Johanna Zürcher-Siebel
Das Freudengärtlein
Johanna Zürcher-Siebel

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2. Hansli

An einem Vormittag im Frühling spielte der fünfjährige Hansli mit seiner gleichaltrigen Freundin Vreneli in Vrenelis blühendem Garten. Sie spielten Vater und Mutter. Das Vreneli schüttelte gerade die Decken und Betten im Puppenwagen und sagte geschäftig: «So, Hansli, es ist dann Zeit, dass du aufs Büro gehst, Geld verdienen; ich muss die Kinder ausfahren!» Der Hansli zog ein Gesicht und warf ungehalten die blonden Locken zurück: «Das ist dann bestimmt garnicht lustig für mich, Vreneli, immer da hinten in der Gartenecke stehen, wo du sagst, dass das Büro ist – und nie bei dir und den Kindern sein.» «Aber richtige Väter machen das so», beharrte das Vreneli, «woher sollte ich auch das Geld nehmen, um in den Konsum zu gehen und Essen zu kaufen?» Das Vreneli bekam einen ganz sorgenvollen Ausdruck in seine Blau-Augen und fingerte an seinen roten Zopfbändern. Hansli schaute sehnsüchtig auf den Puppenwagen und plötzlich überblitzte die Freude sein Gesichtchen: «Mir fällt etwas ein, Vreneli», sagte er eifrig: «Wir spielen heute Mutter und Dienstmädchen; wenn du Besorgungen machst im Konsum, könnte ich die Kinder spazieren fahren und auf den Arm nehmen; ich möchte auch so gerne einmal die Betten machen!» – «Nein», entschied das Vreneli, «du bist der Vater und musst aufs Büro gehen; ein Bub kann kein Dienstmädchen sein!» Da stand nun der kleine Hansli in der Gartenecke und blickte enttäuscht auf die Herrlichkeit, die das Vreneli mit seinen Puppenkindern entfaltete. Wie er gerade tief und ein wenig gekränkt aufseufzte, pfiff ein fremder Bub auf der Strasse. Er hatte schon ein Weilchen am Gartenzaun die Kinder im Garten beobachtet und rief: «Komm, Hansli, ich weiss dir was; ich habe einen Plan.

«Mit einem Meiteli spielen ist blöd!» Hansli, der sonst durchaus anderer Ansicht war, liess sich heute leicht beeinflussen. Wie ein Kätzlein kletterte er über den Hag; keinen Blick warf er zurück zum Vreneli und dem Puppenwagen. Nun stand er neben dem fremden Buben, der Fritzli hiess: «Wir wollen zum Hauptbahnhof gehen, Hansli», schlug Fritzli vor; «ich kenne den Weg, ich bin schon oft da gewesen; da sehen wir, wie die Züge abfahren und einfahren. Es ist sehr lustig! So einen Betrieb hast du noch nie in deinem Leben gesehen! Wir stellen uns auf die Brücken!»

Hansli machte ein unsicheres Gesicht und sandte einen Blick auf sein nahes Elternhaus: «Ich möchte schon schrecklich gern mit dir auf den Hauptbahnhof. Aber die Mutter hat gesagt, ich dürfe nie so weit fort, dass sie mich nicht mehr sehen und rufen kann!»

«Ach», sagte Fritzli leichthin, «wenn sie dich ruft, sind wir schon lange zurück, ich weiss, wann es zwölf Uhr ist; ich bin letzte Woche sechs Jahre geworden; komm nur!»

So schnell sie konnten, tappelten die kleinen Buben auf ihren blossen Füsschen davon. Sie liefen an Wiesen und Gärten vorbei, und dann kamen sie in die Strassen, wo viele Trams und Autos fuhren, und ein ohrenbetäubendes Tuten und Schreien und Rasseln war. Auf dem Bahnhofplatz steigerte sich der Lärm, und der Verkehr war lebensgefährlich. Aber Fritzli hielt Hansli immer bei der Hand, und wie durch ein Wunder gelangten die Kinder durch das Gewimmel auf die Bahnhofbrücke, die sich ausserhalb der mächtigen Bahnhofhalle über die vielen Geleise spannte. Da standen sie nun über das Geländer gebeugt und schauten gespannt und beglückt auf die riesigen Reihen von Zügen, die fauchend und stampfend, paffend und rauchend kamen und gingen, und die mit ihren Fahnen von Rauch zuweilen die kleinen Gaffer auf der Brücke ganz umhüllten. Sie versuchten auf die Wagendächer zu spucken; sie fanden das äusserst unterhaltend und waren ganz verdutzt, als ein alter Herr ihnen dies als unanständig verwies. Aber Fritzli wusste immer wieder etwas neues zu sagen und auszuführen. «Du, Hansli, wenn man auf den Geleisen immer weiter und weiter wandert, kommt man nach Deutschland; wir wollen einmal auf die andere Brücke gehen, da sieht man schon ganz weit; Hansli, wir brauchten nur ein grosses Stück Brot, dann könnten wir gehen! Gell, das wäre fein?» Hansli nickte, ganz benommen von dieser Aussicht.

Sie standen jetzt auf der zweiten Brücke, und Hansli war wie bezaubert von allem, was er sah und hörte. Bald trillerte er wie eine Dampfpfeife, bald stiess er Rauch aus wie eine Lokomotive. Er merkte es garnicht, dass Fritzli nach einer Weile nicht mehr bei ihm war. Er sah auch nicht, dass es später und später wurde; er sprang nur immer zwischen den beiden Brücken hin und her und staunte und schaute. – Der Himmel färbte sich abendrot, als Hansli endlich daran dachte, heim zu gehen. Er hatte seinen Vater und seine Mutter einfach vergessen. Nun fühlte er, dass er Hunger hatte, und da wollte er natürlich zur Mutter. Aber er wusste den Weg nicht mehr heim, soviel er auch suchte und durch die Strassen rannte. Er fing an zu weinen, und durch die strömenden Tränen wurde sein schmutziges Gesichtchen noch schmutziger.

Wie er so ratlos hin und her lief und sich die Augen rieb und immer verzweifelter wurde, legte sich ihm plötzlich eine schwere Hand auf die Schulter: «So, Bürschchen, da hätten wir dich ja endlich», sagte ein Mann in Polizisten-Uniform. «Die Beschreibung stimmt: blond, braunäugig, barfuss und blauer gestickter Kittel. Nun heule nur nicht so schrecklich! Ich tue dir nichts! Ich will dich nach Hause bringen. Deine Eltern haben auf die Polizei telephoniert … Die ganze Stadt haben wir abgesucht nach dir. Auf diese Art versetzt man seinen Vater und seine Mutter denn doch nicht stundenlang in Angst und Schrecken. So ein kleiner Bub wie du bist, der noch nie alleine in der Stadt war! Ein anderes Mal könnte dir das Davonlaufen bedeutend schlechter bekommen. Denke, wenn du in der finsteren Nacht ganz allein hättest draussen sein müssen!»

Hansli war ganz elend vor Kummer. Er konnte es auf einmal kaum abwarten, bis er bei seiner Mutter war, und die Verzweiflung der letzten Viertelstunde machte sich in wildem Schluchzen Luft. Er war auch plötzlich so müde, dass seine Füsschen ihn kaum noch trugen. Gutmütig nahm der Polizist den kleinen Jungen auf den Arm und setzte sich mit ihm in einen Tram. Endlich kamen sie heim. –

«Da haben Sie ihn!», sagte der Polizist und legte der Mutter den Buben in die weit ausgestreckten Arme. Die Mutter hatte ein verweintes Gesicht; und der Vater war ganz blass vor Sorge. «Gott sei Dank!», sagten beide wie erlöst. «Aber nun musst du nie, nie mehr alleine fortspringen», sagte die Mutter. «Seit Mittag haben wir dich überall gesucht und gerufen. Wenn du vor Nacht nicht heimgekommen wärest! Ach, Hansli, die Angst und Qual ist ja garnicht auszudenken!» Ein Zittern durchbebte die Mutter. Dann nahm sie den Hansli und wusch ihn und erfrischte ihn und legte ihn in sein schönes weisses Bett, und Hansli schlang seine Ärmchen um Vater und Mutter und sagte: «Zuerst war es schön, aber zuletzt war es schrecklich, einfach schrecklich. Nie nie wieder will ich davonlaufen!»


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