Johanna Zürcher-Siebel
Das Freudengärtlein
Johanna Zürcher-Siebel

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4. Vom goldenen und vom schwarzen Buch

Ein Englein hatte einmal vom lieben Gott einen besonderen und schönen Auftrag erhalten.

Es sollte nämlich jeden Tag in ein goldenes Buch die Namen aller braven Kinder einschreiben, und in ein schwarzes die Namen von allen bösen und unfolgsamen.

Weil es ein so braves, liebes Engelchen war, so meinte es natürlich, die kleinen Kinder auf der Erde müssten auch alle so brav und lieb sein, und als es zum ersten Male aus dem Himmel niederfliegen sollte zur Erde, sagte es zu seinen Engelgeschwisterchen: «Ganz sicher werde ich am Abend mein goldenes Buch voll lieber Kindernamen haben, und mein schwarzes Buch wird ganz leer sein, ihr werdet sehen, dass kein einziger Name darin steht!» Und fröhlich patschte es mit den runden rosigen Engelshändlein auf den goldenen Deckel des schönen Buches und jubelte: «Juhu – ich freue mich!»

Glückselig flog das Englein davon, begleitet von den Abschiedsrufen und Wünschen seiner Engelgeschwisterchen, die sich an das Himmelstor drängten und ihm nachsahen, bis es hinter dem Gewimmel der glitzernden Sterne verschwand.

So nahte sich das Englein der Erde; als am Ende seine zarten Flügel müde wurden von dem weitem Flug, setzte es sich rittlings auf ein rosarotes Morgenwölklein, welches gerade zwischen Himmel und Erde dahinsegelte, und vollendete auf demselben seine Reise.

So kam es an ein Haus, in welchem eben die Kinder wach geworden waren. Das Engelchen blinzelte durch den Spalt der weissen Mullgardinen am Fenster und war gespannt, ob es diese beiden Kinder, ein Brüderchen und ein Schwesterchen, einschreiben könnte in sein goldenes Buch. Es hörte, wie die freundliche Stimme der Mutter zu den Kindern redete, sah, wie sie jedes ans Herz drückte, und die Stube war voller Sonne.

Aber die Kinder waren verdriesslich. Das Englein war recht erstaunt, dass man in einer solch sonnigen Stube, bei einer so lieben guten Mutter so wüst tun konnte. Indessen diese Kinder schienen die Sonne gar nicht zu sehen, obgleich sie ganze Strahlenströme in das Zimmer sandte. Das Mädchen weinte, alles war ihm nicht recht. «Die Strümpfe kratzen und drücken», jammerte es, «solche Strümpfe ziehe ich nicht an. Meinst du, ich wolle mich den ganzen Tag von so groben, dicken Strümpfen picken lassen? Das Wasser ist so nass, ich will nicht gewaschen werden, nein, nein!» Es wehrte und sperrte sich in einem zu, wirklich, die Mutter hatte rechte Mühe mit ihm, und es hörte gar nicht auf ihr liebreiches Zureden. Der Junge machte es nicht viel besser, er wollte sich keinen Knopf allein zumachen, obgleich er schon sechs Jahre alt war, und beim Kaffeetrinken ging der Verdruss erst recht los. Die Kinder mochten trotz allen Mahnens nicht stille sitzen, stupften und neckten einander, verschütteten Milch und verkrümelten ihr Brot. Der Vater hinter seiner Zeitung schien von dem Unwesen nicht viel Notiz zu nehmen, aber die Mutter, die noch zu Anfang so hell und fröhlich drein geschaut, bekam allmählich ein ganz bekümmertes Gesicht. Unmöglich konnte das gute Englein diese Kinder in sein goldenes Buch einschreiben, um sie dem lieben Herrgott für eine besondere Freude zu empfehlen; wenn der Bub und das Mädel nicht hin und wieder ein liebes Gesichtchen gezeigt hätten, wahrhaftig, es wäre versucht gewesen, sie in sein schwarzes Buch einzutragen. Sie taten aber dem Englein ein bisschen zu leid dazu, und darum blieben denn in diesem Hause seine Bücher leer.

Ganz traurig flog das Englein weiter; nun hatte es sich so gefreut auf diese Erdenreise und musste diesen schlechten Anfang machen.

Da kam es in ein Haus, in welchem fünf kleine Mädchen wohnten. Das älteste war sieben Jahre alt, und das kleinste lag noch in der Wiege. Ganz strahlend wurde beim Anblick der Mädchen des Engleins Gesicht. Alle fünf waren brav; keines stritt mit dem anderen, alle taten und wussten etwas Lustiges und folgten der Mutter aufs Wort. Wie waren diese Kinder schnell angezogen! Ihre Kleider lagen hübsch ordentlich gerichtet auf den Stühlen, sie zerrten sie nicht durcheinander und warfen sie nicht umher. Die grösseren zogen sich allein an und halfen den kleinen, alles ging flink und wie von selbst, und es war wirklich eine Freude zuzusehen. Bei Tisch waren diese Kinder auch brav; sie waren nicht ungeduldig, trommelten nicht mit den Füsschen an die Tischplatte, warteten, bis man ihnen gab, verschütteten keine Milch, assen manierlich, und als sie fertig waren, wischten sie sich die Mündchen, falteten ihre Serviettchen, standen auf, reichten Vater und Mutter die Hand und sagten: «Danke».

Diese Kinder hiessen Hedwig, Emma, Anna, Trudi, und das kleinste in der Wiege hiess Friedeli, und alle fünf schrieb das Engelchen eifrig und hochbeglückt in sein goldenes Buch, auch das Friedeli, weil es schon so lieb lachen, so nett mit den Händchen spielen und so herzig «egä, egä» sagen konnte.

Nun hatte das Englein doch einen recht guten Anfang gemacht mit dem Einschreiben, und seine vorherige Angst war ganz verschwunden. Voller Glückseligkeit flog es weiter und konnte wirklich zu seiner grossen Freude im Laufe des Tages noch die Namen von vielen Kindern in sein goldenes Buch eintragen.

Und wenn es vorkam, dass es nicht ganz sicher war, ob ein Kind auch brav genug sei für das goldene Buch, so flog es in seiner Gutmütigkeit nach einiger Zeit nochmals zurück zu dem Haus, und wenn das Kind dann bräver und nett und manierlich war, so schrieb das Englein flugs seinen Namen, das Dorf oder die Stadt, darin es wohnte, nebst Strasse und Hausnummer in das schöne goldene Buch.

Am Abend, als es im Begriff war, in den Himmel zurückzukehren, hochbefriedigt von seinem Tagewerk, weil sein goldenes Buch so gut gefüllt und sein schwarzes Buch leer geblieben, hörte es aus einem Hause ein ganz wüstes, lautes Geschrei. Da sass ein kleiner Junge auf dem Fussboden und stampfte und lärmte, brüllte nur so aus vollem Halse heraus und wollte durchaus nicht folgen. Seine Mutter bat und mahnte mit gütiger und mit strenger Stimme, der Junge tat einfach, als höre er nichts. Er hielt sich die Ohren zu und sagte ganz hässliche Worte. Nie hätte das Englein gedacht, dass ein Kind so reden könnte. Am Ende trat der böse Junge sogar mit den zornigen Füsschen nach der Mutter, und als sie ihm wehren wollte, schlug er nach ihr. Da traten der armen Mutter die Tränen in die Augen, sie presste die Hände vor das Gesicht und ein unsäglich trauriges Weinen schluchzte durch den Raum.

«Was soll auch werden aus meinem Kinde?», seufzte und klagte sie.

Da wurden dem Englein die Augen feucht; es musste an seine Erdenzeit und an seine eigene, liebe, sorgende Mutter denken, und welch ein Schmerz es für eine Mutter sein müsste, wenn sie ein so böses ungebärdiges Kind hätte, dem sich die Zukunft gewiss einmal fern der Mutter, recht bang und dunkel gestalten müsste.

Da nahm es sein schwarzes Büchlein und schrieb den Namen des schreienden kleinen Jungen hinein. Er hiess Fritz. – Dann flog das Englein zum Himmel und gab dem lieben Gott seine Bücher.

Und als der liebe Gott die vielen Namen in dem goldenen Buche sah, sagte er: «Diesen Kindern will ich morgen eine grosse Freude schicken; sie sollen es wunderschön haben auf der Welt!»

Als er aber den Namen in dem schwarzen Buche las, wurde auch der liebe Gott traurig und sagte: «Es ist schlimm, wenn Kinder die Mutter plagen, nie sollten sie das tun; sie schaden sich selbst und machen ihre armen Mütter unglücklich dadurch. Diesem Kinde werde ich morgen eine Strafe senden.»

Und so geschah es.

Als der böse kleine Bube auch am andern Morgen in einem fort schrie, schickte er ihm eine Krankheit. Und wie die Mutter den Doktor kommen liess, sagte dieser: Das ist eine Krankheit, die vom Bösesein kommt; ja, die kenne ich. Kinder, die diese Krankheit haben und so schreien und wildern, dürfen natürlich nicht ins Freie. Die hält man im Zimmer, lässt die Rolladen ganz herunter und sperrt die Türe zu. Nein, die lässt man garnicht heraus, die lässt man ganz allein. Man liest ihnen nicht vor und spielt nicht mit ihnen. Sie bekommen Wasser und Brot und ein bisschen Schleimsuppe. Es ist sehr schade, weil jetzt so viele Früchte reifen im Garten und in Wald und Feld, und weil die Sonne so hell und wunderschön scheint. Warum auch sind die Kinder manchmal so böse und machen sich krank dadurch! Wie gesagt, es ist sehr schade. Also bitte, strengster Zimmerarrest! In drei Tagen komme ich wieder.»

So sprach der Doktor, und so durfte Fritz für drei Tage die dunkle Stube nicht verlassen. Da hatte er es nun für sein Bösesein und stand am Fenster hinter den Rolladen und durfte nicht hinaus. Den folgsamen guten Kindern aber sandte der liebe Gott Gesundheit und den blanksten, fröhlichsten Sonnenschein in ihre Häuser und Gärten, und liebe, lustige Freunde zum Spielen, Umherspringen und Fangismachen.

Und seine fleissigen Englein mussten an die Bäume und Sträucher in Garten, Feld und Wald unzählige saftige Früchte und süsse Beeren hängen, und in der himmlischen Malstube mussten sie die allerschönsten Blumen, Vögel und Schmetterlinge malen; denen hauchte Gott Leben ein, und dann brachten die Himmelsenglein alle die bunten schönen Gaben den Kindern, liessen die Blumen in ihren Gärten blühen und duften, die Schmetterlinge darin schweben und gaukeln, und alle die tausend Vöglein zwitschern und singen und jubilieren.

Ach! Was hatten da die guten Kinder für eine Freude; sie waren glücklich mit jedem neuen, blauen, goldenen Sonnentag, den der liebe Gott ihnen schenkte!

Gelt, wer möchte sich auch in das schwarze Buch einschreiben lassen, wie der böse Fritz!

Nein, so dumm ist doch keiner!


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