Heinrich Zschokke
Jonathan Frock
Heinrich Zschokke

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Herr von Tulpen und seine Töchter lebten einfach und eingeschränkt in dem kleinen Hause der Vorstadt. Sie wohnten auch da nur zur Miete. Josephine, von ihrer jüngern Schwester unterstützt, besorgte die kleine Wirtschaft, und machte in der Tat aus Nichts Etwas. Sie war des Hauses Köchin, Gärtnerin, Wäscherin, Schneiderin – Alles in Allem. Der Major, ihr Vater, hatte wenig Bedürfnisse; aber mit dem Gelde wußte er doch nicht umzugehen. Daher überließ er Josephinen seine dürftige Einnahme, und damit wußte sie Alles zu bestreiten. Sie verstand das Haushalten, als Meisterin. Es fehlte Überfluß, aber auch Mangel. Es war im Hause nichts weniger, als Pracht; aber es herrschte Zierlichkeit, Auswahl und Sauberkeit, die mehr als Pracht waren. Sie kleidete sich mit ihrer Schwester ungemein schlicht; aber sie verstand sich auf das, was ihr in Farbe, Schnitt und Art des Gewandes und Schmucks wohlstand. Daher hielt man wohl den Major für reicher, als er war. Josephine hatte in der Stadt viele Bewunderer, unter dem Adel viele Anbeter. Sie war eine frische, aufblühende Lilie, voll Hoheit und Demut, und hatte in einem Alter von achtzehn Jahren mit den Tugenden einer jungen Hausmutter die Feinheit einer Frau von Welt, und jene Unschuld, die nur dem kindlichen Alter in aller Reinheit eigen ist. Daß sie früh für das Haus sorgen lernen mußte und darin Alles leistete, hatte ihr eine gewisse Selbständigkeit gegeben, welche sich in ihrem Wesen nicht verleugnen ließ, und Jedem, der ihr nahe kam, unwillkürliche Ehrfurcht einflößte. Schon einmal hatte ein junger Mann, sogar ein Graf, aus einem der angesehensten Geschlechter des Königreichs um ihre Hand geworben. Seitdem war der Registrator Burkhardt Freund ihres Vaters geworden und oft in das Haus gekommen. Er liebte Josephinen mit Leidenschaft, aber hütete sich wohl, ihr davon eine kleine Ahnung zu erwecken. Sie behandelte ihn mit einer Unbefangenheit, die ihm sagte, daß man ihn schätze, ohne ihm den unbedeutendsten Schritt einer weiteren Annäherung zu erlauben.

Burkhardt und Frock sahen sich in diesem Hause oft. Jener, vielleicht nicht ohne Eitelkeit, – und in der Tat war er einer der hübschesten Männer – duldete seine Zusammenstellung mit dem bescheidenen, schüchternen Frock gern, der auch nach einem halben Jahre und länger noch immer so zurückhaltend und fremd blieb, als er den ersten Tag gewesen. Aber es schien gar nicht, als wenn Frock in der Nähe des schönen Burkhardt verlöre. Josephine behandelte ihn mit derselben Gütigkeit, wie den Andern; ja, man hätte sagen sollen, mit einer höhern Zartheit, wie Mitleiden gegen einen Leidenden einzuflößen pflegt. Auch machte Leonore ihrer Schwester einst die Bemerkung: Burkhardt ist hübsch; Frock mit seinem Mondscheingesicht gar nicht; aber sieh', Josephine, wenn Frock spricht, dann sehe ich etwas Schöneres in seinen Zügen, als Burkhardt hat. Es ist etwas Wunderliebliches in Frocks Augen, in seinem Lächeln, in seinem Ernst; ich kann's dir nicht sagen. Burkhardts Schönheit ist mir, wie prächtige Levantine, aber undurchsichtig; Frocks Wesen wie dünne Gaze, durch welche etwas Herrliches strahlt, das ich liebe und nicht enträtseln kann.

Burckhardt ward ein halbes Jahr später zum Kanzleirat ernannt mit beträchtlichem Gehalt. Die freudige Teilnahme in der Tulpenschen Familie war groß; noch größer, als er eines Tages der Familie die Botschaft brachte, es sei ihm gelungen, durch seine Empfehlungen und seinen Einfluß dem guten Frock die Mehrzahl der Stimmen und selbst den Beifall des Ministeriums für die Registratorstelle zu verschaffen. Frock konnte nun, lebenslänglich versorgt, heiterer leben. Er habe sich nur dem Minister und den übrigen Räten vorzustellen, die ihn, nach den von Burkhardt vorgelegten Beweisen für den Mann hielten, welcher, durch Kenntnis, Talent und Redlichkeit, der Stelle am würdigsten sei. Zum Glück fanden sich diesmal dazu alle andern Bewerber etwas schlechter, als schlecht. Der alte Major war von der Freude gerührt, seinen Jonathan versorgt und beamtet zu wissen. Er fiel dem Kanzleirat um den Hals und rief. »Dank Ihnen, braver Freund! Wäre ich Gouverneur von der Hauptstadt geworden, es hätte mich nicht so groß gefreut.« Man sah es den beiden Fräuleins an, daß auch sie in der Fülle des Vergnügens dem Kanzleirat hätten an die Brust fliegen mögen.

Es war gerade an einem Mittwoch, und Burkhardt wußte wohl, daß Frock kommen würde. Man beratschlagte noch, wie man ihn auf die angenehmste Weise überraschen könnte mit der Nachricht, als er eben zu Leonorens Unterricht hereintrat. Nun umringten ihn Alle fröhlich; Jedes verkündete ihm das Evangelium; Jedes wünschte Glück. Man las in seinen Zügen angenehme Bestürzung. Dann dankte er dem Kanzleirat für seine Güte, den Andern für ihre Teilnahme; und mitten aus der Heiterkeit, die von seinem Antlitz leuchtete, ging er in schwermütigen Ernst über. Er erklärte, die Stelle wegen Mangels dazu nötiger Kenntnisse und Fähigkeit nicht annehmen zu können. Von allen Seiten widerlegt, sagte er: daß er zu solchem Amte keine innere Neigung fühlte. Man machte ihm auch hier so gründliche Einwendungen mit Berücksichtigung seines unsichern Broterwerbs, daß ihm zuletzt nichts übrig blieb, als mit einem Achselzucken zu bedeuten: er dürfe sich um das Amt nicht bewerben; höhere Ursachen, die er nicht angeben könne, versagten ihm das.

Nun ward trauriges Schweigen; es fragte Keiner weiter. Frock nahm, als wäre nichts geschehen, Leonorens Unterricht vor. Der Kanzleirat empfahl sich. Der Major warf sich, seine Pfeife rauchend, in den Sorgenstuhl, und Josephine nahm ihren Sitz am Fenster ein, nähend und horchend.

Auch in der Folge sprach Niemand weiter davon. Aber seit dem Tage schlossen sich Alle enger um den rätselhaften Dulder, der, ohne Vermögen, ein einträgliches Amt verschmähte, und sich das Leben mit Geschäften fristete, von denen er selbst oft sagte, sie wären ihm langweiliger und mühsamer, als Holzspalten. Man schien durch herzliche Teilnahme das geheimnisvolle Schicksal vergüten zu wollen, das ihn quälte. Selbst Josephine, sonst zurückhaltend, nahte sich ihm schwesterlicher. Er aber blieb unabänderlich derselbe; gegen das schöne Fräulein so fremd und gut, wie gegen den Major. Nach Jahr und Tag war er, wie den ersten Tag.

Nicht so blieb das Verhältnis gegen Burkhardt. Dieser hatte Gelegenheit genug, aus tausend Kleinigkeiten wahrzunehmen, daß Alle dem stillen Frock mehr, als ihm zugetan waren. Nun durch seinen Stand, reichern Gehalt und Rang wohl zu kühnen Hoffnungen berechtigt, und vertraut mit der Dürftigkeit des Majors, faßte er den Entschluß, um Josephinens Hand zu werben. Dem Major offenbarte er sich zuerst, und dieser hörte ihn mit Vergnügen an. »Ganz gut! Mein Ehrenwort haben Sie; wenn das Mädchen Sie will, geb' ich es Ihnen. Sie sind ein kreuzbraver Mann; das sag' ich allemal. Aber fangen Sie es mit Josephinen geschickt an. Sie hat ihre Eigenheiten. Gewinnen Sie ihr Herz, dann haben Sie Alles. Aber ein Antrag voran, das hieße Alles verderben. Ich werde ihr kein Wörtchen von dem sagen, was Sie mir vertrauten.«

Burkhardt wagte nun, sich dem Fräulein mit größern Aufmerksamkeiten zu nähern. Josephine aber schien schon seit geraumer Zeit kälter ihm gegenüber zu stehen, als sonst. Das war unverkennbar. Ein Grund ließ sich davon nicht einsehen. Burkhardt klagte es dem Major. Dieser war einen Augenblick verlegen, nahm ihn bei der Hand, führte ihn – denn das Gespräch ward im Gärtchen hinteren Haus gehalten – in das Zimmer zu seiner Tochter, und sagte: »Höre, Josephine, ich habe dem Kanzleirat kein Wort gesagt, aber sag' du's ihm. Hat er's getan, nun, so hat er's doch nicht übel gemeint; deswegen müßt ihr nichts wider einander haben. Führ' ihn vor die Kommode, und damit hat das Ding ein Ende.«

Das Fräulein ward feuerrot, und schien mit dem Befehl des Vaters nicht zufrieden zu sein. Aber sie gehorchte. Sie ging mit dem Kanzleirat in ein Nebenstübchen, schloß eine Kommode auf und, indem sie auf einige Stücke feiner Leinwand, auf einige Stücke Indienne und Satin, und auf einen Brief zeigte, welcher die Aufschrift an den Major und den Beisatz: beschwert mit dreißig Louisd'or, hatte, sagte sie: »Ich muß Sie bitten, diese Geschenke, welche Sie uns bald am Geburtstage meines Vaters, bald an Leonorens, bald an meinem Geburtstage durch die Post schickten, wieder anzunehmen. Ich ehre das Zartgefühl, mit dem Sie sich als Geber verbargen, und die Freundschaft, welche Sie zu so kostbaren Geschenken verleitete. Wir aber dürfen sie nicht behalten, weil wir dergleichen nicht erwidern können.«

Burkhardt sah mit Erstaunen den Schatz der Kommode an, als er Josephinens Worte hörte. »Ich bezeuge Ihnen, mein teures Fräulein«, sagte er endlich, »als redlicher Mann, daß ich Sie gar nicht verstehe. Ich habe an dem Allem keinen Teil gehabt. Sie werfen falschen Verdacht auf mich.«

»Herr Kanzleirat«, erwiderte Josephine, und beobachtete ihn mit ernsten, etwas feuchten Blicken und hochgeröteten Wangen: »Ich kann Sie als unsern Freund, aber nicht als unsern Wohltäter sehen. Ich beschwöre Sie, wollen Sie das alte Verhältnis herstellen, so nehmen Sie die Sachen zurück. Alles liegt hier unberührt, und wird nie von uns berührt werden. Kein Anderer hat es uns gesandt, als Sie. Nur Sie konnten es, nur Sie wußten die Tage, und auch wohl die Augenblicke, wenn mein Vater in einiger Geldverlegenheit sein konnte.«

Auf dies Alles wiederholte Burkhardt seine erste Aussage, und mit so vielem Ernst, daß Josephine beinahe irre ward. Doch fühlte sie wohl, er könne jetzt kaum anders reden. Sie gingen zurück. Das Betragen des Fräuleins änderte sich nicht.

Josephine hatte längst umhergeraten, von wem die Geschenke kommen möchten. Wäre es der Kanzleirat nicht, so hätte es wohl der verliebte Graf sein können, der sich vielleicht wieder einschmeicheln wollte. Frock war ihr nicht verdächtig gewesen. Nun aber Burkhardt sich ernstlich von aller Schuld rein wusch, stieg doch der Argwohn bei ihr auf, daß Frock vielleicht der Geber sein möge. Sie beobachtete ihn mit schärferen Blick, und eines Tages, da er Leonorens Unterricht beendet hatte, mußte er Josephinen ins Nebenstübchen folgen.

Sie zog die Schublade der Kommode hervor, zeigte auf die darin liegenden Sachen und sagte: »Herr Frock, seit vielen Monaten kommen meinem Vater Geschenke zu von Zeit zu Zeit für ihn oder uns Mädchen; wir wissen nicht, von wem. Sie bleiben unberührt. Ich hatte den Kanzleirat in Verdacht. Er leugnet. Mir sollte es leid tun, wenn ich den trefflichen Mann unverdient kränkte. Helfen Sie mir auf die Spur, wer dies sandte und sich zu unserm Wohltäter aufdringen will?«

Frock stand errötend mit gesenkten Augen neben ihr. »Sie reden etwas hart, liebes Fräulein. Wissen Sie denn auch, ob der, welcher diese Dinge schickte, Wohltäter oder Abzahler einer Schuld sein will? Ist er ein Schuldner, so sehe ich nicht ein, warum Sie die Zahlung anzunehmen weigern? Gegen Wohltaten und Almosen haben Sie das Recht, stolz zu sein.«

»Lieber Frock«, sagte Josephine, und betrachtete ihn mit durchdringendem Blick: »sind Sie es selbst gewesen? Reden Sie redlich!«

»Verdammen Sie mich, Fräulein. Ja, ich bin es gewesen. Ich habe gefehlt, daß ich es so linkisch anfing, und Sie mit Kleinigkeiten in Verlegenheiten setzte, um mir Verlegenheiten zu ersparen. Wollen Sie nun das Alles wieder zurückgeben?« fragte er mit weicher, bittender Stimme.

»Nein, nun behalt' ich Alles, Alles!« sagte Josephine, und Tränen fielen aus ihren Augen, mit denen sie ihn anlächelte, während sie mit beiden Händen seinen Arm dankbar und sanft drückte: »Ihnen kann es nicht einfallen, unser Wohltäter sein zu wollen. Sie sind unser Freund. Aber, nicht so: Sie versprechen mir, uns keine ähnlichen Geschenke mehr zu machen? Sie sind ein Verschwender!«

Als beide zurück ins Zimmer kamen, sah Leonore erschrocken die weinenden Augen ihrer Schwester. Im gleichen Augenblick trat auch der Major herein. »Was gibt's?« fragte dieser verwundert. Josephine umarmte ihren Vater, und sagte: »Bedanken wir uns bei dem guten Frock; er hat uns mit den Kostbarkeiten in der Kommode beschenkt. Dem Freund zu Ehren wollen wir uns nun damit kleiden.«

»O lieber, lieber Herr Frock!« sagte entzückt Leonore, und legte sich schmeichelnd an ihn: »Aber die Indienne zu meinem Geburtstage war auch gar zu schön!«

 

Mit dieser Aufklärung war in der Tat das alte Verhältnis zwischen Burkhardt und dem Fräulein wieder hergestellt. Ja, Josephine war weit gefälliger gegen ihn, als vormals, wie wenn sie ein Unrecht an ihm gut zu machen hätte. So glücklich aber Burkhardt sich bei dieser Veränderung fühlte, blieb ihm doch unbegreiflich, daß die Frauenzimmer ohne Widerwillen, was sie von ihm nicht angenommen haben würden, dem ärmern Frock nicht ausgeschlagen hatten. Sie verarbeiteten das Linnen mit sichtbarem Vergnügen, und bereiteten sich neue Kleider, bei deren Verfertigung Frocks Name unaufhörlich genannt wurde. Burkhardt sagte einst zu Josephinen: »Sie nahmen von Herrn Frock die Geschenke: von mir hätten Sie sie verschmäht. Ich wage es kaum, Ihnen etwas anzubieten, aus Furcht, Sie zu beleidigen. Aber doch könnt' es mir weh' tun, daß Sie mich zurücksetzen.«

»Nicht doch, lieber Herr Kanzleirat. Ich schätze Sie so sehr, wie den guten Frock. Bieten Sie mir nun nur etwas an; ich will es nicht ausschlagen, das sollen Sie sehen. Aber zuviel darf es nicht sein. Zum Beispiel die Nelke da, die Sie im Knopfloch tragen.«

»Darf ich Ihnen nichts Besseres anbieten, liebenswürdiges Fräulein?«

»Aber nicht zuviel.«

Er lehnte sich ihr zu und flüsterte: »Was ich habe und bin, nehmen Sie Alles und mich selbst.«

Josephine zog sich errötend zurück und sagte: »Herr Kanzleirat, das ist zu viel!«

Er sprach offener, dringender. Der Major kam wie gerufen dazu, und gab auch sein Wort drein. Josephine im Gedränge sprach mit etwas feierlicher Stimme: »Ich finde mich durch Ihre Freundschaft geehrt, Herr Kanzleirat; aber ich bitte Sie, von allem Andern zu schweigen. Es würde unsere Zufriedenheit stören. Wir wollen tun, als wäre nichts gesprochen worden.«

Josephine freilich konnte wohl so tun, aber nicht der betrübte Kanzleirat. Er mied von dem Tage an das Haus, in welchem er die besten Hoffnungen seines Lebens verloren hatte. Nach einem Vierteljahr hörte man, er habe sich vermählt. Der Major sagte mit unzufriedenem Blick auf Josephine: »Das tat der arme Schelm aus Verzweiflung.«

Obwohl Frock nur der einzige Hausfreund war, kam er darum weder öfter, als Sonnabends und Mittwochs regelmäßig, oder wenn er allenfalls eingeladen war; noch änderte sich sein Wesen, das jede engere Vertraulichkeit zu fliehen schien. Nur mit Leonoren, seiner Schülerin, war er ungebundener; aber Leonore hing auch mit aller Zärtlichkeit und vergötternden Leidenschaftlichkeit an ihm, deren ein zwölfjähriges Mädchen fähig war, das sich selbst noch nicht verstand. Für ihn erzog sie Blumen; für ihn sann sie auf kleine Überraschungen; ihm sah sie mit Ungeduld entgegen, wenn er um eine Viertelstunde zu spät kam; von ihm hatte sie Träume. Die Mittwoche und Sonnabende waren ihr Festtage.

»Sehen Sie, Herr Frock, lieber Herr Frock!« sagte sie eines Tages: »Sie sind recht gut. Aber Josephine sagt doch, Sie wären nicht glücklich. Und Sie sind es auch nicht. Sagen Sie, was fehlt Ihnen?«

»Ich bin glücklicher, als ich es zu sein verdiene.«

»Ist das auch wahr?«

»Gewiß, Fräulein.«

»Sehen Sie mir auch recht in die Augen, Herr Frock! – Ach! Da ist ja doch etwas Trübes! Nun seien Sie mir ganz still. Ich will Sie etwas recht Ernsthaftes fragen. Warum gehen Sie gar nicht in die Kirche?«

»Wie hängt das mit dem Glück zusammen?« sagte Frock.

»Das fragen Sie? Haben Sie nicht selbst gesagt, mehr als einmal: ohne Religion sei kein Glück? Wer mit Gott sei, der könne nicht unglücklich werden?«

»Aber, Fräulein, die Kirche ist nicht die Religion, und Gott wohnt ja allenthalben.«

Leonore dachte nach, schüttelte den Kopf und erwiderte: »Sie wissen immer etwas, wogegen ich nichts einwenden kann; und ich fühle doch, Sie haben diesmal wohl Unrecht. Sie könnten ein recht heiliger Mensch werden, wenn Sie in die Kirche gingen.«

»Was Christus nicht heiliger, als wir, Fräulein? Sagen Sie mir aber, ging er in die katholische, oder lutherische, oder reformierte Kirche? Wenn Sie mir bestimmt sagen, wohin er ging, so will ich ihm dahin folgen.«

Leonore wußte nicht, was sie antworten sollte. »Er war nicht katholisch«, sagte sie, »reformiert auch nicht, lutherisch auch nicht. – Was sind Sie denn aber? Wie, sind Sie nicht von unserer katholischen Kirche? Sind Sie vielleicht«, setzte Leonore schüchtern hinzu, »wohl gar lutherisch? O nein, das sind Sie nicht. Sagen Sie nein.«

»Würde ich weniger Wert in Ihren Augen haben«, erwiderte Frock, »wenn ich nicht zu Ihrer Kirche gehörte?«

»Ach, das ist traurig!« seufzte Leonore, und schluchzte bitterlich. Frock konnte sie kaum beruhigen.

Als er das folgende Mal wieder kam, sah ihn Leonore ernsthafter an, als gewöhnlich. Er bemerkte in ihr sonderbare Ängstlichkeit mit Mitleiden vermischt. Er zog ein Buch hervor, gab es ihr und sagte: »Dies wird Sie vielleicht am besten belehren und beruhigen.«

»O wenn das je möglich wäre!« sagte Leonore mit Heftigkeit. Sie nahm das Buch. Es war Lessings Nathan der Weise.

 

Sei es, daß dies vortreffliche Buch, oder natürlich leichter Sinn, Leonorens Gewissensfrage besänftigte. Sie söhnte sich mit dem Gedanken wieder aus, daß Frock ein Ketzer sei. Heimlich aber machte sie doch Anschläge, ihn zu bekehren. Das hoffte sie am besten zu erreichen, wenn sie ihn bereden würde, mit ihr Sonntags oder auch wohl während der Woche einmal in die Messe zu gehen.

Inzwischen traf ein ganz unerwartetes Ereignis ein, welches alle Bekehrungspläne zerriß. Der Major trat eines Morgens odemlos in Frocks Stube, umarmte ihn und sagte: »Nun Freund Jonathan, nun kann dir dein David Alles wieder erstatten; nun deine Liebe vergelten. Denk' auch! Sieh' hier den Brief! Der kommt vom Stadtrat da, in – nun kurz, Dings da, gleichviel! Mein Vetter, der alte Generallieutenant – ei du weißt ja, der Dings da, ich habe dir erzählt, wie er bei Dings da blessiert ist – nun, er ist gestorben, hat keine Erben, bin von Rechts wegen und durch seinen letzten Willen einziger Erbe aller seiner Güter. Gott habe den Vetter Dings da selig! Aber wir waren immer gute Freunde. Bin ein reicher Mann. Lies auch! Schreiben, ich soll kommen, oder statt meiner einen schicken – nun, verstehst's ja besser, als ich, so einen Dings da zu nehmen, der die Sache in Richtigkeit bringe. Hol's der Geier, es sind da Weiber und Advokaten, welche Einspruch tun. Wenn's nur nicht schief geht, und mir die Freude wieder zu Wasser wird. Verstehe nichts von Juristerei; bin alt; im rauhen Winterwetter möchte ich auch nicht reisen.«

Frock las den Brief. Die Sache war, wie sie Herr von Tulpen gesagt hatte, die Erbschaft bedeutend, aber sowohl das Testament, als das Näherrecht zum Erbe, durch eine Seitenlinie von den Verwandten des Verstorbenen angefochten, die sogar seinen Namen führten. Frock versprach dem Major, er selbst wolle dahin reisen und die Sache ins Reine bringen. »Bis zum Frühjahr ist's hoffentlich abgetan; dann können Sie mit den ersten Tagen Ihre Güter beziehen!« sagte Frock, packte seine Bücher ein und fing sogleich mit dem Major das Verhör über dessen Verwandtschaft zu dem Verstorbenen an.

Inzwischen, ehe alle zur Entscheidung des Streites nötigen Papiere zusammengebracht waren, verstrichen einige Wochen. Frock war in dieser Zeit, da er seine bisherigen Bureaugeschäfte aufgab, fast alle Tage im Hause des Majors. Welche Pläne wurden da gemacht, welche Träume! – Leonore und Josephine malten sich den Himmel in die Zukunft; die Farben, die im Regenbogen lodern, waren ihnen viel zu matt. Und Frock, das setzten beide so gut, wie ihr Vater voraus, Frock stand in allen Planen, in allen Träumen. Wie konnte der Mann fehlen, der nur allein nicht wußte, daß er zum Glück der Übrigen unentbehrlich geworden?

Selbst Josephine, die feinberechnende Kennerin ihres Wirkungs- und Lebenskreises, von deren Beifall am Ende doch Alles abhing, und die von Allen angebetet ward: selbst Josephine verhehlte ihrem Vater gar nicht, daß auch Frock notwendig die Hauptstadt aufgeben und mit ihnen ins gelobte Land ziehen müsse. Ohnedem wären wir – das war ihr Ausdruck – ohne Segen! – »Du hast das rechte Wort getroffen!« rief Leonore: »Haben Sie es gehört, lieber Vater? Ohne Segen!« Der Major brummte: »Versteht sich!«

»Aber« sagte Josephine, und stieg von ihrem Fenstersitz, und umschloß mit beiden Armen den alten Major, »aber, Vater, wird er sich auch dazu entschließen? Er hat nie ein Wort dazu gesagt, so oft wir ihm auch in unsern Entwürfen Hauptrollen gaben. Lieber Vater, Frock ist ein sehr eigener Mann. Ich bitte Sie, lassen Sie sich von ihm das Versprechen geben, uns zu begleiten.«

Herr von Tulpen wunderte sich ein wenig über die Ängstlichkeit Josephinens. »Mir ist aber wirklich bange!« sagte sie.

Sobald Frock kam, war des Majors erstes Wort: »Freund Jonathan, meine Mädchen wollen mir Schrecken machen, als könntest du tolle Streiche treiben, und uns verlassen, wenn wir nach Dings da reisen. Es ist keine Rede davon, gelt? Du machst dir aus dem Leben in der Hauptstadt nichts, und ziehst mit uns auf die Güter, und bleibst bis ans Ende der Tage. – Suche du dir, als Quartiermacher deine Wohnung, deinen Garten, Alles selbst und vor Allem aus. Wir Andern nehmen vorlieb mit dem, was du uns anweisest.«

Frock beugte sich dankend. Er verfärbte sich. Man sah, es ging in ihm etwas Schmerzliches vor.

Leonore sprang mit lautem Schrei und ausgebreiteten Armen gegen ihn, drückte sich fest an ihn und rief. »O lieber Herr Frock, nicht dies Gesicht, nicht dies Gesicht! Es ist ein Todesengelsgesicht. Ich kenn' es schon.«

Josephine hatte ihn gesehen, und setzte sich erblassend nieder. Sie zitterte. Von Zeit zu Zeit schlug sie die Augen gegen Frock auf.

»Reden Sie doch!«, rief Leonore: »Sie bleiben bei uns, unzertrennlich! Sagen Sie um Gotteswillen Ja!«

Frock legte beide Hände aufs Herz und mit einem Blick, mit dem er voraus um Verzeihung flehte, sprach er: »Das kann ich nicht!«

»He!« schrie der Major erschrocken: »Bin ich nicht dein David? Und du willst mich verlassen, Jonathan? Scherze doch nicht mit uns; du siehst, wie jämmerlich solch ein Scherz uns zurichtet. Hand her, Kamerad; du wirst dein Leben bei uns auf den Gütern zubringen.«

»Ich kann nicht!« antwortete Frock halblaut, aber mit dem ihm eigentümlichen Ton der Entscheidung.

»Kannst nicht, Jonathan? Was hindert dich? Bist ja frei, wie der Vogel in der Luft. Kannst nicht? Possen da! Was hält dich in der Hauptstadt zurück? Sind wir nicht deine einzigen Freunde?«

– »Die einzigen.«

»Oder, he, sag's heraus: hat den jungen Herrn ein schönes Kind gefesselt? Spaß! wir fesseln das Ding da und nehmen es mit uns. Nur heraus mit der Sprache. Eine Geliebte?«

– »Keine.«

»Nun, was ist an der Hauptstadt gelegen?«

– »Nichts.«

»Und willst nicht bei uns bleiben und wohnen im gelobten Land, nachdem du unser Engel in den Jahren unsers Jammers gewesen?«

– »Ich kann nicht.«

»Warum aber nicht? Es muß doch ein Hindernis sein. Das Hindernis wird sich heben lassen! Weißt du, als sie bei Dings da meinten, es sei unmöglich, die Batterie zu nehmen? Setzte ich nicht mit meinen Grenadieren an, und nahm sie? Kostete freilich zehn oder so und so viel prächtige Kerls.«

– »Ich werde Alles für Sie tun; ich könnte sterben für Sie. Aber tun Sie auch etwas für mich. Lassen Sie mich frei ziehen, wohin ich will, sobald ich Ihre Erbschaftsangelegenheit berichtigt habe. Und reden wir doch nie wieder davon. Sie wissen nicht, wie Sie mir das Herz zerreißen. Ist Ihnen mein Leben, meine Gesundheit lieb, reden Sie nie wieder davon.«

»So fahre wohl, gelobtes Land!« schluchzte Leonore: »Vater, wir wollen dann hier in der Stadt bleiben.«

»Mir recht!« sagte finster der Major.

»Dann – dann«, stammelte Frock, »dann – werde ich in jedem Fall die Stadt verlassen. Heilige Pflichten rufen mich anderswo hin.«

Er war so bewegt, als er die letzten Worte sprach, daß er sie kaum vollenden konnte. Er beurlaubte sich, und versprach, nach einem kurzen Spaziergang wieder zu kommen.

Und wie er wieder kam, fand er sie Alle noch auf denselben Plätzen, wie er sie verlassen hatte. Der Major saß düster in seinem Sorgenstuhl; Leonore in einem Winkel mit verweinten Augen; Josephine ohne Tränen, aber etwas steinern. Es war in ihren Zügen etwas, das sich nicht beschreiben läßt; etwas Totes, Starres, bei aller Schönheit Grauenvolles. Leonore und ihr Vater sprangen auf, ihn schmeichelnd zu bewillkommen. »Hast dich eines Bessern besonnen, Jonathan, nicht wahr?« sagte der Major. Aber Josephine regte sich nicht.

»Sprechen wir von heitern Dingen!« sagte Frock. Aber die Versuche waren vergebens. Frock machte sich an die Papiere, und schrieb, bis es dunkel ward. Die Andern saßen stumm umher. Leonore weinte und nähete. Josephine starrte, ihr schönes Haupt auf die Hand gestützt, unbeweglich durch die Fensterscheiben hinaus, ohne die Vorbeiwandelnden zu sehen.

 


 << zurück weiter >>