Johanna Zürcher-Siebel
Das Freudengärtlein
Johanna Zürcher-Siebel

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9. Das Kirschenfest

Der Vater nahm seine Brille ab, warf einen prüfenden Blick in den blauen Sommertag, strich sich ein paarmal durch den langen Bart und sah lächelnd seine Frau und die drei kleinen Mädchen an. «Nun, was meint ihr wohl, was heute sein wird?», fragte er. Die Kinder rieten alles mögliche, dass man einen Spaziergang machen werde, dass man im Wald ein Picknick abhalten wolle, dass man Forellen fangen würde. Es war aber alles nicht das Richtige. Als die kleinen Mädchen schon gar nicht mehr wussten, was es sein könne, sagte der Vater: «Heute wollen wir das Kirschenfest feiern. Der Fribacher Bauer hat mir geschrieben, dass die Kirschen reif sind, und dass sie uns am ersten schönen Tag erwarten!»

Die Kinder jubelten. Die kleine fünfjährige Dora tanzte sogar auf einem Bein, klatschte in die Hände und rief: «Juhu, Kirschenfest, das ist das Allerschönste! Ach, Kirschen esse ich so gern!»

«Verschlucke nur keine Kerne!», mahnte die siebenjährige Erna, «sonst könnte es dir am Ende noch passieren, dass dir ein Kirschenbaum zum Munde herauswächst!»

«Ei!», jauchzte Dora, «das wäre erst noch sehr bequem, dann könnte ich die ganze Zeit immerzu nur pflücken und essen!» «Ja, bis du dann Bauchweh bekämst!», sagte Erna. Die zehnjährige Lilli schüttelte überlegen den Kopf: «Gell, Mutter, die beiden Kleinen reden wieder dumme Sachen, was die sich nur immer zusammen denken!»

«Lass sie nur», sagte die Mutter gutmütig, «das ist nicht so gefährlich!» Der Vater sah auf die Uhr: «In einer Viertelstunde müsst ihr fertig sein; punkt zwei ist Abmarsch! Ich gehe jetzt noch in den Stall, um Fanny mitzunehmen, die muss heute unbedingt Bewegung haben.» Da jubelten und strahlten die kleinen Mädchen noch mehr. «Dann dürfen wir wieder mit dir reiten!», riefen sie. «Ja, ja!», nickte der Vater, «wenn man euch den kleinen Finger hinhält, nehmt ihr die ganze Hand. Aber jetzt vorwärts! Ihr wisst, ich liebe kein Warten!»

In einer Viertelstunde standen die Kinder in geschwisterlicher Gleichheit blank und sauber in netten dunkelblauen Kattunkleidchen mit der Mutter vor dem schönen, grossen Hause und schauten bewundernd und stolz zu ihrem Vater empor, der stattlich auf einem weissen Pferde sass. Die Kutschersfrau stand daneben und tätschelte Fanny den blanken Hals. «Wenn Fanny jetzt sprechen könnte, so würde sie so froh daherreden wie ihr!», sagte die Kutschersfrau zärtlich; «das Tier hat Menschenverstand, es fehlt ihm nur die Sprache. Unsereiner, der immer mit den Tieren zusammen ist, weiss, was er an ihnen hat!» Zum Abschied steckte sie Fanny noch ein Stück Zucker zwischen die breiten Lippen.

«Hopp, los! Papa!», drängte Dora, «gell, ich komme zuerst hinauf!» Dora streckte die runden braunen Arme, und der Vater hob sie zu sich aufs Pferd und setzte sie vor sich in den Sattel. «Wenn wir in Steinbach sind, komme ich an die Reihe», mahnte Erna, «und von Tanneck bis Breitenbach ich!», entschied Lilli.

«Nun, damit wäre ja der Reiseplan gemacht bis zum Ziel», sagte der Vater, «ich will ihn gerne einhalten!» Er tätschelte dem Pferde die Mähne: «Das gefällt dir wohl, Fanny, mit dem Herrn und der Frau und den Kindern über Land zu gehen; so ein Festtag mitten in der Woche ist schön! Nun los!» In langsamer Gangart, damit man zusammen blieb, setzte Doktor Hauser das Pferd in Bewegung.

Bald war die kleine Gesellschaft aus dem Städtchen heraus, und sie kamen auf die Strasse, die durch das schmale Wiesental führte. Der Bach glitzerte und murmelte; die Blumen blühten, die Bäume rauschten, und hier und da huschte ein Eichhörnchen durch die Zweige. Dazu sangen die Vögel; auf den Wiesen war ein Summen und Zirpen, und auf hellen warmen Steinen am Wege sonnten sich schimmernde, grüne Eidechsen. Die Kinder hatten unendlich viel zu sehen und empfanden eine Freude an allem; der Vater ritt ganz langsam, und so gut sie konnten, beantworteten die Eltern bereitwillig die vielen wissbegierigen Fragen. So schritten sie unter dem strahlenden tiefblauen Himmel dahin. Dann hängte sich Lilli an den Arm ihrer Mutter, und beide fingen zu singen an. Erna und Dora stimmten mit ein. Alle Lieder, die sie konnten, sangen die Kinder mit der Mutter, und das Leben und die Welt dünkten sie wunderschön.

Jetzt durfte Lilli allein reiten, und Mutter und Vater schritten Hand in Hand. Da wollte Dora einen Schmetterling fangen und sprang ihm nach über den Weg. Sie strauchelte und fiel hin gerade vor das Pferd. «Um Gotteswillen», rief die Mutter erschrocken und lief, das Kind aufzuheben. Aber nun zeigte Fanny wirklich, dass sie Verstand hatte. Den emporgehobenen Fuss mit dem schweren Hufeisen setzte sie so, dass er das Kind nicht berührte, und dann blieb das Pferd still stehen, ohne dass ihm einer die Weisung dazu gegeben. Dora richtete ganz erschrocken das blonde Lockenköpfchen empor. Sie hatte Tränen in den Augen, und ein schwerer Seufzer hob die Brust. Die Mutter half ihr beim Aufstehen und wischte ihr den Staub vom Kleidchen. «Da hat dein Schutzenglein dich wieder einmal behütet!», meinte sie. «Brave Fanny», sagte der Vater, «dich muss man wirklich loben!» «Gell», bat Dora, «wir lassen uns aber das Kirschenfest nicht verderben, weil mir das passiert ist, und ich so ungeschickt war!» «Du hast recht, Kind», nickte die Mutter, «man muss dankbar sein für ein abgewendetes Unglück und jede gute, schöne Stunde geniessen!»

Von neuem stimmten sie ein Lied an, und so kamen sie nach Breitenbach. Auf einer leichten Anhöhe, inmitten von Wiesen und Obstbäumen lag der behäbige Bauernhof mit seinen Scheunen und Stallungen.

«Guten Tag, Herr Fribacher», sagte der Vater zu einem Mann, der Kirschen pflückend auf einer Leiter stand, «da wären wir; nun wollen wir wieder bei Ihnen das Kirschenfest feiern! Wir machen es wie im letzten Jahr und nehmen die Ernte von einem ganzen Baum. Was wir heute nicht essen, schicken Sie uns morgen durch den Knecht und vergessen Sie nicht, die Rechnung beizulegen. Sie wissen, ich liebe es, klare Sache zu haben!»

«Schon gut», nickte der Bauer, der inzwischen von der Leiter herunter gestiegen war. Er schüttelte allen die Hand. «Potz tausend, Herr Doktor, Ihre Jüngferchen sind aber gross geworden. Grüss Gott, alle miteinander. So, dann seht einmal zu, welcher Baum euch am besten gefällt! Ich stelle indessen das Pferd in den Stall!»

Wählend und leuchtend vor Glück schritten die Kinder mit den Eltern unter den Kirschbäumen einher. Der Baum, den sie aussuchen wollten, sollte nicht zu gross und nicht zu klein sein und natürlich die allerschönsten Früchte und vollsten Zweige haben. Der Bauer hatte sich inzwischen wieder zu ihnen gesellt. «Ja, gell», schmunzelte er, «die Kirschen sind in diesem Jahr gut geraten; da wird einem die Entscheidung nicht leicht!»

Endlich hatten die Kinder einen Baum gefunden. Einzelne Zweige konnten sie mit der Hand erreichen. Weil Dora noch so klein war, hob der Vater sie empor. Die Kirschen waren rund und glänzend, dunkelrot und von einer köstlichen Süssigkeit. Die Kinder und auch die Grossen machten «Ah» und «Oh» vor Behagen. Der Vater sagte: «Bitte, Herr Fribacher, pflücken Sie eine ordentliche Portion und schütten Sie sie dort auf den Boden; heute wollen wir uns wieder rund herum satt essen an Kirschen. Sieh, da kommt ja auch der kleine Franz Fribacher, der kann mithelfen!» Ein kleiner Bub mit den hellen klaren Augen des Bauern kam herangelaufen, mischte sich sofort zutraulich unter die Gesellschaft, und bald lagen die Kinder mit Vater und Mutter um den appetitlichen Kirschenhügel. «Jetzt kommt das Wettessen!», jubelten die Kinder. «Verschluckt nur keine Steine», mahnte nochmals die Mutter. Wie sie so am Schmausen waren, kam die Fribacherbäuerin und lachte über das ganze, gute breite Gesicht. «Das ist recht, dass es euch so schmeckt», sagte sie. «Esst euch nur satt, Kinder, und wenn euch der Franzli die Ställe und alle Tiere gezeigt hat, kommt ihr noch in die Stube! Macht euch nur tüchtig Bewegung! Ihr wisst, dann kommt der zweite Teil, und dafür muss wieder Platz geschaffen werden.» Bei diesen Worten zogen die Kinder vor Behagen und Freude die Schultern zusammen und sagten: «O ja, gerne, Frau Fribacher; bei diesem Kirschenfest weiss man nie, was am allerschönsten ist.» Die Mutter hatte sich erhoben, und Frau Fribacher die Hand gereicht: «Sie wollen uns wieder verwöhnen, scheint mir; aber bitte, liebe Frau Fribacher, machen Sie keine Umstände!» Die Augen der Mutter leuchteten so fröhlich wie die ihrer kleinen Mädchen.

Die Bäuerin legte die Hände in die Hüften und lachte. «Das lasse ich mir nicht nehmen», sagte sie; «der Herr Doktor und die Frau Doktor haben soviel für uns getan, als der Vater krank war; da ist es uns eine Freude, wenn wir Ihnen alle Guttaten einmal im Jahr vergelten können.»

Sie grüsste freundlich und ging zurück ins Haus.

Als der kleine, glänzende Kirschenhügel in den Mündern der Eltern und Kinder verschwunden war, wurde der Rundgang durch die Ställe gemacht. Die Kühe waren auf der Weide. Aber in dem Pferdestall stand Fanny und frass Hafer. In der Ecke war eine Stute mit ihrem Füllen. Franzli streichelte das junge Pferdchen und sagte: «Es wird schon mit seiner Mutter an den Wagen gespannt und läuft neben her, wenn wir die Milch in die Molkerei bringen! Es muss alles lernen, was seine Mutter kann. Ich sitze neben dem Vater und sehe ihm das Lenken ab!» Vom Pferdestall kamen sie in den Schweinestall. Da lag im Verschlag ein grosses Mutterschwein, und zwischen seinen Füssen wuschelten eine ganze Menge kleiner Ferkelchen, wohl zwölf an der Zahl und schnüffelten und grunzten und saugten Nahrung.

Das Grunzen und Schnurken versuchte Dora sofort nachzumachen. «Du bist doch ein Äffchen!», lachte die Mutter.

«Nein, ein Schweinchen!», sagte Lilli, «und im Gegensatz zu diesen saubern, rosigen Tierchen ein recht schmutziges Säulein.» «Mutter», klagte Dora, «jetzt will Lilli wieder erziehen, aber gell, heute ist Kirschenfest, heute darf sie nicht!» Die Mutter nahm Dora bei der Hand: «Komm, ich wasche dich schnell am Brunnen, dann hat niemand etwas zu sagen!»

Bald war Dora mit einem blitzsaubern, strahlenden Gesichtchen wieder bei den Kindern, die jetzt vor Franzlis Kaninchenstall standen. «Für die muss ich ganz allein sorgen», sagte Franzli stolz und hielt einem schönen Kaninchen mit grauem, glänzendem Fell einen Büschel Gras hin. Jedes der Kinder durfte ein Kaninchen auf den Arm nehmen und streicheln. Sie schmiegten ihre Gesichtchen in die weichen Felle der Tierchen und konnten sich kaum trennen. «Wenn wir doch auch ein paar hätten!», wünschten sie. «Ich gebe euch schon», sagte Franzli gönnerhaft; «ich habe letzte Nacht erst Junge bekommen.» «Du bist ja ein Tausendsasa, Franzli», lachte Doktor Hauser, und dann machte er mit dem Bauern ab, dass der Knecht morgen mit den Kirschen zwei Kaninchen bringen solle. «Aber dass ihr mir dann für die Tierchen so gut sorgt wie der Franzli, hört ihr, Kinder!»

Jubelnd versprachen es die kleinen Mädchen. Von den Kaninchen ging man zu dem Hühnerhof. Da waren Enten und Gänse und Hühner, und eine grosse Henne hatte eine Schar goldgelber, leise piepsender Küchlein um sich, welche ihrer Mutter auf Schritt und Tritt folgten. Durch den Hühnerhof ging mit stolzem, schwerem Gang kollernd ein Truthahn, und ein schöner Pfau spreizte seinen Fächer auseinander.

Die Kinder schauten gespannt durch das Drahtgitter und sagten bewundernd: «Franzli, ihr habt beinahe alle Tiere; auf dem Fribacherhof ist es einfach wunderschön!» Der Bauer sagte: «Ja, schön ist es, aber Arbeit hat man von früh bis spät, und das ganze Jahr durch. Doch die Arbeit ist eine Freude, wenn man immer so mit dem Leben und dem Wachstum von Tier und Frucht zusammen ist».

«Ich will einmal eine Bäuerin werden», erklärte plötzlich die kleine Erna.

«Recht so!», nickte die Mutter; «ich könnte mir nichts Besseres wünschen für dich, als froh und gesund das Land zu bebauen. Meine Grosseltern sind auch Bauern gewesen!»

«Darum bist du auch eine so helle, frohe Frau», sagte der Vater. Er sah auf die Uhr: «In einer Stunde müssen wir aufbrechen!»

Da erschien die Bäuerin in der Haustür und winkte mit den Händen. «Es ist alles bereit!», rief sie. Fröhlich gingen alle in die grosse, freundliche Bauernstube, wo der Tisch bei den Fenstern mit den Geranium- und Nelkenstöckchen freundlich gedeckt war.

«Was haben Sie da wieder für köstliche Kirschenkuchen gebacken», sagte die Mutter, «sogar mit Nidel. Sie sind unübertrefflich, liebe Frau Fribacher!» Die Nasen der kleinen Mädchen schnupperten erwartungsvoll in der Luft. «Herrlich!», jauchzten sie und klatschten in die Hände; «einfach herrlich!» Milch und Kaffee, und Butter und Honig und Brot standen auf dem Tisch, und für die beiden Männer an der obern Ecke waren Bauernspeck und Käse und Most aufgestellt.

«Nun, wenn das kein Fest ist!», sagte der Vater und klopfte dem Bauern auf die Schulter. «Es hat ja auch andere Zeiten gegeben!», meinte der Bauer, «für uns ist Ihr Besuch immer so eine Art Dankfest!»

Dann setzten sich alle um den Tisch, und der Franzli wollte neben Dora sitzen. Dora sagte: «Jetzt wollen wir alle rufen, so laut wir können: Hoch lebe das Kirschenfest!» Das taten sie, aber als die Kinder mit den Kaffeetassen anstossen wollten, hätten sie fast den Kaffee verschüttet.

«Nehmt euch in acht, dass es keine Flecken gibt», sagte die Mutter, «mit Kaffee stösst man eigentlich nicht an!» Aber die Bäuerin wehrte: «Lassen Sie doch die Kinder; das macht nichts, die paar Flecken; die Sonne bleicht das wieder aus. Die Kinder sollen ihre Freude haben!» –

Der Himmel färbte sich schon abendrot, als die Eltern mit den Kindern vom Fribacherhof Abschied nahmen und den Heimweg antraten. Die kleinen Mädchen hatten schlanke Kirschenzweige in den Händen, die über und über voll Früchte hingen. So zogen sie, selig vor Glück, durch das stille, schöne Land. Weil Dora die kleinste war, durfte sie den ganzen Rückweg oben beim Vater auf dem Pferde sitzen.

Auf einmal wurde ihr frohes, sonnenbeglänztes Gesichtchen ernst. Sie schaute zu ihrem Vater empor: «Vater, es ist alles so schön gewesen, ich kann gar nicht sagen, was am schönsten war, und ich weiss auch gar nicht, wie ich danken soll. Nun habe ich darüber nachgedacht. Ich möchte, dass der kleine, kranke Walter von Nachbar Meiers auch eine Freude hat. Er hat doch sein Beinchen gebrochen und kann nicht herumspringen in den Ferien und muss im Bett liegen. Ich will dem Walterli meinen Kirschenzweig bringen!»

«Recht so!» sagte der Vater und drückte Dora einen Kuss auf die warmen Wangen, «das ist der allerbeste Dank. Wenn man selber eine Freude empfangen hat, soll man sie hell und glücklich weiter leuchten lassen in das Leben der andern!»


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