Johanna Zürcher-Siebel
Das Freudengärtlein
Johanna Zürcher-Siebel

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10. Heinz und Margritli

An einem Vormittag in den Frühlingsferien tanzte das kleine siebenjährige Margritli singend mit seiner Puppe durch die helle freundliche Wohnstube. Seine blonden Zöpfe flogen dabei hin und her, und seine braunen Augen lachten. Am runden Tisch sass der zehnjährige Heinz und zeichnete. Jetzt warf er unmutig den dunklen Kopf in die Höhe, und seine Blicke sprühten: «Spring doch nicht so herum wie verrückt» begehrte er auf, «bei deiner Trampelei kann man ja keinen graden Strich zeichnen, und was sagt dann der Vater, wenn ich ihm ein so wackeliges Bild vorweise! Schaff' auch etwas, und sitze einmal für fünf Minuten still, wenn dir das überhaupt möglich ist! Interessiere dich einmal für deine Lesebücher, das würde dir durchaus nicht schaden!»

«Ich will meine Jugend geniessen!», lachte Margritli, «meinst, ich wollte so ein Leseratz werden, wie du einer bist, nein, nie!», und es wirbelte weiter durch die Stube. Da stand Heinz auf und knufte die Kleine in die Seite, «dumme Babe», sagte er zornig. Margritli weinte laut auf, und die Mutter erschien: «Was gibt es denn da schon wieder?», seufzte sie bekümmert, «man kann euch tatsächlich keinen Augenblick alleine lassen, ständig seid ihr wie zwei Kampfhähne miteinander; zwei Geschwister, die es so schön haben auf der Welt, wie ihr, die sollten doch Frieden halten können!»

Margritli schmiegte sich an die Mutter: «Immer boxt er mich», schluchzte es schmerzlich, «immer muss er mich erziehen; es ist wirklich nicht lustig mit einem solchen Bruder, ich wollte, ich hätte einen andern!»

«Und ich eine andere Schwester» verteidigte sich Heinz, «so eine Zimperliche, wie du bist, bei jedem bischen hast du etwas zu mäkeln, und wenn ich nicht wäre, würde es manchmal nicht zum Aushalten mit dir sein!»

«Na, na», sagte die Mutter mit einem feinen Lächeln, «nimm du nur deine eigene Erziehung etwas energischer in die Hand, mit dem Margritli werde ich schon alleine fertig, das ist gar nicht ein so Schlimmes!»

Sie trocknete dem Margritli die tränenüberströmten Bäckchen: «Du musst aber auch nicht gleich so losheulen, als sei wunder weiss was für ein Unglück geschehen. Bei dir sitzen wirklich Lachen und Weinen so dicht zusammen wie Regen und Sonnenschein im April, du bist das reine Aprilwetter. Aber, gell, jetzt scheint die Sonne wieder ganz hell drinnen und draussen; und jetzt macht ihr schnell etwas Ordnung hier, und springt hinaus! Heinz, du bist dann nicht so ein Zornmütiger, und bist lieb und verständig mit dem Margritli und passest auf, dass es nicht so wilde Sachen macht!»

«Hast du gehört, Margrit!», mahnte Heinz, aber in seiner Stimme war ein guter humorvoller Klang. Auch Margritli war getröstet, und das helle Frühlingsgesichtchen war voll Lachen und Freude. Auf der Treppe schlug das Margritli vor: «Heinz, wir wollen zu den Weidenbüschen gehen und Flöten machen.» «Erst noch», sagte Heinz, anerkennend, «du weisst doch immer was!» «O, ich habe mehr als tausend Spiele und Einfälle im Kopf», prahlte Margritli fröhlich, «zum Glück habe ich heute Morgen dein Taschenmesser wieder gefunden! Sieh, da ist es.»

Heinz griff hastig darnach: «Natürlich hast du es irgendwo versteckt gehabt», sagte er in einer Mischung von Freude und Misstrauen. «Jetzt willst du schon wieder anfangen zu streiten», meinte Margritli vorwurfsvoll, «anstatt froh zu sein, dass es wieder da ist. Unten im Spielschrank lag es; komm, bis zu den Weidenbüschen machen wir Fangis! Sieh, wie der Himmel blau ist.»

Das Margritli hatte recht. Die Welt war frühlingsschön, die Bäume blühten, und unten auf den Wiesen wirbelte der Löwenzahn seine zahllosen gelben Sonnen. Da wurde auch der ernsthafte Heinz angesteckt von Margritlis Lenzfreude und jagte hinter ihm her und jubelte mit ihm um die Wette. Bei den Weidenbüschen machten sie Halt. Die Zweige hatten gerade ihre ersten zarten Blätter herausgesteckt. Heinz klaubte sein Messer aus der Tasche und schnitt eine schlanke Gerte. Er prüfte sie mit Kennerblicken und sagte zufrieden: «Gerade recht im Saft! Und gerade recht in der Dicke!» Dann setzte er sich auf einen Stein und zerteilte die Rute in zwei schöne ebenmässige Stäbchen, von denen er eins dem neben ihm sitzenden Margritli gab. Dann begann er mit dem hölzernen Griff des Taschenmessers die Rinde seines Stäbchens in fröhlichem Rhythmus zu beklopfen, damit sie locker werde, und sich unversehrt abstreifen lasse von dem saftigen Holz. Die Klinge des Messers hielt er vorsichtig in der kräftigen Bubenhand. Margritli sah ihm aufmerksam und bewundernd zu. «Nimm einen Stein, und beklopfe damit dein Stäbchen!», riet Heinz, und grossmütig setzte er hinzu «nachher, wenn ich fertig bin, kannst du mein Messer haben!»

Ein Weilchen sassen so die Kinder auf den Steinen am blühenden Wiesenbord, beklopften ihre Weidenstäbchen, sangen, lachten und schwatzten und freuten sich auf ihre jubelnden Weidenflöten. Jetzt legte Heinz das Messer aus der Hand, um zu probieren, ob sich die Rinde von seinem Stäbchen schon loslösen lasse. Im gleichen Augenblick griff Margritli nach dem Messer und nahm es genau so in die Hand, wie sie es bei Heinz gesehen hatte.

Da sich bei Heinz indessen die Rinde noch nicht genügend gelockert hatte, um sich ungefährdet bewegen zu lassen, begehrte er das Messer zurück. «Nein», wehrte Margritli «jetzt geht das bei mir gerade so lustig, jetzt nimm du mal einen Stein, ich habe dir das Messer doch auch heute Morgen wiedergefunden, dann kann ich es auch einmal für mich haben». «Es ist aber mein Messer», zürnte Heinz ungeduldig, «augenblicklich gibst du es zurück, verstanden!»

Margritli blieb gleichmütig am Klopfen: «Fällt mir nicht ein», sagte es, «jetzt bin ich an der Reihe!»

Da sprang Heinz böse von seinem Sitz und riss Margritli das offene, scharfe Messer jäh aus der Hand. Kaum hatte er die zornige Bewegung gemacht, als Margritli mit einem Wehlaut an ihr Händchen griff und tief erblasste. Aus der Hand quoll das rote Blut. Entsetzt schaute Heinz darauf hin, und auch sein Gesicht wurde jählings schreckensbleich. Er liess Messer und Flöte fallen und beugte sich aufjammernd über das kleine Mädchen. «Was hast du, Margritli, was ist dir?»

Aber Margritli konnte kaum das blasse Mündchen bewegen und schüttelte nur hilflos den Kopf. Das scharfe Messer hatte einen ganz tiefen klaffenden Schnitt durch die Handfläche gezogen.

Blitzschnell riss Heinz sein Taschentuch hervor und wickelte es behutsam um die verwundete kleine Hand. Aber während er noch damit beschäftigt war, schloss Margritli plötzlich die Augen und sank lautlos zusammen. Ein genicktes Blümlein, lag die schmale Gestalt mit dem totbleichen Gesichtchen in dem blühenden Gras am Wiesenbord.

Heinz erblasste schier so tief wie sein Schwesterchen; tief erschrocken warf er sich über Margritli und schluchzte: «O Margritli, liebes, liebes Margritli, sei doch wieder lebendig! Ich habe dir ja nicht weh tun wollen. Ach, Margritli, wir haben dich ja alle so lieb!»

Er versuchte dem vor Schrecken und Schmerzen bewusstlosen Kind eine bequeme Lage zu geben, er bettete sein Köpfchen in seinen Schoss. Ach, der arme Heinz wusste sich in seiner Hilflosigkeit und so fern von der Mutter gar keinen Rat in dieser unverhofft hereingebrochenen Not. Er gab dem Margritli liebe Worte, er versprach ihm sein schönstes Geschichtenbuch und schluchzte: «Margritli, ich will dir auch die ganze neue Schachtel mit Farbstiften geben, wenn du wieder aufwachst! Ich will nie mehr an dir erziehen wollen, ich will dich nie, nie mehr puffen und boxen, wenn du nur nicht mehr so blass daliegen willst, ach, Margritli, so öffne doch die Augen!»

Als Margritli aber bei allem Zureden und Versprechen immer gleich stumm und bewegungslos blieb, rief Heinz in seiner Todesangst laut: «Mutter, Mutter, so komm doch und hilf mir und dem Margritli, Mutter, Mutter!»

Da endlich zitterte ein Seufzer durch Margritlis Körper und verwundert, seiner Lage völlig unbewusst, schlug es die braunen Augen auf.

Heinz wusste sich nicht zu fassen vor Glück über diesen Anblick, er streichelte ihm die Wänglein, er glitt ihm über die goldigen Löckchen und gab ihm die zärtlichsten Namen, sodass das Margritli immer verwunderter schaute, weil es seinen Bruder noch gar nicht so gesehen hatte. Es meinte schier fast, an irgend einem unwirklichen himmlischen Ort zu sein, oder mit offenen Augen zu träumen. Es lauschte weiter in einem ernsthaften Glück, als Heinz ihm jetzt erklärte: «Margritli, von jetzt an sollst du es viel schöner bei mir haben, du wirst es dann schon sehen!» Es kam tatsächlich aus dem Staunen einfach gar nicht heraus. Nur ganz langsam kehrte ihm die Erinnerung an das Vorgefallene zurück und erst wie es das blutrote Taschentuch um sein Händchen sah, wollte von neuem ein Schluchzen in ihm aufsteigen.

Aber Heinz war so merkwürdig liebreich, dass er Margritli gar nicht wieder zum Weinen kommen liess. «Höre, daheim gebe ich dir alles von meinen Spielsachen, was dir Freude macht, und nun wollen wir zur Mutter gehen, gell?»

Er half dem Margritli in einer nie empfundenen Sorglichkeit, er stützte es beim Gehen, wie er sich vorstellte, dass es die Mutter getan haben würde, und als Margritli über Schmerzen klagte, tröstete er es: «Weisst, bei so einem Schnitt, da ist es nur im Anfang, dass es so weh tut, das muss versurren, und dann hast du es wie ich, du kannst auch kein Blut sehen, da wird es einem so trümmelig und sonderbar schwarz vor den Augen. Aber nun geht es ja mit jedem Schritt besser, gell, Margritli?»

Das Margritli nickte, und obwohl seine Augen voll Tränen standen, schimmerte doch ein tapferes Lächeln auf seinem lieben Gesichtchen. Langsam gingen sie zwischen den blühenden Wiesen. In Heinz aber wuchs die Angst, je näher sie dem Hause kamen, was wohl die Mutter sagen werde, und ob sie wohl sehr traurig und bekümmert sein werde über sein Betragen. So langten sie bei der Mutter an.

Und sonderbar, das Margritli, das doch sonst bei andern im Freien erlebten Kümmernissen beim Eintritt ins Haus und beim Anblick der Mutter sofort aus vollem Halse schreien und losheulen musste, schluckte heute tapfer seine Tränen herunter und sagte: «Mutter, du musst nicht erschrecken; weisst, der erste Schmerz ist schon versurret, und der Heinz ist ein so lieber gewesen, ich habe gar nicht gewusst dass ein Bruder überhaupt so lieb sein kann, fast wie du. Und denke, er will gar nicht mehr an mir herumerziehen, und er hat gesagt, ich sei gerade recht, so wie ich bin; gell, Mutter, das ist kaum zu glauben. Und das Ganze ist auch mehr meine Schuld gewesen, Mutter; denn das Messer gehörte doch Heinz, und er war wirklich noch nicht fertig mit seiner Flöte, und da hätte ich das Messer nicht einfach festhalten sollen, gell, ich bin eben manchmal ein dummes Maitli?»

Während das Margritli all dies sagte, hatte die Mutter es auf das Sofa gebettet in der hellen freundlichen Wohnstube und verband ihm sorgfältig das schlimm verwundete Händchen.

Das tat sie schweigend, mit all der ihr eigenen Liebe, und weil beide Kinder so erschöpft und ergriffen waren, machte sie keinem einen Vorwurf. Sie hatte ja auch selber alle Mühe, ihren Schrecken über das übelzugerichtete Händchen nicht zu zeigen. Aber sie nickte Heinz verstehend und verzeihend zu, als er nun seine Arme um ihren Hals schlang, und flüsterte: «Mutter, ich weiss, wie bös es war, und ich will so etwas nie wieder tun. Ach, Mutter, ich habe gar nicht gewusst, dass man eine so schreckliche Angst haben kann um einen Menschen. Das werde ich mein Leben nicht vergessen. Ich habe auch vorher nie gewusst, wie lieb ich das Margritli habe. Und in der Hauptsache ist es natürlich doch meine Schuld, dass das Margritli nun die tiefe Wunde und die Schmerzen hat. Doch will ich ihm dafür jetzt und immer alles zu Liebe tun und nichts zu Leide. Ich will ihm einfach ein guter Bruder sein, das verspreche ich dir, Mutter.»

Da strich ihm die Mutter über die klare Kinderstirne und schaute ihm tief und dankend in die Augen und war in ihrem Herzen glücklich, dass für diesmal der Kinder Schutzengel sie alle so liebreich vor schwerem Leid bewahrt hatte und flehte, dass er sie weiter behüte auf allen ihren Wegen.


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