Heinrich Zschokke
Der Flüchtling im Jura
Heinrich Zschokke

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13.
Das Haus Bell.

Als der Nachmittag gekommen, führte Herr Staffard seinen Gast zum Hause der Frau Bell, wohin Georg schon voraus gegangen war. Der Weg zog sich zwischen kleinen, mit Gras bewachsenen Hügeln, vermuthlich nur einst herabgerollte Felsblöcke, welche die Zeit mit Erdrinde überzogen hatte, nach dem Berge und gegen eine nackte, weit umher sichtbare Wand von graulichgelben Kalkfelsen, wohin man fast eine Viertelstunde hatte. Der alte Staffard erzählte mit Wohlgefallen von Claudine, der Braut seines Sohnes, von ihrer Wirthlichkeit, ihrem heitern Sinne und der wunderlichen Starrköpfigkeit ihrer Mutter, der Frau Bell. Claudine wäre längst Georg's Weib und meine Schwiegertochter, sagte der Alte, wenn nicht vor dreißig Jahren der Hochzeitstag der Frau Bell am zwölften Oktober gewesen wäre, der zufällig auch ihr Geburtstag und Claudine's Geburtstag, und auch der Sterbetag ihres Mannes, und der Himmel weiß, was noch sonst für ein Tag ist. Sie meint, der Himmel knüpfe alle wichtigen Ereignisse ihres Lebens an diesen Tag, und sie glaubt fest daran, er werde auch ihr Sterbetag werden. Die Weiber haben allesammt gewisse heilige Grillen, die ihre heimliche Religion sind, und in der sie fester stehen, als in der, die sie beim Pfarrer erlernen.

Staffard sagte noch Vieles, doch Florian hörte immer weniger, je näher sie dem Bell'schen Hause kamen, das sich vor ihnen, neben einem Gemüsegarten, in ziemlicher Weitläufigkeit ausdehnte. Ihm erschien es ein Arkadien; wo unter den Schindeldächern der Hirten, Göttinnen wohnten. Ein warmer Schauer überflog ihn, als sie durch die saubere Küche in ein niedriges, doch zierliches Zimmer eintraten.

Frau Bell empfing die Kommenden mit freudiger Höflichkeit. Obgleich den Funfzigern schon nahe, verriethen ihre feinen Züge, daß sie in den Blüthetagen ihrer Jugend nicht minder reizend gewesen, als ihre schöne Tochter Claudine, die jetzt, in bräutlicher Seligkeit, Hand in Hand neben einem kleinen Klavier bei Georg stand und den Fremdling Florian grüßend musterte. Frau Bell rückte einige Strohsessel herbei, lud die Gäste zum Niedersitzen ein und knüpfte sogleich ein Gespräch mit dem Fremden an. Um ihre Haube trug sie ein Trauerband, um den Hals ein Tuch von schwarzem Krepp, zum Gedächtnisse ihres vor fünf Jahren verstorbenen Mannes. Mehr als Band und Tuch aber sprach eine milde, wittwenhafte Schwermuth, in welcher sich ihre natürliche Freundlichkeit, wie die heitere Sonne im Regengewölk, brach.

Man hatte sich kaum einige Minuten lang unterhalten, als die Thür aufging und Hermione im einfachen Hauskleide eintrat. Ein schneeweißes Morgenhäubchen, dessen breiter Spitzenschmuck über Stirn und Wangen herabhing, hinderte die Fülle der braunen Locken nicht, seitwärts, an den Schläfen und am Halse, spielend hervorzuschleichen. Als sie den Fremdling, der ihr nicht fremd war, erblickte, hätte man glauben sollen, ein Strahl der Abendröthe falle durch die Fenster und erhöhe die Farbe ihres Antlitzes. Allen Anwesenden, vorzugsweise Claudinen, fiel diese Veränderung der Freundin auf, nur Florian nicht. –

Das Gespräch wandte sich bald den wichtigen Ereignissen des Tages und den kriegerischen Unruhen in der Nachbarschaft zu. Wallenstadt am See, zwischen himmelhohen Felsen gelegen, war, einem Gerüchte zufolge, in Flammen aufgegangen; der Erzherzog Karl mit den Oesterreichern in's Herz der Schweiz eingedrungen; die Walliser hatten sich aus ihren Bergen aufgemacht, um Russen und Deutsche gegen die Franzosen zu unterstützen; die Glarner. der Abt von St. Gallen, die Rathsherren in Zürich und Schaffhausen wollten unter dem Schutze der österreichischen Bajonette ihre alte Oberherrlichkeit und die alte leibeigene Unterthänigkeit des Landvolks wiederherstellen, während die helvetische Regierung in Bern, alles Vertrauens verlustig, Miene machte, im Sack und in der Asche Buße zu thun; denn sie verminderte eilfertig ihre eigenen Gehalte, legte ihre außerordentlichen Vollmachten nieder, ließ die aufgebotenen Milizen in die Heimath gehen und wollte wegen politischer Verbrechen keine Todesstrafen mehr verhängen.

Ganz recht so, sagte Staffard, denn politische oder religiöse Grundsätze, und die Handlungen, die daraus stammen, lassen sich, wie z. B. Todtschlag, Diebstahl oder andere Verbrechen, nach keinem menschlichen Gesetze beurtheilen. Nach welchen Rechtsgrundsätzen will man das hier mit dem Tode bestrafen, was in einem andern Gebiet, einen Büchsenschuß weiter, das höchste Recht ist? Politische Parteien eines Landes sind freilich gegen einander auf dem Kriegsfuße; aber man muß die Ueberwundenen nicht tödten, sondern gleich Kriegsgefangenen behandeln.

Vater, rief Georg, es ist bei den Schweizern oder vielmehr bei ihren Regierungen, überall, nichts als Feigheit. Sie wollen nur das Messer, welches sie für Andere geschliffen haben, wegwerfen, weil sie fürchten, selber damit abgeschlachtet zu werden.

Schmach über uns! seufzte Florian; wir Schweizer sind gefügige Werkzeuge zu unserm eignen Verderben in der Faust der Fremden geworden. Wollen Franzosen und Oesterreicher, eigenen Vortheils und eigener Gefahr willen, die Schweiz nicht in alter Selbstständigkeit aufrichten, so hat Europa keine Schweiz mehr. Dahin hat es die Erbärmlichkeit der Rathsherrnweisheit und die kleinstädtische Pfiffigkeit der entarteten Eidgenossen gebracht.

Die Frauen sahen die tiefe Traurigkeit, welche aus dem Innern des Gemüths sich über sein Antlitz verbreitete.

Männer sollten eigentlich niemals wehklagen, sagte Claudine, sondern nur zürnen oder handeln, wie es den Göttern und allen Starken geziemt. Thränen und Seufzer gehören uns Weibern an, weil Ohnmacht eigentlich unsere Stärke gegen Götter und Menschen ist. Und Sie, mein Herr! gehören gewiß zu den Starken, wenn nicht zu den Göttern; Sie haben es Hermionen und mir bei der Kette auf der Höhe von St. Sulpice bewiesen.

Es ist die Frage, wer droben von uns der Stärkere gewesen, erwiederte Florian.

Allerliebst! rief Claudine; so hätten wir Mädchen Ihnen wohl gar Furcht eingeflößt? Nein, nein, dies machen Sie uns nicht glauben; keine von uns hätte den Muth, solchem Kettenspanner den Fehdehandschuh hinzuwerfen.

Sie haben ihn hingeworfen, versetzte Florian, und zog den Handschuh hervor, den er in der Kirche von Neuenburg gefunden hatte; ich stelle ihn aber der Eigenthümerin in aller Ehrfurcht zurück.

Sobald Claudine Hermione's verlornen Handschuh erkannte, reichte sie ihn der Freundin unter großem Gelächter, fiel ihr um den Hals, flüsterte ihr ein paar Worte in's Ohr, und lachte noch ausgelassener; Hermione dagegen verbarg ihre Verwirrung unter einem erzwungenen Lächeln. Verschämt und mit leisen Worten dankte sie dem Finder; dann setzte sie hinzu: Wie konnten Sie wissen, daß er mir oder Claudinen gehöre? In den Straßen von Neuenburg, glaube ich, hatte ich ihn schon verloren.

Florian erzählte von seinem Gange in die Kirche; dieser Zufall und die Wendung, welche Florian der Geschichte im Gespräche gab, belustigte Alle; nur Hermione blieb still und heftete von Zeit zu Zeit ihre Augen sinnend auf den Handschuh, kaum beachtend, wie die Unterhaltung lebhafter wurde.

Frau Bell hatte inzwischen den Thee in's Freie tragen lassen. Hier erweiterte sich, wie der Anblick der Natur, auch das gesellige Gespräch über die Angelegenheiten, nicht des Tages, sondern des Lebens. Hermione gab ebenfalls ihr Wort dazu, und was im engen Zimmer einander fremd geblieben, neigte sich nun in vertraulicher Offenheit entgegen. Man sieht innerhalb der Stubenwände mehr auf das, was bürgerliche und häusliche Verhältnisse betrifft; im Freien, neben der Hoheit und dem Ernste der ewigen Natur, wird alles Ceremoniell kleinlich und die steife Etikette lächerlich.

Im Zimmer hätte Florian schwerlich sich zu Hermione's Füßen gelagert; ihr schwerlich Hand und Arm zum Spaziergange geboten; schwerlich an sie allein sein Wort gerichtet, wie er es im Freien that, als Staffard mit Frau Bell und Georg mit Claudine vorangegangen waren.

Man trennte sich erst spät und Florian hatte beinahe vergessen, daß er auf diesen Höhen des Jura, als Flüchtling, wohne.


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