Heinrich Zschokke
Jonathan Frock
Heinrich Zschokke

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Das Wort »gelobtes Land« war genug, Alle zu begeistern. Die alten Entwürfe der künftigen Einrichtungen wurden wieder lachenden Mutes gemustert und verschönert. Der Major redete von den Tagen seines Alters mit rührendem Entzücken. Er lebte nur für seine Töchter, und bisher hatte er für sie nur die düstersten Aussichten gehabt.

»Bin nun geborgen, kann meine Augen einst sorgenfrei schließen; werden wenigstens nicht mit dem Mangel ringen müssen!« sagte er. »Aber Eins, ihr Mädchen, fehlt noch. Das vergesset mir nicht zu geben, ehe ich abfahre. Ein paar Schwiegersöhne, die mir wohlgefallen und meine rechten Söhne werden.«

»Bleiben Sie doch ohne Kummer für mich, Väterchen«, sagte Leonore lachend: »mit mir sollen Sie zufrieden sein. Und Josephine da? Sehen Sie doch, wie die beiden hier Hand in Hand, Aug' in Auge wurzeln? Haben Sie in Ihrem Leben schon dergleichen erlebt und gesehen, Väterchen? Machen Sie Ihren Jonathan zum Sohne, wie froh wäre ich mit solchem Bruder!«

Josephine zog errötend die Hand aus der Hand des Nachbars, und sagte erschrocken: »Ich glaube wahrlich, Mädchen, du hast einen Rausch, einen argen!«

»Jonathan, Jonathan!« rief der Major, und drohte scherzend und bedeutungsvoll über den Tisch hinüber: »Ich merke Unrat! Was treibst du für Händespiel mit Josephinen, die du dich seit zwei Jahren kaum recht anzusehen getrautest? Komm einmal her; hierher zu mir! Es fällt mir etwas bei.«

Frock stand auf und ging zum Major. »Sei ehrlicher, Jonathan«, sprach dieser zu jenem, »sei ehrlicher jetzt, als du diesen Nachmittag gegen mich warst. Du liebst Josephinen?«

Es nahm Frock die Hand des Majors und preßte sie schweigend an seine Brust. Josephine erhob sich in schöner Verwirrung, sah rechts und links, und wollte davon.

»Halt, Mädchen, du bleibst!« sagte ihr Vater, »denn du sollst Rede stehen zu dem, was du mir diesen Vormittag gesprochen hast. Bleib. Es soll Alles ins Reine. Dann weißt du, woran du bist. Ich mag das Hangende und Schwebende nicht. – Und du, Jonathan, tu' den Mund auf und rede. Verdammt sei diese Schüchternheit, die uns um ein Haar Alle ins Unglück gebracht hätte. Du liebst Josephinen! Ist nicht dies dein Elend, das du nicht hast bekennen wollen, und das dich von uns zu treiben drohte?«

»Es ist mein Unglück!« sagte Frock, die Blicke düster auf die Seite gewendet: »Ich liebe sie. Wie hätte ich anders können? Das ist mein Elend!«

»Hol's der Geier, Jonathan, sprich endlich andere Sprache. Elend! Nun ja, hast geglaubt, du seiest arm, ich würde sie dir nicht geben. Bist du nicht reicher, als ich? – Hast geglaubt, du seiest ein Bürgerlicher, dürfest das Auge nicht zum Fräulein von Tulpen erheben. Wetter, bist du nicht adelichern Herzens, denn ich? Denk' doch an die goldene Dose! Hab' ich auch nur einmal so edel getan, wie du schon vielmals? Hast gemeint, ich verachte dich. Links gemeint, junger Herr. Diesen Morgen hab' ich's mit Schrecken und Freuden erfahren, was du ihr bist. Hab' dir's ja den Nachmittag auf die Zunge gelegt, daß du sie von mir fordern sollst. Aufdringen konnte ich dir doch mein Kind nicht! He! ist's nun noch Elend?«

Wie vorher starrte Frock vor sich hin. Indem rollte ein Wagen draußen. Des Postknechts Horn blies vor der Tür.

»Kannst warten draußen!« rief der Major, stand auf und umarmte Jonathan und Josephinen: »So muß es sein, ehe du wegfährst. Gott segne euch. Nimm sie, Jonathan, sie ist deine Braut; du bist mein Sohn.«

Sträubend lehnte sich mit schnellfliegendem Odem Frock zurück.

»Was«, lallte erschrocken der Major, »was ist denn?«

Josephine sah mit Entsetzen auf Frock hinüber.

»Liebst du sie nicht?« fragte der Major heftig.

»Ich darf nicht!« antwortete Frock.

»Darfst nicht? Wer verbietet es?«

»Sie werden, Sie können mir Josephine nicht geben; Josephine kann mich nicht lieben. – Ich bin kein Verbrecher. – Aber – ich bin – –« Frock zog bei diesen Worten ein versiegeltes Papier aus der Tasche und warf es auf den Tisch. Josephine war totenblaß. Leonore schrie laut vor Angst, weil sie von Allem nichts begriff.

»Still doch!« schrie der Major: »Was Teufels ist denn los? Jonathan, heraus, warum weigerst du dich, mein Sohn zu sein?«

»Herr Major«, sagte Frock mit einem Male sehr ernst und fest, »ich bete Josephinen an. Nie hab' ich ein anderes Mädchen geliebt. An mir nicht liegt die Schuld, daß ich des Glücks nicht teilhaftig werde, das mir Ihr Edelmut zudenkt; auch gewiß nicht am Schicksal.«

»Hol' der Geier die Vorreden!« unterbrach ihn der Major: »Heraus, woran liegt's denn?«

»An Ihren Vorurteilen, Herr Major.«

»Was Geier, Vorurteile?«

»Ich bin kein Christ!«

»Jesus Maria!« schrie Leonore.

»Ich bin in der mosaischen Religion geboren; ich bin, mit zwei Silben, ein Jude.«

»Ein Jude!« stotterte der Major verblüfft, und ließ die Arme niedersinken. Leonore sprang mit durchdringendem Schrei zu Josephinen, die neben einem Sessel niedersank. Frock sagte: »Lesen Sie das versiegelte Blatt! Lebt wohl, ihr Herrlichen! Lebe wohl, du mein Himmel!«

Er nahm Mantel und Hut, und stürzte zur Tür hinaus. Der Postknecht stieß ins Horn. Der Wagen rollte davon.

Der Inhalt des versiegelten Blattes, welcher als Fortsetzung oder Nachklang seiner Rede angesehen werden mußte, war wörtlich folgender:

»Ich bin ein Jude. Und mit diesem Geständnis, o ihr meine Geliebten, empfangt ihr die Auflösung zum Rätsel meines Betragens. – Welches Mädchen unter allen Christinnen würde mich beglücken wollen? Welche weltliche oder geistliche Behörde eurer Länder würde mich in öffentlichen Ämtern, oder auch nur in den Schulen der Christenkinder lehrend, dulden? – Ich bin ein Jude, das heißt, ohne etwas verbrochen zu haben, schweigend geächtet, weil ich von einem Volke abstamme, welches durch das Vorurteil der Jahrtausende bei Christen, Türken und Heiden geächtet und verachtet, und durch die ewige Verachtung erdrückt, leider oft verachtungswürdig geworden ist.

Ich bin von armen Eltern im Elsaß, die gleich tausend andern Glaubensgenossen durch das Vorurteil der Welt zum Handel, Wucher und Christenbetrug gezwungen wurden, um ihr Leben zu fristen. Meine Knabenjahre fielen in die ersten Zeiten der französischen Staatsumwälzung, als auch die Bekenner der mosaischen Religion zum ersten Mal das Recht empfingen, unter Menschen Menschen in vollem Recht, und in einem großen Staate Bürger zu sein, und nicht ausgebannte, nur großmütig geduldete, fremdartige Geschöpfe.

In den Wirbeln der bürgerlichen Stürme ward ich als Trommelschläger, da ich noch lange nicht das mündige Alter erreicht hatte, von meiner Heimat weggerissen. Ich sah die betagten Eltern nie wieder. Aber meine Jugend, meine unbesonnene Herzhaftigkeit, mein natürlicher Verstand erwarben mir Freunde. Ich war Bedienter eines Obersten, der nachmals unter den französischen Feldherrn einen ehrenvollen Namen erwarb, und mich so lieb gewann, daß er meine Verwilderung in den Feldlagern bedauerte. Er ließ auf seine Kosten in den Schulen einer französischen Grenzstadt meine Lernbegier befriedigen. Da empfing ich eine Bildung des Geistes und Herzens, welche zu meiner künftigen Stellung in der Welt außer allem Verhältnis war.

Meine wissenschaftliche Erziehung blieb unvollendet. Hätte ich mich der Arzneikunde widmen dürfen, würde ich vielleicht in irgend einer großen Stadt ein ehrenvolles Dasein haben führen können. Der Feldherr aber, mein Gönner, rief mich wieder zu sich, und machte mich zu seinem Geheimschreiber. Ich blieb bei ihm, bis ihn die tödliche Kugel traf. Ohne Beruf, ohne Aussicht, wählte ich das Kriegshandwerk, trieb mich lange bei den Heeren umher und auf den Schlachtfeldern, und bereicherte mich im Anblick so vieler Erbärmlichkeiten der Völker und ihrer Großen, und der auf Erden allein waltenden Leidenschaften und Vorurteile, mit einer trostlosen Weisheit. Ich tat überall wie ich sollte, um mir wenigstens das Bewußtsein meines innern Wertes zu retten, und leistete Verzicht auf äußere Anerkennung desselben. Das Leben Jesus des Christs hat auf mein Inneres und dessen Veredlung am meisten gewirkt. Er war ein Israelit; er blieb es. Zwischen Himmel und Erde ist nie ein Größerer erschienen, als er, weder an Weisheit, noch Tugend, noch Mut. Jeder große Mann ist für sein Jahrhundert, höchstens für sein Jahrtausend groß unter gegebenen Verhältnissen. Jesus aber hat eine Größe, die von keinem Verhältnisse bedingt und auf keine Jahrtausende beschränkt ist. Doch würde er heut' erst unter den Christen erscheinen, sie würden ihn heute noch ans Kreuz schlagen, wie ehemals die Juden.

Ich machte es zur Aufgabe meines Lebens, zu werden wie Jesus: für das Innere das Äußere, für das Ewige das Nichtige, für die Ziele des Geistes die körperlichen, häuslichen und bürgerlichen Annehmlichkeiten zu opfern. Ich bin ihm nicht an Willen, nur an Mut und Kraft nachgestanden.

Mich ekelte das Kriegsleben an. Meinen einzigen Freund unter den Menschen, einen hoffnungsvollen Jüngling von Nancy, tötete eine Stückkugel an meiner Seite. Ich hatte mit meinen übrigen Kriegsgefährten im wüsten Leben viel Händel. Die Hauptleute waren ungerecht gegen mich. Ich lief zum Feind über, zog bürgerliche Kleider an, und ernährte mich vom Unterricht, den ich in Sprachen und andern Dingen gab.

Meines Bleibens war nirgends lange. Es fehlte mir nicht an Freunden und Freundinnen. Aber sie waren Christen und Christinnen. Hätten sie erfahren, ich sei nur ein Jude: schwerlich würden auch die Aufgeklärtesten unter ihnen einem heimlichen sonderbaren Ekel widerstanden haben, welcher sich ihrer unwillkürlich bemeistert hätte. Daher hütete ich mich, Verbindungen einzugehen, um bei künftiger Trennung weniger leiden zu müssen. Ich fürchtete die Freundschaft, weil sie für mich nur Schmerzen tragen konnte.

Auf feste Niederlassung, Anstellung und Verbürgerung in einer christlichen Stadt mußte ich, mit dem ersten Schritt, den ich in eine Stadt tat, Verzicht leisten. Vieler Orten wäre ich als Jude keinen Tag lang geduldet worden; anderer Orten hätte man mir höchstens Duldung, aber keine Niederlassung, kein bürgerliches Recht gestattet. Zu jeder solchen Handlung wäre immer notwendig gewesen, einen Auszug aus den Taufregistern vorzuzeigen. Ich war nie getauft. Was sollte ich sagen?

Peinigend griff das religiöse Verhältnis in die kleinsten Umstände meines Lebens und Webens ein. Läuteten die Glocken, zogen die Christen wie eine einzige Familie in ihre Tempel zum Gottesdienst, mußte ich meinen Gottesdienst einsam begehen in meinem Kämmerlein. Ich gehöre nicht zur großen Familie. Viele setzten an mir aus, daß ich nicht zur Kirche ging; Andere hielten mich für einen Aufgeklärten ihresgleichen, der ohne Religion lebe. Ich mochte weder das Eine, weil es Täuscherei war, noch das Andere, weil ich mich der Gesellschaft schämte. Immer war ich gedrängt, und mit meinen bessern Gefühlen, wie mit den bürgerlichen Umgebungen, im Zerwürfnis.

Eine Zeit lang trug ich mich mit dem Gedanken, wieder umzukehren und Jude in einer jüdischen Gemeinde zu sein, um meinem Volke ein Lehrer des Bessern zu werden, und es aus der geistigen Knechtschaft zur menschlichen Würde zu erhöhen. Aber dann bedachte ich, daß ich aller dazu nötigen Mittel entbehre. Ich hatte das Judendeutsch vergessen, wußte nichts mehr oder nur wenig von den üblichen Gebräuchen und Talmudischen Vorschriften und Lehren. Ich sah die Unmöglichkeit ein, mit bloßen Vernunftgründen den vieltausendjährigen Rost heilig gewordener Vorurteile hinwegfegen, und die Hartnäckigkeit roher, armer, geistig verkrüppelter Menschen zu besiegen, die, was sie sind, durch die barbarischen Ordnungen christlicher Gesetzgeber geworden sind. Die Rabbinen würden mich verflucht, die Juden mich verstoßen und gesteinigt haben. Unter Christen und Mohamedanern sind entstanden und entstehen noch neue Glaubensparteien. Bessere Einsichten, Wirkungen des Himmelsstriches, eigenes Forschen können dazu helfen. Aber man wird unter den Juden kaum von neuen Sekten und Glaubensspaltungen hören. Die gebildeten Juden sind nur, was die Verklärten unter den Christen.

Unaufgenommen von meinen Glaubensgenossen, und gedrängt von meiner Sehnsucht, unter europäischen Menschen Recht als Mensch zu genießen, hätte ich, bei meiner Hochachtung für Jesus, ein Christ werden und mich taufen lassen können. Doch ungerechnet, daß ich mich nie überwinden kann, in einer Aufsehen erregenden Feierlichkeit zu prangen, wäre ich mit meinem Taufschein überall nicht als alter Christ von christlichen Eltern, sondern als getaufter und bekehrter Jude erschienen. Es sträubte sich in mir Alles gegen solchen Namen. Lieber will ich Israelit sein und bleiben. Ich habe mich wahrlich dieses Namens nicht zu schämen. Moses war ein Größerer, als die ganze Kette der Päpste, als Luther und Calvin und Zwingli waren. Wohl selten ließ sich ein Jude aus Drang besserer Überzeugung, weit häufiger wegen gemeiner Vorteile, bei den Christen taufen. Mit Recht haftet daher auf den getauften Juden Vorwurf und Verdacht. Ein mutiger Bekenner ist mehr wert, als jeder Renegat und Mameluk.

Stärker noch, als alle diese Rücksichten, stieß mich ein anderer Umstand zurück, in eine der christlichen Kirchen überzutreten. Ich blieb im Zweifel, ob ich mit meinen innern Überzeugungen einer und derselben ganz angehören könne? Wenn Christus noch einmal erschiene, würde er wohl Katholik, oder Lutheraner oder Calvinist werden wollen? Eine Kirchenpartei der Christen tadelt die andere. Jede verteidigt sich gegen die andere. Dies ist aber weniger Frucht tiefer Überzeugung, als der Gewohnheit des mit der Muttermilch eingesogenen Glaubens. Wie viel gibt es der Starken, welche darin überwinden können?

Wäre ich lutherisch geworden, hätten mich Reformierte oder Katholiken belehren wollen; wäre ich katholisch geworden, hätten mich Lutheraner und Calvinisten im Irrtum gesehen. Jede Kirche beweiset ihrer Lehrsätze Wahrheit aus demselben Buche und mit denselben Stellen, aus welchen ihr die andern den Irrtum dartun. Ein Beweis, daß sie allesamt Einbildung und Menschenmeinung für Göttliches halten. Was Christus selber gegeben, darin sind sie alle ziemlich einträchtig. Christus gab aber Geist; tote Buchstaben legten seine Nachfolger hinzu. Nicht über jenen, nur über diese ist der Streit. Was kümmert mich der Buchstabe? Die Auslegung von Dingen, die für meines Geistes Erhebung ohne Frucht sind? die Annahme von Sätzen, welche im Unbegreiflichen liegen? die Beobachtung von Feierlichkeiten, welche willkürlich sind und nach den Stufen der Einsicht, auf denen die Völker stehen, oder nach den Himmelsstrichen, unter denen sie wohnen, notwendig andere sind?

Christus ist ein Lehrer in göttlichen Dingen; kein Moses, kein späterer Prophet, kein Rabbi, kein Papst ist höher. Ich glaube, wie er; ich will leben, wie er. Ich bin sein Nachfolger. Ich bin sein Jünger. In diesem Sinne bin ich Christ, und werde es bleiben; aber ich bin kein Katholik, oder Lutheraner, Zwinglianer, Calvinist, Mennonit, Grieche, Herrnhuter, Schwenkfelder, Socinianer, Wiedertäufer, mährischer Bruder, oder wie ihr Christen euch nennen oder taufen lasset. Aber Christus war das alles auch nicht. Er war, seinem äußern Bekenntnis nach, ein Jude. Der bin ich auch. Christus stand unendlich höher, als Moses; und ich stehe höher als Moses durch Christum. Daher hat das mosaische Gesetz den Wert für mich verloren, wie es ihn schon an sich selbst in den jetzigen Staaten- und Völkerverhältnissen und Klimaten verloren hat, und in seinem Bestand ein Widerspruch mit der Zeit ist.

Dies, ihr Geliebten, ist mein Glaubensbekenntnis. Ich kann nicht zu eurer Kirche übertreten und ein getaufter, noch weniger ein bekehrter Jude werden. Keiner eurer Mönche und Weltpriester, Prediger und Predikanten, Bischöfe oder Generalsuperintendenten kann mich bekehren. Ich gehöre weder zur griechisch- noch römisch-katholischen, weder zur anglikanischen noch evangelisch-lutherischen oder reformierten Kirche, oder einer sogenannten Brüdergemeinde. Ich bin schlechterdings nichts, als ein Schüler dessen, dessen Schüler ihr alle seid, ihr möget das Athanasische oder Augsburgische Glaubensbekenntnis auswendig gelernt haben. Ich bin aber kein Schüler eurer Päpste, eurer Luther, eurer Zwingli, weil ich mir einbilde, so viel von dem zu wissen, was zur Herrlichkeit des Ewiglebens und Gottähnlichwerdens gehört, als sie.

Nun richtet mich, o ihr meine Geliebten. Verdammen könnet ihr mich nicht, ohne euch selbst zu verdammen.

Ausgestoßen von dem Volk, von welchem ich herstamme; ausgestoßen durch meine Herkunft von den Christen, bin ich unter Juden und Christen ein Fremdling. Ich gehöre in keinen häuslichen oder bürgerlichen Kreis jetziger Menschen. Ich bin religiös, aber die Religionen der Menschen verfolgen mich, wohin ich trete. Ich zittere, mich den Gefühlen der Freundschaft und Liebe zu überlassen, da ich voraussehe, daß jeder meiner Freunde sich schämen wird, mit einem Juden Vertraulichkeiten zu haben. Und könnte mich je ein Mädchen lieben: welches möchte eines Juden Frau werden? Ich erhalte mich unter den Menschen, indem ich mich vor ihnen verberge; ich muß ihre Zuneigung meiden, weil ich sie nicht täuschen mag. Ich bleibe ohne Heimat, ohne Brot, ohne Liebe, weil das Vorurteil der Welt mir entgegentritt und die Pforten der Freude verschließt.

Ich werde Josephinen bis zum letzten meiner Seufzer lieben und beklagen. Beklagen, denn ich bin unschuldig an ihrem Leiden. Ich mied es, ihr die leiseste Teilnahme oder Neigung einzuflößen. Hab' ich gefehlt, so hab' ich nur gegen mich selbst gefehlt, daß ich schwach genug war, mich nicht früher von ihrer Nähe, von der teuern Eleonore, von dem wahrhaft ehrwürdigen Vater loszureißen. Wer ist neben Josephinen stark genug, oder bewahrt seine Grundsätze treu neben dem Zauber ihres Wesens? Ich büße meine Schuld schwer genug. Ich war einen Augenblick glücklich, und bin dafür mein volles Leben unglücklich. Ich fliehe, aber mit einem zerrissenen, blutenden Herzen. Lebet wohl!

Jonathan Frock.«

 

Er fuhr in einem wahren Fieber die winterliche Nacht hindurch und ohne Rast den folgenden Tag von Post zu Post, und die zweite Nacht und den folgenden Tag, und so ohne Verweilen, bis er den Ort seiner Bestimmung erreicht hatte, wo er die Geschäfte des Majors beendigen sollte. Er schien es darauf angelegt zu haben, seiner nicht zu schonen, sondern sich zerstören zu wollen. Aber er bewirkte mit diesen Anstrengungen und zerstreuenden Ermüdungen ganz etwas Anderes. Die Ungemächlichkeiten und Bedürfnisse der Gegenwart nahmen ihn zu sehr in Anspruch, als daß er sich den Erinnerungen an Vergangenes hätte ungebunden hingeben können. Er hatte durch diese Betäubung den ersten Schmerz weniger empfunden, und nach einer Reihe von Tagen nur noch stillwehmütiges Nachgefühl übrig behalten.

Mit um so mehr Fassung, Würde und Nachdruck konnte er sich den Angelegenheiten des Herrn von Tulpen widmen. Er besuchte die Ansprecher der Erbschaft; er besuchte die obrigkeitlichen Personen. Das Recht des Majors war allzu gegründet, als daß es nicht mit leichter Mühe hätte siegend dargetan werden können; aber war nicht entschieden genug, um nicht wenigstens Stoff zu einem kostspieligen, langwierigen Prozeß geben zu können, welchen Richter, Amtsleute, Schreiber und Advokaten mit noch größerer Begierde wünschten, als die erblustigen Nebenbuhler des Majors.

Jonathan stellte diese – sowohl seine Gutmütigkeit als Beredsamkeit gewannen ihr Herz – mit Abtretung einer nahe bei dortiger Hauptstadt befindlichen Meierei zufrieden, die von den übrigen Gütern getrennt war. Doch dazu mußte er noch die schriftliche Einwilligung des Majors besitzen.

Er hatte diesem von Woche zu Woche über den Gang der Unterhandlungen briefliche Nachricht gegeben. Länger als fünf Tage war kein Brief unterwegs. Aber es verstrichen sechs und sieben Wochen, ohne daß vom Major Antwort kam. Das verursachte dem guten Frock tödliche Angst. Tausend Vorstellungen quälten ihn über das Schicksal der liebenswürdigen Familie, nach jenem letzten und schönen Abend. Er hielt es nicht länger aus, und beschloß, würde auch auf den Brief wegen Abtretung der Meierei nach vierzehn Tagen keine Antwort erfolgen, umzukehren nach der königlichen Stadt, möchte erfolgen, was da wolle.

Er war schon zur Abreise fertig, als der Brief des Majors endlich eintraf. Zitternd erbrach er das Siegel, und küßte er die Schriftzüge von der ihm teuern, ehrwürdigen Hand gezeichnet. Das Schreiben war folgendes:

»Lieber Jonathan, wir sind gottlob Alle gesund. Auch meine Josephine ist wieder hergestellt. Ich danke dir für deine großen Bemühungen. Ich habe die Schrift unterschrieben wegen der Meierei, und sende dir sie zurück. Nun ist die Erbschaftsgeschichte zu Ende. Schreibe dem Verwalter auf den Gütern, er solle Alles in Ordnung halten. Ich werde zu Ende Monats oder Anfangs des künftigen dort eintreffen mit meiner Tochter Leonore. Josephine befindet sich wohl. Sie will in ein Kloster gehen. Ich weiß nicht, was das Mädchen da will. Sie hat die Grille und beharrt darauf, ich und ihre Schwester sollen sie begleiten, und das verlangt sie auch von dir. Am 25. Hujus treffen wir also zu Arrfelden ein, und erwarten dich da mit einander im Wirtshaus. Fehle nicht, oder du bringst der armen Josephine den Tod. Es ist ihr ausdrücklicher Wille, du solltest noch dabei sein. Und wenn wir vom Kloster wieder abreisen, geb' ich dir mein Ehrenwort, will ich dich nicht länger halten, wenn du uns verlassen willst. Aber kannst du bei mir bleiben, Jonathan, so wirst du meiner alten Tage Freude sein. Es ist ein dummer Streich, was geschehen ist. Also am 25. Hujus in Arrfelden fehle nicht. Ich habe dir ohnedem noch etwas Wichtiges wegen der Erbschaft anzuvertrauen. Ich bleibe dein Freund und David.

Der Major von Tulpen.«

Unten am Brief und auf der folgenden Seite hatte Leonore nachstehende Zeilen beigefügt:

»Ach, lieber Herr Frock, Sie haben uns eine erschreckliche Nacht verursacht. Ich möchte dergleichen nie wieder erleben. Aber Josephinen ist jetzt wieder recht wohl. Möchten Sie durch Ihre Religion so ruhig, so gefaßt sein, als es meine Josephine jetzt ist. Daran läßt sich der Wert der Religion erkennen. Josephine hat nur den einzigen Wunsch, Sie noch einmal zu sehen und zu sprechen. Fehlen Sie also um Gotteswillen nicht, wenn Ihnen auch nur das Geringste an unserer Freundschaft und Achtung je gelegen war. Ich hätte Ihnen noch viel, o viel zu sagen, allein ich darf nicht. Das sollen Sie Alles in Arrfelden erfahren. Ihre treue Freundin

Eleonore von Tulpen.«

Dieser Brief kam so spät an, daß, um den bestimmten Tag in Arrfelden einzutreffen, kein Säumens war. Frock mit der Abtretungsurkunde in der Hand, erhielt die Verzichtleistung der gesamten Ansprecher auf die streitige Erbschaft, und die obrigkeitliche Bevollmächtigung für den Herrn von Tulpen, in den Besitz der Güter einzutreten. Damit versehen eilte er zu dem für die letzte Zusammenkunft bestimmten Ort.

Diese Reise war ihm trauriger noch, als jene, da er die geliebte Familie verließ. Er kannte nun zum Teil Josephinens Leiden und die betrübte Wirkung derselben in ihrem Entschluß, der Welt zu entsagen. Er sah einen noch schmerzlichern Abschied als den ersten vor. Doch das Alles hinderte ihn nicht, Josephinens Verlangen zu vollstrecken. Und hätte er das Leben darüber einbüßen können: desto besser.

Der Abend dämmerte schon, als er vor dem Wirtshause zu Arrfelden anlangte. Er hörte, der Major sei am Morgen mit seiner Familie angekommen, und habe sich zum Pfarrer beim Marienkloster mit den Seinigen begeben. Dort erwarte er den Herrn Frock. Die Ankunft desselben mußte dem Major auf der Stelle durch einen Eilboten gemeldet werden; die durch den Boten zurückkommende Antwort sollte entscheiden, ob Frock noch diesen Abend ins Kloster hinüber müsse, oder ob der Major ihn zu Arrfelden besuchen würde.

Es verging über dies Hin- und Hersenden mehr denn eine volle Stunde. Frock hatte beinahe Fieberfrost. Der Bote erschien und die Einladung, sogleich nach St. Marien zu kommen.

Frock stieg in den Wagen. Wie schlug sein Herz, als er im ungewissen Lichte des Mondscheins die weitläufigen Mauern und Gebäude und die Türme des Klosters erblickte; als er durch einen langen Schattengang von alten, hohen Ulmen und Linden hinfuhr, und dann der Wagen vor einem Hause, das zum Kloster gehörte, still hielt! – Er stieg ab. In dem Augenblicke läutete die Glocke des Kirchturms. Es war ein dumpfer, schauriger Klang; der Major trat aus dem Haus. Eine Magd zündete mit dem Licht, ein Knecht mit der Laterne. Der Major umarmte tief gerührt seinen Jonathan. Dieser konnte vor Traurigkeit nicht reden.

»Nicht wahr«, sagte der Major, »meine Josephine ist dir noch lieb, mein Jonathan?«

Frock konnte nicht antworten. Er drückte stumm die Hand des Alten.

»Geh' du voran«, sagte der Major zum Laternenträger, »und zünde. Gib mir den Arm, Jonathan. Sei meines Alters Stütze. Wir gehen jetzt zu ihr.«

Sie gingen mit einander durch den öden Klosterhof, und durch die stillen, kalten Kreuzgänge. Der Knecht öffnete die Kirchtür. Der Pfarrer stand, matt beleuchtet vom Licht der ewigen Lampe und einigen Kerzen, am Altare betend. In der Kirche beteten einige Bauern und Bäuerinnen. Indem der Major auf Frocks Arm gelehnt durch die Kirche schritt, kam ihnen Josephinen auf Leonorens Arm gestützt entgegen, mit gesenktem Haupte. Sie reichte dem zitternden Frock eine bebende Hand. Sie standen vor dem Pfarrer, der lauter die Stimme des Gebets erhob und an ihnen die Trauung vollzog. Frock wußte nicht, wie ihm geschah. Er hatte beinahe die Besinnung verloren.

Nach vollendeter Feierlichkeit ging es denselben Weg aus der Kirche zurück, nur mit dem Unterschiede, daß statt des Majors die anvermählte Tochter desselben ging. Aber wie sie in den Kreuzgang traten, sank Frock, von dem, was geschehen war, überwältigt, zu Josephinens Füßen nieder, laut schluchzend, mit aufgehobenen Händen. Alle weinten. Solche Freudentränen waren wohl in diesem Kloster, seit der Stiftung desselben, nicht geweint worden.

Josephine zog den Geliebten an ihre Brust empor und flüsterte: »Du bist mein!« – In den drei Worten ging dem Dulder Jonathan seliges Leben auf. Er fühlte sich zugleich von den Armen des Majors und Leonorens inbrünstig umfangen. Der greise Pfarrer stand neben ihnen, ohne daß sie ihn bemerkten. Er war ein alter Jugendfreund des Herrn von Tulpen, und hatte gern zu diesem Fest geholfen. Auch begleitete er sie zum Wirtshause in die Stadt zurück, wo das Hochzeitsmahl schon bereit stand. Denn Alles hatte der Major so selbst angeordnet und gewollt.

»Und hörst du«, sagte er zu dem entzückten Eidam, »meinst du, Halbchrist, du denkest christlicher, als wir, die wir in Wahrheit wissen, daß Gott nicht die Person ansieht, sondern daß in allerlei Volk, wer ihn fürchtet und recht tut, ihm angenehm ist? Nicht Alle, die da Herr, Herr! sagen und singen, sondern die den Willen tun des Vaters im Himmel, die sind Jesu Jünger. An unsern Früchten sollen wir erkannt werden. Weißt du es? Wir haben dich auch daran erkannt!«


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