Johanna Zürcher-Siebel
Das Freudengärtlein
Johanna Zürcher-Siebel

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11. Das Leseblättchen

Einige Wochen, nachdem der kleine Bubi Richard in die Schule gekommen war, trat er zu seiner Mutter ins Zimmer mit einem Gesichtchen, das förmlich verklärt erschien vor Wichtigkeit und Glück: «Mutter», rief er, «wir haben eine Hausaufgabe, zum ersten Mal haben wir ein Leseblättchen und eine Hausaufgabe! Gell, Mutter, das freut dich! Gell, das ist wunderschön!» Und mit weichen Fingerchen drehte er der Mutter Antlitz zu sich hin. Mit strahlenden Augen holte alsdann der kleine Junge aus seiner Schulmappe das Leseblättchen, hielt es wie eine Kostbarkeit der Mutter vor das Gesicht und sagte mit tiefem, seligem Aufatmen: «Nun fangen wir endlich an zu lernen, das haben wir heute von der Lehrerin bekommen; das muss ich alleine lesen. Niemand darf mich stören. Es ist sehr wichtig. Hörst du, Peter?» Bittend und befehlend zugleich wandte er sich an seinen kleinen dreijährigen Bruder.

Peter nickte; er war mit Richard ganz durchdrungen von der Wichtigkeit des Ereignisses und der Grösse dieses Augenblicks. Immerhin betrachtete ihn sein Bruder einigermassen misstrauisch und sagte mit dringlicher und ein wenig überlegener Stimme: «Mutter, ich glaube, es ist bei solchen Aufgaben am besten, wenn ich mich im Kinderzimmer einschliesse, sonst lässt mich der Peter doch nicht in Ruhe; er muss mir ja immer alles nachmachen, obwohl er keine Ahnung davon hat!»

Das köstliche Leseblättchen vorsichtig vor sich hin haltend, ging Richard in das anliegende Kinderzimmer und schob den Riegel. Und nicht lange währte es, so klang es in langgezogenen Tönen und abgesetzten Silben durch die verschlossene Türe:

«Ei–ne Gei–ge
Fi–fa–fum
Ri–ra–rum
Fa–ri fa–ra fa–rum
Ei–ne fei–ne Gei–ge».

Die Mutter lauschte, und nach einer Weile pochte sie an die Türe. Kaum hatte Richard geöffnet, als er auch schon wieder mit heissen Wänglein dastand und das schmale Fingerchen unter den Buchstaben herlaufen liess. «Nun kann ich es!», sagte er aufatmend und seine grossen dunklen Augen leuchteten in einem schönen ahnungsvollen Glück: «Mutter, jetzt werde ich bald alle meine Bücher selber lesen können!» –

Den ganzen Abend lag eine leise Verklärung über dem kleinen Jungen.

Vor dem Einschlafen musste er unbedingt noch einmal das Leseblättchen anschauen, um es alsdann sorgfältig in seinem neuen Schultornister zu versorgen. «Gell, Mutter, das ist jetzt der Anfang zu allem; man weiss gar nicht, was nun noch alles kommen wird!»

Am andern Morgen, kurz nach vier Uhr, wachte die Mutter auf; ihr war, als höre sie im Kinderzimmer sprechen. Wie sie den Kopf aufrichtete und näher hinlauschte, tönte es mit süsser kleiner Stimme:

«Fi–fa–fum,
Ri–ra–rum,
Fa–ri fa–ra fa–rum.»

Die Mutter staunte und wusste nicht recht, was sie davon denken sollte, und ob sie nicht doch vielleicht träume. Sie stand auf und ging in das Kinderzimmer. Da sass der kleine Junge im ersten Morgendämmer auf dem Tisch am Fenster und hielt sein Leseblättchen in der Hand.

«Gell, Mutter», sagte er mit freudiger Überzeugung, «das ist gescheit, dass ich das tue, ich war so bange beim Aufwachen, ich hätte es über Nacht vergessen. Gell, man muss doch nachsehen, wie lange der Kopf so etwas Erstes und Wichtiges behält, und ob er einem gehorcht, man kann doch nie wissen. Du hast ja auch gesagt, dass es eine Hauptsache ist, wenn der Anfang bei allem gut und fest ist; und gell, darum ist es recht und gescheit, dass ich nachschaue?»

Die Mutter lächelte ein bischen unsicher, sie wusste in diesem Falle wirklich keine bestimmte Auskunft zu geben. Sie nahm ihren kleinen Jungen in die Arme und steckte ihn noch einmal ins Bett und huschelte ihn warm ein in seine weissen Decken: «Jetzt ist schlafen recht und gescheit und vor allen Dingen gesund!», sagte sie liebreich.

«Fa–ri, fa–ra, fa–rum, ei–ne fei–ne Gei–ge», sagte der kleine Junge einschlummernd.

Wie im Segen ruhten die Augen der Mutter auf dem Knaben. War er nicht selber eine feine Geige? Ein heisses Beten stieg in ihr empor, dass die Menschen immer mit behutsamen und doch starken Fingern auf den klaren Saiten dieser Geige spielen möchten, damit ihr wundertiefer, reiner Klang nicht verstimmt werde in der grossen Schule, die Leben heisst.


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