von drei Seiten zu umschreiten. Und so sehr sich noch immer das Gefühl gegen diese Schaustellung wehrt, als gegen etwas gewaltsam Künstliches, das ebenso wie die Ordnung der menschlichen Bedingungen nun auch die der Natur korrigieren will, wird doch der Eindruck, der wirkliche optische. Eindruck grandios. Auf einem roten Kissen, die Decke bis zur Brust hinaufgezogen und darüber die Hände flach hingebreitet, ruht, unverändert wie ein Schlafender, Lenin. Die Augen sind geschlossen, diese kleinen graufeurigen, die man von unzähligen Bildern kennt, der Mund, der einst so redemächtige, liegt in einem ernsten Schweigen, aber noch in seinem Schlafe hat dies Antlitz Gewalt durch die graniten gewölbte Stirn, durch den gesammelten und gefaßten Energieausdruck dieser urrussischen Züge. Gespenstisch drückt geisterhaftes Schweigen im Raum, den die Bauern, die Soldaten, die Mütze in der Hand, mit ihren schweren Stiefeln ganz leise, mit zurückgehaltenem Atem durchschreiten, und noch erschütternder ist der Anblick der Frauen, die mit einem scheuen und ehrfurchtsvollen Blick demütig auf diese phantastische Bahre hinschauen, – großartig und einzig diese tägliche Parade des Schweigens von Tausenden und aber Tausenden, die stundenlang warten, um nur eine Minute lang die Menschengestalt ihres schon mythisch gewordenen Führers und Befreiers zu sehen. Nicht für uns, in denen sich Ästetisches gegen eine solche immer neu polychromierte Totenmaske wehrt, sondern für ein Volk ist diese Schaustellung ersonnen, für ein Volk, das jahrhundertelang glaubte, daß seine Heiligen nicht dem irdischen Gesetz der Verwesung unterworfen seien und daß von der Berührung ihres Leibes Wunder und Zeichen ausgingen; auch hier hat mit ihrem unfehlbaren Instinkt für Massenwirkungen die neue Regierung gerade an das Urälteste und darum Wirksamste im russischen Volkstum angeknüpft. Sie hat sehr richtig gefühlt, daß, gerade weil die marxistische Lehre eine in sich sachliche, unmystische, eine logische und durchaus amusische ist, man sie rechtzeitig in Mythos verwandeln und mit aller Inbrunst des Religiösen erfüllen müsse. So haben sie heute, nach zehn Jahren, aus ihren politischen Führern schon Legenden gestaltet, aus ihren Opfern Märtyrer, aus ihrer Ideologie eine Religion, und vielleicht an keiner Stelle fühlt man diese ihre psychologische Taktik sinnfälliger und siegreicher als an diesen beiden fünfzig Schritte voneinander entfernten und doch durch Geistunendlichkeiten getrennten Pilgerstätten: der Kapelle der iberischen Madonna und der Begräbniskrypta Lenins.