Heinrich Zschokke
Der Flüchtling im Jura
Heinrich Zschokke

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18.
Das Tempel-Abenteuer.

Florian und Hermione verfolgten langsam und schweigend ihren spärlich beleuchteten Weg. Hermione überdachte nochmals seine letzten Worte und wurde durch sein anhaltendes Schweigen betrübter; denn obwohl er, voranleuchtend, zuweilen nach ihr zurücksah, damit sie auf dem unebenen Boden keinen Fehltritt thue, entschlüpfte ihm doch keine Silbe freundlicher Besorgniß oder Warnung, wie das erste Mal, als sie diesen Weg gemacht hatten.

Zur Mitte des Feentempels gekommen, – Beide gingen, ohne auf dessen seltsame Gestaltungen und Verzierungen zu achten, – blieb Hermione stehen. Florian's Schweigen wurde ihr unerträglich; sie fühlte, daß diese Mißstimmung zwischen ihnen nicht herrschen dürfe. Sie hatte den Mann gewiß nicht beleidigen wollen, den sie eben in dieser Stunde noch hochachtungswürdig gefunden hatte; deshalb reichte sie ihm, als er nach ihr zurücksah, die Hand und sprach: Wollen Sie mir zürnen?

Er wandte sich zurück; nahm ihre Hand, schüttelte verneinend das Haupt und ging weiter; doch reden konnte er nicht. Der Klang ihrer Stimme, der ihm unendlich mehr sagte, als das Wort, welches sie sprach, hatte ihn durchbebt. Es klang ein Geständniß daraus hervor, welches er sich selber nicht zu gestehen wagte.

Nachdem sie abermals eine Strecke Weges zurückgelegt hatten, hielt Hermione noch einmal an und sagte: Eben an dieser Stelle ist die Natur des Feentempels am reichsten in allerlei wunderlichen Gestaltungen; sehen Sie sich einen Augenblick um. Wir sind von zu Stein gewordenen Riesen und Zwergen, von Schlangen und anderen Ungeheuern umringt, die der Abgrund hervorbringt oder ein Fiebertraum uns zeigt. Sehen Sie doch links dort, wie der ungestaltete Kopf sich gräßlich aus der Dunkelheit hervorstreckt, mit dem weiten, grinsenden Löwenrachen, der riesigen gebogenen Nase und den tückischen Augen, die uns so finster anglotzen, und im zitternden Lichte der Kerze sich zu regen scheinen.

Florian leuchtete mit der Laterne nach allen Richtungen; jede Aenderung der Beleuchtung ließ auch das verworrene Bild der Gestalten wechseln.

Sie verweilten auf dieser Stätte und waren im Entdecken neuer Zerrbilder und Fratzengesichter, wie in scherzenden Bemerkungen darüber, unerschöpflich; es schien Beiden daran gelegen, sich zu erheitern. Bei jedem Schritt, den sie vorwärts thaten, entfaltete sich rechts und links neues Spiel des Lichtes in der Beleuchtung der Felsen und der Tropfsteine.

In der Absicht, eine neue Erscheinung hervortreten zu lassen, leuchtete Florian hoch über sich gegen das Gewölbe. Da sahen sie einen mächtigen Felsblock wie schwebend über ihren Häuptern, vielleicht nur deshalb nicht niederstürzend, weil er von schwachen Nebengesteinen noch eben festgehalten wurde. Kommen Sie, kommen Sie in's Freie, sagte Hermione; unsere Stimme, jede Erschütterung der Luft könnte diesen Felsen herabfallen lassen und uns Beide begraben.

Ich würde kein prachtvolleres Grab, versetzte Florian, und keinen willkommeneren Tod, finden können, als in der Blüthe des Lebens an Ihrer Seite.

Sie werden sich doch nicht zu den Lebensmüden zählen?

Nein, gerade heute zähle ich mich zu den Lebensfrohen; und wenn dieses Gebirge über uns zusammenbräche, was hätte es denn für eine andere Folge, als eine etwas frühere Verklärung von uns Beiden?

Lassen Sie das Gebirge und fliehen wir. Es wandelt mich eine wahre Furcht an, das Gebirge könnte uns beim Worte nehmen.

Hermione zittert vor der Möglichkeit des Sterbens?

Ach, ich habe in der Welt noch einen theuern Vater; freilich einen Stiefvater nur; aber er ist mir von Herzen lieb und ich habe ihn so lange nicht gesehen. Einst werde ich in die ewige Heimath und in's Reich der Freuden, zu meinem rechten Vater und zu meiner heißgeliebten, heiligen Mutter eingehen.

Stürzte der Felsen herunter, dann wäre mein Traum erfüllt, Hermione! dann hätte die Schlange, von welcher mir träumte, daß sie sich um uns Beide knüpfte, ihre Bedeutung gefunden; die Ewigkeit vereinte dann uns Beide.

Fort! fort! rief sie ängstlich, fort in's Freie! – Ungläubiger, warum wollen Sie an Ihren verhängnißvollen Traum eben jetzt erst glauben?

Bei diesen Worten fuhr plötzlich ein heftiger Donner durch die Felsenhalle. Man hörte das Prasseln zusammenfallenden Gesteines; das Licht der Laterne erlosch von einem scharfen Luftzuge; der ganze Feentempel schien von dem Schlage zu erzittern, dessen Wiederhall brausend den hohlen Berg durchdröhnte. Hermione stieß in demselben Augenblick einen durchdringenden Schrei aus; Florian warf die verlöschte Laterne fort, im Finstern mit beiden Händen nach Hermione tastend. Sie sank ihm entgegen und er hielt die Zitternde mit seinen Armen empor.

Sie sind doch nicht beschädigt? rief er hastig.

Um Gottes willen, was ist geschehen? Sind die Felsen eingebrochen? sind wir verschüttet?

Beruhigen Sie sich; Gefahr für uns kann ja nirgends sein. Ist der Eingang der Höhle geschlossen, so kehren wir zurück, ich klettere über die Felsen in's Val de Sainte-Croix nieder und bringe Ihnen Hülfe.

Ueber die schroffen Bergwände hinab führt kein Weg. O, lieber Florian! machen Sie sich auf das Schrecklichste gefaßt; wir sind Beide verloren.

Sie gläubige Verzweifelnde! genesen Sie vom ersten Schrecken, dann will ich den Ausgang suchen. Fürchten Sie nichts, denn ich bin mit Ihnen, und mit uns Beiden ist der Allliebende.

Es währte geraume Zeit, ehe das Fräulein Delory sich sammeln konnte. Er fühlte das Schlagen ihres Herzens an seiner Brust; doch er redete so gelassen, so zuversichtlich von der Gefahrlosigkeit des Ereignisses; er bewies so überzeugend, daß auch schon das Herabfallen eines mäßig groben Felsensteins donnerähnliches, wiederhallendes Getöse in den vielen Krümmungen der unterirdischen Halle verursachen müsse; er wußte es so wahrscheinlich zu machen, daß der vernommene Felssturz nicht einmal in dem Hauptgange, sondern vielmehr in einem der Nebengänge gewesen sei, die sie beim Eingang in den Feentempel gesehen hätten; er bewies selbst aus der guten Beschaffenheit der Luft, die sie athmeten, die Nähe und Unverschlossenheit des Ausganges so überzeugend, daß Hermione wieder Muth faßte.

Wie finden wir uns aus dieser Nacht zurück? sagte sie; Feuerzeug, Schwefelhölzchen und Stab, Alles habe ich verloren. Wir können das Brett unter den Füßen verlieren, mit einem Fehltritt zwischen den Felsen ausgleiten und verderben.

Auch darüber sprach Florian ihr Beruhigung zu; indessen war ihm doch nicht so wohl zu Muth, wie er sich stellte. Er konnte jenen erschütternden Knall nicht anders, als durch den Zusammensturz einer großen, vielleicht jeden Ausweg versperrenden Steinmasse erklären. Deshalb bat er Hermione, einen Augenblick zu verweilen und ihm zu erlauben, den nicht entfernten Ausgang des Feentempels zu suchen.

Als er sie aber ließ und sich von ihr wegwenden wollte, schlang sie mit ängstlichem Ausruf ihre Arme um seinen Hals, und beschwor ihn weinend, sie nicht zu verlassen. Noch einmal suchte er mit aller Beredtsamkeit, welcher die Liebe fähig ist, ihren Kummer zu stillen. Er drückte die Weinende an sein Herz und fühlte nur die Seligkeit, in dieser Grabesnacht von den Armen des Engels umklammert zu sein. Wie können Sie das Entsetzlichste glauben, Hermione? Geben Sie jede Furcht auf; wir sind nicht verloren. Und müßte ich alle diese Felsen neu durchbohren, um Sie an das Licht des Tages zurückzuführen, ich würde sie durchbrechen.

Verlassen Sie mich nicht, sagte sie leise weinend, unser Schicksal ist ja erfüllt, ich weiß es. Aber ich glaubte nicht, daß der traurige Tag, der uns verkündet war, so nahe sei. Wir sollen und werden mit einander untergehen. Trösten Sie sich und mich nicht mit der eiteln Erwartung, gerettet zu werden! Die Weissagung über uns ist erfüllt; sie ist an derselben schrecklichen Stelle erfüllt, wo ich sie empfing. Irre ich nicht, so war es auf eben diesem Platze des Feentempels, wo wir stehen, daß mir die Morne gebot, Sie zu meiden; denn ich würde Sie, und Sie würden mich in einen finstern Abgrund niederziehen.

Wie, die Morne? rief Florian mit ungläubigem Erstaunen; die Worte dieses alten, halb wahnsinnigen Weibes können Ihrem Gemüthe Besonnenheit und Haltung rauben? können Ihnen mehr als alle Gründe der Vernunft, als alle Bitten eines Mannes gelten, der tausend Tode für Sie zu sterben bereit wäre?

Doch die Worte dieser wahnsinnigen Prophetin sind erfüllt, was auch Ihre Vernunft und Ihr Muth dagegen sage. Unglücklicher Florian! Ihr Traum vor der Höhle ist erfüllt. Diese finstre Nacht um uns her, ist die Schlange Ihres weissagenden Traumes, die uns Beide vereint. Ach, daß ich selbst das Band um Sie werfen, Sie selbst verleiten mußte, mich in dieses gemeinsame Grab zu begleiten. Armer Florian! daß ich die Mörderin Ihres theuern Lebens werden sollte, das hatte mir nicht geahnt.

Sie sind es nicht, Hermione, Sie werden es nie sein!

O, die Morne warnte dreimal ernst, ich sollte Sie meiden, nur Sie! – Ich habe Sie ja gemieden; ich erzitterte, so oft ich Sie erblickte; ich bin Ihnen ausgewichen, wenn es irgend möglich war. Nie ging ich ohne ein stilles Grausen in Ihre Nähe. O, die Morne warnte nicht vergebens, ich würde Sie, Sie würden mich in den Abgrund des Verderbens reißen. Nun habe ich Sie hinabgerissen. Ich wollte Sie meiden; ich konnte es ja nicht. Nun ist's geschehen; nun ist mein Grausen geendet, nun das finstere Räthsel gelöst. Ich soll den Tod an Ihrer Brust finden; gern will ich ihn hier nehmen. Ich bin ruhig; Gott ist barmherzig.

Sie sprach mit sanfter, aber fester Stimme, und ihre Arme umschlossen ihn, als wolle sie im Sterben nicht von ihm gerissen sein. Florian fühlte sich von den widersprechendsten Empfindungen erschüttert. Hermione's Reden schienen ihm Worte des Wahnsinns, und hauchten ihm doch die süßesten Töne entgegen. Der Schmerz um ihr Verzagen füllte sein Auge mit Thränen; aber die Liebe, mitten unter den Schrecken des Todes gefunden, sein Herz mit Entzücken. Er lehnte sein Haupt an das ihrige, welches auf seiner Achsel ruhete. Er berührte mit seinen Lippen den Shawl, den sie um ihre Stirn gewunden hatte, und küßte ihn leise. Sie schien diesen Kuß empfunden zu haben. Ein tiefer Seufzer entfloh ihren Lippen; ihre Hände, die sie um ihn geschlungen hielt, erwiederten ihn, in einem matten Drucke. Armer Florian! klagte sie leise.

Hermione! sagte er endlich, warum verzweifeln, ehe wir die Gewißheit haben, daß wir ohne Errettung verloren sind? Geben Sie mir Ihre Hand; vertrauen Sie Gott und mir mehr, ich beschwöre Sie! als den Faseleien der alten Morne und dem sinnlosen Spiele eines Traumes.

Wir sind verschüttet; Niemand in der Welt weiß, daß Sie und ich im Innern dieses Berges sind.

So tappen wir wieder zurück bis zur Oeffnung gegen Val de Sainte-Croix. Ich will mit meiner Stimme hinunterschreien, daß sie meilenweit gehört werden soll.

Ich gehorche. Führen Sie mich, wohin Sie wollen; unser Verhängniß hat sich vollzogen.

Und wenn meine Verheißung erfüllt wird, himmlische Hermione! werden Sie mir dann mehr glauben, als nichtigen Träumereien und Prophezeiungen? Ich bitte Sie, wollen Sie das?

Ich gehorche Ihnen; ich bin Ihnen nun einmal hingegeben, lieber Freund! Das Schicksal gab mich hin; in meiner Macht lag nichts.

Noch einmal zog er sie sanft an seine Brust. Die Hoffnung auf sein Glück erhob ihn. Er ergriff die Hand Hermione's und sagte: Fassen Sie Muth, folgen Sie mir!

Er schritt langsam durch die Finsterniß. Bei jedem Tritte beugte er sich und suchte mit der Hand den Boden, um ihren Fuß sicher zu setzen. Zitternd folgte sie. Es war ein mühseliger, gefahrvoller Weg, welchen Furcht und Schrecken verlängerten. Sie waren schon geraume Zeit gegangen; da rief Hermione ängstlich: Florian, was ist das? ich athme Schwefeldünste!

Florian, der dies für eine neue Wirkung ihrer aufgeschreckten Phantasie hielt, sprach ihr Muth zu und setzte den Weg fort; jedoch war er noch nicht weit, als auch ihm Schwefelgeruch entgegen drang, der bald stärker und stärker wurde.

So wahr ich lebe, das ist Pulverdampf! rief er; ich begreife nicht, wie der in die Höhle gelangt; weder Erdbeben noch unterirdisches Feuer haben das gethan.

Täuschen wir uns nicht mit eiteln Hoffnungen, lieber Freund! seufzte Hermione, am wenigsten mit unglaublichen.

Plötzlich, als Florian, weiter gehend, sich tappend zur Erde beugte, rief er: Ich sehe Tageslicht, Sie sind gerettet!

Hermione strengte vergebens ihre Augen an, in der undurchdringlichen Finsterniß den Schimmer zu entdecken. Er zog die Zitternde rascher mit sich fort, und als sie aus der Krümmung des Ganges traten, da erblickten sie den Ausgang der Felsengrotte, durch welchen blendende, dunkelrothe Lichtstrahlen hereinfielen.

Ach Gott! rief sie, und stand von der Ueberraschung wie in ein Marmorbild verwandelt, unbeweglich, mit emporgehobenen Armen und starren Blicken vor ihm. Und als Florian erfreut sich zu ihr wandte, sank sie im Uebermaße der Freude, sich selber unbewußt, an seine Brust, umfing ihn und drückte küssend ihre Lippen auf die seinigen. Doch bald erbleichte sie und ihre Züge entstellten sich; ein heftiger Schmerz schien sie zu quälen. Ihre Arme sanken kraftlos herab, ihr Haupt neigte sich ohnmächtig auf die Seite. Florian hielt sie erschrocken in seinen Armen. Als ob es ihr an Luft und Athem mangele, starrte ihr trockenes Auge, wie zwischen Tod und Leben ringend, ängstlich zu Florian auf, bis sich dieser krampfhafte Zustand in ein heftiges Weinen löste. Sie erholte sich, und unter einer Fluth von Thränen traten die verschwundenen Rosen ihrer Wangen aus der leichenhaften Farbe wieder hervor.

Sobald sie ihrer mächtig geworden, entzog sie sich den Armen des Jünglings und verhüllte ihr Antlitz mit einem Tuche; doch als sie ihren Blick erhob und sah, wie Florian blaß und stumm dastand, durch ihren Zustand erschreckt, in ängstlicher Bekümmerniß um sie, lächelte sie ihn mit unaussprechlicher Rührung an. Sie reichte ihm die Hand und sagte, in Blick und Stimme die reinste Zärtlichkeit verrathend, zu ihm: Guter Florian, was hast Du meinetwegen gelitten; vergieb!

Darauf erwachte er zum heitern Leben, schloß die Zitternde in seine Arme und drückte den ersten Kuß auf ihre Lippen, den sie innig erwiederte.

Mein Gott, ich kenne mich selbst nicht mehr, sagte Hermione und entzog sich ihm; dann bot sie ihm die Hand und sprach: Ach, lieber Freund! verkennen Sie mich nicht; verlassen Sie mich nicht. Sie wissen es nun, mein Leben gehört Ihnen. Was hülfe das Läugnen, wo ich es selbst weiß, daß ich mir nicht mehr angehöre.

Dann ging sie, Hand in Hand mit ihm, zum Ausgang des Feentempels, durch welchen blasses Licht hereinströmte. Er stieg hinaus zum Tageslicht; Hermione folgte. Beide athmeten, als sie draußen standen, schweigend und mit tiefen Zügen die reine, erquickende Abendluft.


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