Heinrich Zschokke
Der Flüchtling im Jura
Heinrich Zschokke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2.
Die Sibylle.

Ueber die losen Stücke des grauen Felsens, die, von seinem Fuße kaum berührt, in den Abgrund prasselnd niederrollten, zur Höhe der Steinkuppe gelangt, überraschte ihn der Anblick eines menschlichen Wesens. Es war eine betagte Frau, die auf einem bemoosten Felsblocke saß und unbeweglich in die blaue Ferne hinausstarrte. Ihr Wamms und Rock von einem halbwollenen, nußbraunen Zeuge, in welchem, durch langen Gebrauch, die weißen Linnenfäden des Gewebes schon sichtbar wurden, verkündigten Aermlichkeit; ihre weiße Haube jedoch und das kleine blaue Halstuch, nebst der rothgestreiften Schürze von grober Leinwand, zeigten bei aller Armuth eine gefällige Sauberkeit. Ihre dürre Rechte lehnte sich auf einen Krückstock von Schwarzdorn; der linke Arm, mit dem Ellbogen auf das Knie gestemmt, stützte mit der Hand das Kinn. Das von der Sonne gebräunte, welke Antlitz wäre durch eine gewisse Gutmüthigkeit des Ausdruckes nicht unangenehm gewesen, wenn nicht ein falbes Barthaar, wie ein grauer Schatten, auf Kinn und Lippen gelegen hätte.

Der Flüchtling sah sie eine Weile schweigend an; dann grüßte er mit lauter Stimme. Die Alte wandte sich, aus ihrem Nachdenken erwacht, dankend gegen ihn und betrachtete aufmerksam, doch ohne Verlegenheit, seine Gestalt. Er setzte sich ihr gegenüber, zog sein Brod hervor und hielt sein einfaches Mahl, indem er einige Worte über das Wetter und die Gegend fallen ließ, um ein Gespräch anzuknüpfen. Die Alte, keine Silbe erwiedernd, starrte ihm fort und fort in's Angesicht, und als er ihr durch seine Fragen endlich eine Antwort abnöthigte, gab sie diese wie eine Person, deren Geist mit andern Gegenständen beschäftigt ist und offenen Auges träumt. Inzwischen erfuhr er doch, und das beruhigte ihn nicht wenig, er sei nicht mehr auf französischem Grund und Boden, sondern im Gebiete des Fürstenthums Neuenburg, und zwar auf einer Höhe des Gros-Taureau, in der Nähe des Dorfes Les Verrieres.

Woher sind Sie, wenn mir die Frage erlaubt ist? sagte nach einem abermaligen langen Schweigen die Alte, deren Blicke noch immer träumend an seinem Gesichte hingen.

Er zeigte mit der Hand nach Morgen und sagte: Mein Haus ist dort hinten, wo die letzten Alpen kaum noch sichtbar sind.

Aus dem Bündnerlande? fragte das Mütterchen etwas belebter. Der Flüchtling wandte den Kopf auf die Seite und konnte bei der Frage eine gewisse Ueberraschung nicht verhehlen.

Ungefähr! erwiederte er.

Fürchten Sie sich nicht vor mir, sagte die Alte; Sie sind bei uns vollkommen sicher. Nicht wahr, Sie kommen aus Frankreich, etwa von Pontarlier; sind gefangen gewesen, entwischt?

Der junge Mann trug kein Bedenken, es zu gestehen.

Und das ist Menschenblut? sagte sie, auf die Flecken seines grauen Rockes und der Beinkleider zeigend, das da ist noch ganz frisch.

Der Flüchtling bemerkte jetzt selbst erst die frischen Blutflecken an seinen Kleidern. Er erzählte unverhohlen, auf welche Weise er den Soldaten unweit Pontarlier entronnen sei, und erkundigte sich, ob er im Neuenburgischen vor Gewaltthätigkeit und Nachstellung der Franzosen sicher sein werde.

Allerdings, erwiederte die Alte, denn Preußen hat mit Frankreich Frieden und der König von Preußen ist der Souverain des Landes. Gewalt haben Sie nicht zu besorgen; doch thun Sie weise, in abgelegener Gegend zu leben, und der Hinterlist auszuweichen. Ich bin hierher gekommen, um Ihnen dieses zu sagen.

Was? rief der Flüchtling, Ihr habt doch nicht wissen können, Mütterchen! daß Ihr mich hier finden würdet.

Trotz Ihres Zweifels, junger Herr! wurde ich Ihretwillen hergesandt.

Das ist unmöglich! rief der Flüchtling. Mich kennt keine menschliche Seele in diesem Lande, das ich in meinem Leben zum ersten Male berühre.

Aber dieses Land wird Ihnen bald unvergeßlich werden, und bald so lieb sein, wie Ihr Land in den hohen Alpen. Dort wohnten Sie im weiten, großen Thale. Ich sehe Ihr schönes Haus, beinahe in der Mitte desselben, unter hohen Bäumen an einem wilden Bache, der vom nahen Gebirge daherrauscht. Die grauen Felswände steigen seitwärts schroff in die Wolken, und im Hintergrunde der Landschaft, wo das Thal sich schließt, scheint es wie von Eis- und Schneebergen versperrt. Das ist hier ganz anders; unsere Berge sind dagegen nur Hügel.

Der junge Mann stierte die alte Frau mit großen Augen an und fragte verwundert: Habt Ihr meine Heimath gesehen, so sagt mir, wie heißt sie?

Die Alte erwiederte: Ich weiß keinen Namen, aber ich glaube, sie sehr deutlich zu sehen; und Sie, junger Herr! sehe ich auch mit der Jagdflinte in den hohen Bergen, von einem Freunde begleitet. Sie sind ein wackerer, rechtschaffener Mann. Halten Sie fest an Ihrer Redlichkeit! Sie haben es immer gut gemeint; doch Sie würden weniger Verdruß gehabt haben, wenn Sie nicht zu aufbrausend, nicht auf Ihre körperliche Stärke manchmal zu trotzig gewesen wären. Recht gut, daß Sie sich noch nicht verheiratheten, obgleich man Sie einige Male dazu zwingen wollte. Es gab viel Streit im Hause; jetzt sind Sie frei, wie der Vogel in der Luft. Man hat Sie oft gefragt, ob Sie von einer Liebe gefesselt wären, weil Sie jede vorgeschlagene Vermählung ablehnten; Sie sagten mit Wahrheit: Nein! Aber jetzt fragt Sie Keiner und doch tragen Sie eine Sehnsucht mit sich in der Welt herum, und wissen nicht, wo Balsam kaufen für die heimliche Wunde. Ja, ja, ich rathe Ihnen, gehen Sie in den Feentempel und fragen Sie da den Schlaf um einen offenbarenden Traum!

Die Alte schwieg, doch stierte sie ihn noch immer an. Während sie sprach, schienen ihre Augen sich hervorzudrängen und in ihre verwandelten Gesichtszüge etwas Feierliches zu kommen. Der Flüchtling hingegen saß wie versteinert vor ihr; er horchte noch immer, als sie schon zu reden aufgehört hatte.

Wenn Ihr mich nicht kennt, Mutter! wer hat Euch denn das Alles erzählt?

Wer kann mir erzählen, junger Herr! was Sie Niemanden erzählt haben? Aber Sie hätten mich nicht stören sollen! setzte sie unwillig hinzu, rieb sich die Augen und schien, wie eine Erwachte, munter zu werden. Sie sah links und rechts, dann wieder auf ihn hin und sagte: Nun geht Alles hin, wie Nebel, und es ist mir doch, als hätte ich für die Zukunft noch viel zu Ihrem Besten sagen sollen. Nun ist's hin.

Woher wißt Ihr, was Ihr mir da sagtet? fragte der Fremde.

Die Alte hob beide Hände mit ausgespreizten Fingern hoch in die Luft, sie nach allen Richtungen hin und her bewegend, den Blick in die Ferne gewandt und dazu den Kopf schüttelnd, als wollte sie mit diesen sonderbaren Geberden sagen: Es kommt, ich weiß nicht, von wannen; und wüßte ich's, würde ich's doch nicht sagen dürfen.

Könnt Ihr mir noch mehr erzählen, Mütterchen?

Es ist vorbei, Alles vorbei! Dunkel zieht's noch dem Vorigen nach, als ständen seltsame Sachen bevor. Sie haben Anlagen zum Glück; deswegen sucht Sie eben das Unglück auf. Mehr weiß ich nicht!

Wie eine weissagende Sibylle saß die Alte auf dem Felsgipfel vor ihm. Es wurde ihm unheimlich bei ihr und fast hätte er sie für eine der geheimnißvollen Gestalten gehalten, von denen der Aberglaube meint, sie wohnen im Innern der Berge und erschienen den Hirten oder verirrten Wanderern bald als Zwerge, bald als tanzende Elfen, oder als andere abenteuerliche Wesen. Manchen Augenblick glaubte er, er habe es mit einer Wahnsinnigen zu thun; doch wenn er an das dachte, was sie ihm von seinen häuslichen Verhältnissen, von seiner Persönlichkeit und von seiner Vergangenheit gesagt hatte – Dinge, die er zum Theil verschwiegen gehalten, andere Dinge, die nur in seiner Familie bekannt sein konnten –, so mußte er fast an Hexerei denken.

Mütterchen! sagte er sanft, Ihr seid schon weit umhergekommen in der Welt?

Sie legte den Finger bedeutsam an die Stirn und erwiederte mit halbem Lächeln: Das glaube ich; weit, sehr weit! Aber hier – im Geiste; nicht mit den Füßen auf der Landstraße. Ich war schon vier Mal in Neuenburg, das letzte Mal bei der Huldigung des königlichen Statthalters. Da herrschte eine Pracht! Ich bin auch vielmals in Locle gewesen; doch weiter nicht.

Und wo wohnt Ihr?

Sie zog mit dem Krückstocke einen Kreis in der Luft und sagte: In den Bergen allen. Man giebt mir gern das Plätzchen in einer Hütte. Ich bin gar wohl bekannt, und für mich braucht's nicht viel.

Aber was führt Euch zu diesem Berggipfel, der selbst für jüngere Personen schwer zu ersteigen ist? Doch nicht das Vergnügen?

Junger Herr! ich gehe, wohin ich muß, wenn es auch scheint, als ginge ich, wohin ich wollte. Der Geist leitet des Menschen Schritte. Heute wurde ich ausgesandt, Sie hier oben zu erwarten. – Bei diesen Worten stand sie auf und entfernte sich, ohne Abschied zu nehmen. Bald aber blieb sie stehen und winkte dem Fremdling mit der Krücke. Als er zu ihr hinabgekommen war, deutete sie mit dem Stocke auf eine Stelle des unter der Felshöhe eine kleine halbe Stunde weit gelegenen Waldes und sagte: Dort finden Sie ein klares Wasser; es quillt, man weiß nicht woher, und fließt, man weiß nicht wohin. Dort reinigen Sie Ihre Kleider vom Blut; Menschenblut steht übel am Gewande der Menschen.

Und werde ich in der Nähe Wohnungen finden?

Wenn Sie dort hinabsteigen, sehen Sie Les Verrieres im Thale, durch welches die große Straße nach Pontarlier hinzieht. Sie müssen da nicht bleiben, wohin leicht Verfolger kommen könnten. Gehen Sie drüben von Les Verrieres bergauf, in die Jeannets oder zur Feenhalde. Dort finden Sie Einsamkeit und Sicherheit.

Nach diesen Worten wandte sich die Alte von ihm und ging mit langen raschen Schritten über den Rücken des Gebirges hin, bis sie im Tannengestrüpp, aus welchem ihre hohe Gestalt noch lange sichtbar hervorragte, endlich seinen Augen entging.


 << zurück weiter >>