Johanna Zürcher-Siebel
Das Freudengärtlein
Johanna Zürcher-Siebel

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12. Die Wahl

Die Mutter sass am runden Tisch in der Wohnstube und flickte eine kleine Bubenhose. Der achtjährige Richard lag in ihrer Nähe am Boden und liess den Bleistift über einen grossen Bogen Packpapier laufen; der fünfjährige Peter aber stand schon eine Weile untätig in schwerer Nachdenklichkeit am Fenster. Augenscheinlich beschäftigte ihn irgendeine Sorge. Aber die Mutter wusste, dass er nicht gerne in seinen Gedanken gestört war, und so stellte sie keine Frage.

Plötzlich richtete sich Peter aus seiner Versunkenheit empor und kam zur Mutter: «Gell, Mutter», sagte er aufseufzend, «wir sind doch gar keine reichen Leute?» «Nein», bestätigte die Mutter, «wir sind gar nicht reich; aber darum musst du nicht ein so trauriges Gesicht machen; wenn man nur gesund und froh ist und schaffen mag, das ist die Hauptsache!»

Trotz dieser beruhigenden Worte füllten sich Peters braune Augen mit Tränen, und er sagte mit tiefem Vorwurf in dem zitternden Stimmchen: «Aber, Mutter, wenn wir dann nicht reich sind, und ihr doch immer so viele Geschenke kauft zu den Geburtstagen und zu Weihnachten, so vergeudet ihr ja alles Geld, das wir haben, dann werden wir am Ende noch ganz, ganz arm und haben gar nichts mehr!» Der kleine Peter sank förmlich in sich zusammen vor dem jäh auftauchenden Elend und dem Jammer der zukünftigen Möglichkeiten.

Die Mutter streichelte ihm die Wangen: «Musst nicht bange sein, Peterchen», tröstete sie, «weisst du, so schlimm wird es nicht, wie du denkst, und das Christkind und der Geburtstagsmann helfen ja auch ein wenig, und gar so einen Haufen Geschenke, wie du jetzt gerade tust, bekommt ihr doch auch nicht.»

Peter nickte erleichtert; seine Gedanken sprangen auf andere Bahnen, und er meinte mit leisem Zweifel: «Mutter, das mit dem Geburtstagsmann und dem Christkind, das kann ich mir gar nicht so richtig vorstellen; ich glaube immer, da stimmt etwas nicht ganz. Du hast gesagt, ein Leiterwagen sei viel zu teuer; wenn das Christkind richtig hülfe, dann würde er gewiss nicht zu teuer! Und ein Leiterwagen ist doch eine Hauptsache!» Die Mutter lachte: «Siehst du wohl, was du für ein Bub bist! Soeben klagst du, wir kaufen zu viele Geschenke, und nun findest du, es hätte eine Hauptsache gefehlt! Aber ich will dir einen Vorschlag machen, Peter: du störst die Mutter nicht mehr so häufig beim Schreiben und kommst nicht jeden Augenblick: ›Mutter, hör!‹, ›Mutter, mach!‹, ›Mutter, komm!‹, und rutschest nicht mehr so auf dem Boden und zerreissest nicht mehr so viele Höschen und Strümpfe; dann bekommt die Mutter unermesslich viel Zeit und kann dem Vater helfen, Geld zu verdienen, indem sie Gedichte und Geschichten schreibt. Möglicherweise langt es alsdann doch einmal für einen Leiterwagen!»

Während die Mutter so sprach, schienen mit einem Male wunderbare Vorstellungen Peter zu beseligen. Sein Gesichtchen begann zu strahlen; aufjubelnd schüttelte er die blondlockigen Haare und rief: «Erst noch, Mutter, dann machst du einen Gedichtladen und wirst eine Gedichtverkäuferin! Und ich ziehe dir die Schnüre durch die Gedichte und helfe dir auch beim Aufhängen; weisst, genau so wie in einem Wurstladen! Dann verkaufst du tausend Stück Gedichte an einem Tage! Sicher!»

Die Mutter verzog den Mund, ein regelrechter Gedichtladen nach der Anlage eines Wurstladens erschien ihr wirklich nicht besonders poetisch und verlockend, und sie meinte ein wenig gedehnt in Peters kühne Hoffnungen: «Ja, glaubst du denn, dass sich ein Gedichtladen wirklich verlohnt? Und willst du deshalb die Gedichte aufhängen wie Würste, weil du denkst, dass einer Gedichte dann eher kauft? Vielleicht stellst du es dir als vorteilhaft vor, zur Anlockung der Käufer einige Würste zwischen die Gedichte zu hängen?»

Peter machte eine ungeduldige Miene: «Nein, ich meine nur Gedichte, oder etwa noch ein Buch; du kannst ja auch Bücher schreiben, Mutter, und verkaufen. Ich helfe dir schon beim Zusammenpacken; ich kann gut Päckli machen!» Peter war ganz begeistert von Betätigungsdrang und Erwerbsmöglichkeiten.

Die Mutter staunte: «Ja, dann stelle dir einmal vor, Peter, du hättest ein paar Batzen, und du dürftest dir etwas kaufen, was würdest du wählen; ein Gedicht oder eine Wurst?»

Peter gab eine ausweichende und etwas gekränkte Antwort: «Ich habe doch gesagt, Mutter, dass keine Würste in dem Gedichtladen hängen sollen; nur Gedichte oder höchstens noch Bücher?»

Die Mutter liess indessen nicht nach und sie sagte: «Aber wenn gerade neben dem Gedichtladen ein Wurstladen wäre, und du ständest ganz alleine davor, was würdest du dann kaufen?»

Den kleinen Peter konnte man nicht so leicht verwirren; er war ein Lebenskünstler: «Ein Gedicht und eine Wurst!», sagte er mit triumphierender Überzeugung.

Doch die Mutter blieb beharrlich; «Aber wenn du nur so viel Geld hättest, um entweder nur ein Gedicht, oder nur eine Wurst zu kaufen, was kauftest du dann?»

Ein schwerer Seufzer hob Peterchens Brust; so grausame Fragen sollten Mütter gar nicht stellen. In Gedanken sah er sich vor den beiden Läden stehen, gerade so an der Grenzwand, und die Versuchung riss ihn hin und her: Gedicht-Wurst! Gedicht-Wurst! Peter duckte das Köpfchen zwischen die Schultern, warf einen unbeschreiblichen Blick auf die Mutter, weil sie ihn in solche Qualen trieb und sagte leise, kaum hörbar: «Ein Gedicht!»

«O Peter, du Heuchler!», sagte die Mutter. Da mischte sich Richard in das Gespräch; er hatte schon lange seine Zeichnung verlassen, und sich, beide Hände in den Hosentaschen, der Unterhaltung zugesellt: «Mutter», sagte er mit Überzeugung, «das hat der Peter doch nur gesagt, um deine Gedichte zu ehren, und dass du ihn dann noch lieber hast. Er ist ein Schmeichler, Mutter, so was meint er natürlich nicht ehrlich; aber du hättest auch nicht so eindringlich fragen sollen; er hat mich ganz gedauert.»

Die Mutter nickte lächelnd.

Sie wandte sich wieder zu Peter, legte ihm die Hand unter das Gesichtchen und schaute ihm liebreich in die Augen, in denen es nach des Bruders Worten verräterisch zu blinzeln begann. «Dann sage mir einmal aufrichtig, Peter, was würdest du dir kaufen, wenn du einen Batzen hättest: ein Gedicht oder eine Wurst? Weisst, es kränkt mich nicht!»

«Eine Wurst!», sagte da Peter förmlich erlöst und mit seligem Aufleuchten. Jeder Zwiespalt war aus seinem Wesen gewichen. «Aber, Mutter, gibst du mir denn jetzt auch sofort die Batzen für die Wurst? Weisst du, wenn man von Wurst spricht, dann gelüstet es mich halt so; dann läuft mir der Hunger im Mund auf und ab!»

«Und der Gedichtladen?», dachte die Mutter, «und der Leiterwagen?» Sie sagte indessen kein Wort mehr davon. Was sollte sie ihr Peterchen plagen? Sie gab ihm die Batzen für seine Wurst.


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