Heinrich Zschokke
Der tote Gast
Heinrich Zschokke

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Die Überraschung

»Ach, der arme Waldrich!« sagte Friederike am Sonntage, da sie mit ihrer Mutter aus der Kirche gekommen war, und nun plaudernd mit ihr im warmen Zimmer am Fenster saß und auf die öden Straßen hinabsah, die von Regenströmen rauschten. »Wenn er nur jetzt nicht unterwegs ist! Es wäre bisher das schönste Wetter zur Reise gewesen, und nun er fort ist, muß auch das übelste eintreffen.«

»Ein Soldat soll alles tragen können!« antwortete Frau Bantes. »Und willst du eines Soldaten Frau werden, so gewöhne dich zeitig an den Gedanken, daß dem Mann dem Könige mehr als dir, der Ehre mehr als der Liebe, dem Feldlager mehr als dem Hause gehört, und daß, wenn anderen Männern nur ein Tod nachlauscht, dem Soldaten hundert Tode aufpassen. Darum wäre ich nie eine Soldatenfrau geworden.«

»Aber sehen Sie auch hinaus, Mama, wie es in der Luft wütet, wie schwarz der Himmel! Sehen Sie doch, zwischen dem Regen große Hagelsteine!«

Frau Bantes lächelte, denn es kam ihr ein Einfall, von dem sie anfangs nicht wußte, ob sie ihn mitteilen sollte. Endlich sagte sie: »Friederike, weißt du's? Heut ist der erste Adventsonntag, wo die Regierung des toten Gastes beginnen soll. Der wüste Prinz meldet sich, scheint's, immer mit Sturm an.«

»Ich wette, Mama, der Regensturz macht unseren Herbesheimern himmelangst. Die verriegeln vielleicht schon am hellen Mittag die Haustüren, damit das lange, bleiche Gesicht nicht eindringe.«

In diesem Augenblicke trat Herr Bantes eilfertig mit einem lauten, doch etwas sonderbaren Gelächter in die Stube; sonderbar war es, weil man nicht wußte, ob es ein willkürliches oder ein unwillkürliches Lachen war.

»Tolles Zeug und dergleichen!« rief Herr Bantes. »Geh in die Küche, Mama, und bringe die Mädel in Ordnung, sonst werfen sie dir den Braten in die Suppe, die Suppe ins Gemüse, das Gemüse in die Milchcreme.«

»Was gibt's denn?« fragte Frau Bantes verwundert.

»Wißt ihr nichts? Die ganze Stadt sagt, der tote Gast sei angekommen. Zwei Fabrikarbeiter kommen mir da atemlos und pudelnaß von der Gasse in die Zahlstube gesprungen und erzählen, was ihnen an zehn Orten schon erzählt worden ist. Mag von dem tollen Zeug kein Wort hören; gehe an der Küche vorbei, die Mägde drinnen lärmen. Ich stecke den Kopf hinein, zu sehen, was es gibt; schreien die dummen Dinger beim Anblick meiner schwarzen Perücke laut auf und rennen die Närrinnen seitwärts, meinen, ich sei der tote Gast. Seid ihr alle unklug? rief ich. – Ach Gott! schrie die Käte, ich will's nicht leugnen, Herr Bantes, ich bin abscheulich erschrocken. Mir zittern die Knie. Und ich brauchte mich eigentlich gar nicht zu schämen, daß ich mich mit dem Schornsteinfeger Max eingelassen und versprochen habe. Aber nun es so kommt, wollte ich, ich hätte den Max in meinem Leben nicht gesehen. – So schrie Käte, und wie sie sich die Angsttränen abtrocknen will, läßt sie die Pfanne mit den aufgeschlagenen Eiern aus der Hand fallen. Die Susanne sitzt hinter dem Feuerherd und weint hinter ihrer Schürze. Die alte unschuldige Lene mit ihren fünfzig Jahren sogar sieht ganz verstört drein, und schneidet sich richtig mit dem Küchenmesser in die Finger, da sie es abwischen will.«

»Hab' ich es nicht gesagt, Mama?« rief Friederike, indem sie ausgelassen lachte.

»Stelle Ordnung in der Küche her, Mama!« fuhr Herr Bantes fort, »sonst ist die erste Teufelei des toten Gastes in Herbesheim, daß wir am lieben Sonntage verhungern müssen.«

Friederike hüpfte lachend hinaus zur Küche und rief: »So arg soll er's uns doch nicht treiben!«

»Das sind«, sagte Herr Bantes, »die saubern Früchte des Aberglaubens, der Pöbelweisheit. Alles Pöbelweisheit, von oben bis unten, vom Stallknecht bis zum Minister! Da schimpfen mir jetzt Schulknaben und Priester, Hebammen und Professoren, Geheimräte und geheime Speichellecker auf die Aufklärung; sagen, sie bringe Insubordination, Irreligion, Revolution und wollen das Volk wieder in die alte Dummheit zurückklecksen. Und die Esel von modischen Versemachern iahen ihre Wunder- und Heiligenlieder dazwischen, und die Esel von Bücherfabrikanten machen sich mit Ammenmärchen breit, und wollen Heiden und Türken katholisch machen, den Papst zum Herrgott der Könige, den Staat zum Notstall. Lumpenpack! Da geben sie kaum einen roten Kreuzer für Verbesserung der Schulen, aber Millionen für die Soldaten hin und für Üppigkeit; da schnüren sie vernünftigen Leuten das Maul zu, wo nicht den Hals; aber wer Unsinn und Knechterei und Schlächterei lobpreist, den behängen sie mit Orden, Titeln und Tressen. Da haben wir's nun. Aberglaube oben und unten. Erster Advent, Winterwetter – sieh da, kriechen die Narren in die Winkel und bekreuzen und segnen sich; meinen, der tote Gast mache den Sonntagsregen und dergleichen.«

Frau Bantes lächelte sanft und sprach: »Papa, nicht so eifrig; nicht so böse, die Sache verdient's nicht.«

»Verdient's nicht? He, du selbst hast wurmstichigen Glauben, Mama! Nimm mir den Aberglauben nicht in Schutz, nimm mir keinen Unsinn in Schutz! Ich will, wenn ich sterbe, zehntausend Gulden Legat aussetzen, bloß zur Besoldung eines Lehrers an der Schule, der gesunde Vernunft lehren soll. Wer solche wahnsinnige Einbildungen von Gespenstern, Teufeln, Totenerscheinungen und toten Gästen dulden kann, der kann auch dulden, daß die ganze Welt ein Tollhaus und jedes Land ein Sklavenjoch werde, worin die eine Hälfte des Volks leibeigen fronen, die andere mit Musketen und Kanonen die gehorchende im Zaum halten muß.«

»Aber, aber, Papa, wohin verirrst du dich?«

»Verflucht sei der Aberglaube! Aber ich merke wohl, man will ihn. Nur zu, das ist den Engländern recht. Je dümmer die Völker, je leichter saugen sie uns aus. Es wird nicht eher besser, bis einmal wieder ein Haus Bonaparte mit eiserner Rute kommt und Schule hält mit den Narren.«

Indem Herr Bantes noch fortfuhr, in vollem Ernste so zu donnern, während er hastig die Stube auf und ab ging und von Zeit zu Zeit mitten im Laufe stehenblieb, trat leise der Buchhalter herein.

»Es ist doch richtig, Herr Bantes.«

»Was ist richtig?«

»Er ist wirklich angelangt. Er logiert im Schwarzen Kreuz.«

»Wer logiert im Schwarzen Kreuz?«

»Der tote Gast.«

»Narrheit! Müssen Sie, als ein verständiger Mann, denn alles glauben, was Ihnen alte Weiber sagen?«

»Aber meine Augen sind keine alten Weiber. Ich ging aus Neugier ins Schwarze Kreuz; der Herr Gerichtschreiber war, sozusagen, mein Gefährte. Wir nahmen ein Gläschen Goldwasser, sozusagen nur zum Vorwand. Da saß er.«

»Was?«

»Ich erkannte ihn auf der Stelle. Der Wirt scheint ihn auch zu kennen. Denn wie der zur Tür hinausging, wandte er dem Herrn Gerichtschreiber seitwärts das Gesicht zu, machte große Augen, zog den Mund und die Augenbrauen in die Höhe, als wollte er sozusagen andeuten, der da sitzt bringt nichts Gutes.«

»Larifari!«

»Der Zolleinnehmer, der ihn schon am Tor erkannte, hat sich auf der Stelle zum Herrn Polizeileutnant gemacht. Der Zolleinnehmer hat es uns gesagt, als wir wieder aus dem Schwarzen Kreuz kamen.«

»Der Zolleinnehmer ist ein abergläubiger Narr; schämen sollte er sich in die Seele hinein!«

»Ganz wohl; aber erlauben Sie, wenn's nicht der tote Gast ist, so ist's sein Zwillingsbruder. Ein bleiches Gesicht. Vom Kopf bis zum Fuß rabenschwarz. Eine Gestalt, vier, fünf Ellen lang. Eine dreifache goldene Kette über die Brust zur Sackuhr. An den Fingern funkelnde Brillantringe. Prächtige Equipage. Extrapost.«

Herr Bantes sah den Buchhalter lange mit starrem Blick an, worin Unglauben und Befremden zu kämpfen schienen; lachte endlich laut und übermäßig und rief: »Treibt denn der Teufel seinen Spaß mit uns, daß der gerade am ersten Adventsonntage einpassieren muß?«

»Und gerade wie die Kirche aus war,« sagte der Buchhalter, »gerade wie die Leute über die Gasse liefen und Wind und Regen sozusagen am schrecklichsten stürmten.«

»Wie heißt denn der Fremde?« fragte Herr Bantes.

»Mir nicht bekannt,« antwortete der Buchhalter; »der aber gibt sich am Ende Namen, wie er will. Bald ist er ein Herr von Gräbern, bald ein Graf von Altenkreuz. Es ist mir sozusagen bedenklich, daß er geradezu ins Schwarze Kreuz einkehrte. Der Name scheint ihn angezogen zu haben.«

Herr Bantes schwieg eine Zeitlang ganz ernsthaft und nachdenkend, fuhr sich endlich mit der Hand rasch über das Gesicht und sagte: »Ist nichts als Zufall, sonderbarer Spaß des Ungefährs. Denkt doch nicht an den toten Gast und dergleichen. Possen! Aber ein eigener Zufall ist es, ein toller Streich! Gerade am Adventsonntage, im schrecklichsten Wetter, lang, schwarz, blaß, die Fingerringe, die Equipage – ich würde kein Wort davon glauben, Buchhalterchen, wenn Sie nicht ein vernünftiger Mann wären. Aber, nichts für ungut, Sie hörten das Märchen vom toten Gast, sahen einen Fremden; hatte schwarze Kleider, flugs spielt Ihnen die gottlose Einbildungskraft einen Hexenstreich und setzt Ihnen, was noch fehlt, hinzu.«

Dabei blieb es. Herr Bantes ließ sich auf keine anderen Gedanken bringen.


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