Heinrich Zschokke
Jonathan Frock
Heinrich Zschokke

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Und doch hatte sich Frock aus derselben nicht entfernt, sondern nur eine Nacht im ersten besten Wirtshause zugebracht, dann anderes Tages bei einer alten Wittfrau ein Stübchen gemietet, und durch Intelligenzblätter dem Publikum seine Dienste angeboten, daß nämlich an der Marktgasse im Hause Nr. 1771, im ersten Stock, zu jeder Stunde des Tages, wer Schriften deutsch oder lateinisch schön kopieren, oder aus dem Deutschen ins Französische und umgekehrt übersetzen, Aufsätze und Briefe aller Art verfertigen lassen wolle, schnelle, billige und verschwiegene Bedienung finden würde.

Frock hatte sich also einen Erwerbszweig geschaffen, der ihn vor dem Hungertode bewahren sollte. Doch unterließ er auch nicht, fleißig in den Intelligenzblättern nachzulesen, wo man einen Hauslehrer suchte. Er war mit dem Letztern minder glücklich. Hingegen fand sich bald Kundschaft für sein Hilfs-, Schreib- und Kopier-Büreau, besonders als er diesen Titel, mit großen, doch zierlichen Buchstaben auf Polio-Royal vor dem Hause der Wittfrau ausgehängt hatte. Gelehrte brachten ihm ihre unleserlichen Manuskripte, um sie für die Druckereien abschreiben zu lassen. Dienstmägden und Handwerksburschen mußte er Briefe an hartherzige Verwandte oder treulose Geliebte machen. Andere verlangten Übersetzungen. Genug, es gab mancherlei Verdienst; und war dieser auch gering, blieb er doch zureichend, ihm die unentbehrlichsten Bedürfnisse zu befriedigen. Er gebrauchte wenig. Nach einigen Monaten mehrte sich seine Arbeit, als seine Geschicklichkeit und Billigkeit bekannter ward; besonders war sein Gedächtnis bewundernswürdig, das vorzüglich denen zu statten kam, die durch ihn Briefe schreiben ließen, und nachher meistens Datum und Inhalt vergessen hatten. Er hielt aber auch musterhafte Ordnung; denn von Allem, was er arbeitete, trug er Tag der Abfassung, Namen der Personen und wesentlichen Inhalt in ein eigens dazu bestimmtes Buch ein. Sein Geschäft, so mühsam es auch sein mochte – oft mußte er Nächte zu Hilfe nehmen – war bei dem Allem nicht ohne Unterhaltung. Er erfuhr da manches Geheimnis liebender Herzen, die Lebensangelegenheiten mancher ihm unbekannten Familie, und erweiterte damit seine Menschenkenntnis.

Er gefiel sich in dieser Unabhängigkeit. Ihm war, da er aus dem Schwarzischen Hause gegangen, als wäre er aus der algerischen Sklaverei in die selige Freiheit getreten. Bloß der Verlust seiner geliebten Zöglinge kränkte ihn lange. Doch überwand er den Schmerz, und den noch größern, daß er nun keine Seele hatte, an der er hing, und die er die seine nennen konnte. Es machte ihm eines Tages recht peinliche Empfindung, als ein ihm fremder Mensch eintrat, und eine mehrere Bogen lange politische Abhandlung auf der Stelle abgeschrieben zu haben wünschte. Er erkannte nämlich in der Schrift, die er kopierte, die Hand des Oberkriminalrats von Schwarz. Der Überbringer erklärte zugleich, er werde die Abschrift andern Tags abholen; schön solle sie nicht, sondern geschwind und flüchtig geschrieben sein. Er vollbrachte die Arbeit mit Ekel. Immer war ihm, bei jedem Blick auf die Vorschrift, als sähe er die verhaßte Gestalt seines ehemaligen Zwingherrn vor sich.

Gesellschaft besuchte er äußerst selten; teils mangelte ihm dazu Zeit, teils und mehr noch Geld. Der Gesundheit willen machte er wohl Lustgänge, frische Luft zu schöpfen. Öfter aber noch besuchte er die Nachbarschaften nah und fern bloß mit den Augen. Er hatte ein gutes Dollondsches Fernrohr, mit welchem er die Umgegenden musterte. Sein Zimmer ging hinten hinaus über eine Reihe Gärten. Im fernen Hintergrunde sah man die äußersten Gebäude einer Vorstadt, meistens armselige, kleine Häuser, die ans offene Feld stießen.

Dies unschuldige Vergnügen war dem genügsamen Einsiedler zuletzt wahres Bedürfnis. Es kann kein Astronom des Nachts mit dem Teleskop die Räume des gestirnten Himmels emsiger und genauer durchspähen, um einen den bloßen Augen unsichtbaren Kometen, oder einen neuen Planeten, oder die Gebirge der glänzenden Venus zu erforschen, als Frock alle Tage die Gegenstände seines Gesichtskreises Stück für Stück musterte. Endlich trat er mit dem Fernrohr sogar regelmäßig zu bestimmten Stunden an das Fenster, er mochte auch noch so viele und dringende Arbeiten auf seinem Tisch liegen sehen. Und kamen von seinen Kunden, er ließ sich nicht stören, sie mußten warten.

Wie man nachher erfahren hat, gab es dazu triftige Gründe. Er hatte die Entdeckung eines Sterns, und zwar einer Venus gemacht. Er beobachtete nämlich eins von den Häusern im entfernten Raum der Vorstadt. Das Haus war klein, aber artig; ihm nur von der Hinterseite sichtbar, wo im Hof ein Brunnen stand. Zu diesem Brunnen kam im Sommer gewöhnlich um sechs, im Winter um acht Uhr Morgens ein schön gewachsenes säuberliches Mädchen, und füllte einen Eimer mit Wasser, trug ihn ins Haus, und wiederholte das Geschäft einige Male. Zuweilen geschah dies auch Nachmittags ein Uhr. Die Beschäftigungen des Mädchens beim Brunnen waren sehr abwechselnd. Zum Beispiel, es wusch Kraut oder Salat, manchmal sogar Gesicht und Hals des Morgens. Und was die Jungfrau – denn dafür hielt sie der Fernseher – auch irgend verrichten mochte, Alles geschah mit einer ungekünstelten Anmut, die den Beobachter für sie eingenommen haben würde, auch wenn ihr Gesichtchen weniger schön gewesen wäre. Daß die Wasserträgerin aber schön sei, hätte sich der Astronom schwerlich ausreden lassen. Ihr dickes, goldenes Haupthaar, welches gewöhnlich unter einer feinen, schneeweißen Haube lockig hervorquoll, ihre mildroten Wangen, die schöne Zeichnung der Nase und des kleinen Mundes sprachen allerdings für seine Behauptung. Er glaubte ihr aber sogar genau in die blauen Augen sehen und durch die Augen ins heimliche Herz blicken zu können. Nun muß Jedermann gestehen, daß er darin etwas zu starkgläubisch war. Wer hätte auch je mit Hilfe eines Fernrohrs Entdeckungen in einem Mädchenherzen gemacht?

Frock aber ließ sich von seiner Meinung nicht abwendig machen. Seiner astronomischen Theorie zufolge war das Mädchen eine fleißige, häusliche Bürgerstochter, und keine gemeine Dienstmagd; sittsam, unschuldig, ernsthaft und sinnig. Nur ein einziges Mal unter zweihundert vierundsechszig sorgfältigen Beobachtungen glaubte er sie singen gehört zu haben, nämlich durch das Fernrohr. Ihre Stimme mußte wohl in der ungeheuern Entfernung verschwinden.

Anfangs hielt er sie für eine Wäscherin, denn er sah sie außer dem Wassertragen allwöchentlich mit Aufhängen und Trocknen der Wäsche im Haushofe bemüht. Zuweilen hätte er ihr gern geholfen, wenn ein Stück vom Seil fiel, das zwischen drei Bäumen ausgespannt war. Doch ließ er von seiner Hypothese ab, da er nach langen Erfahrungen eine regelmäßige Wiederkehr jedes Stückchens der schon gesehenen Wäsche bemerkte. Diese gehörte also einer und derselben Familie an. Der Zyklus, oder die periodische Wiederkunft der Schnupftücher, Hemden, Bettücher und so weiter vollendeten sich gewöhnlich in acht bis zehn Wochen. In der Familie, die zur Wäsche gehörte, mußten zwei erwachsene Frauenzimmer, ein Kind, eine Mannsperson sein. Aus dem Rauch, der von Zeit zu Zeit aus einem Nebengebäude hervorstieg, noch mehr aus den zuweilen von einer Dachöffnung des Hauses selbst niederwehenden blauen Linnen- oder Baumwolltüchern, die da ebenfalls zum Trocknen hingen, ließ sich mutmaßen, der Vater sei ein Färber. Die Konjektur stieg zur moralischen Gewißheit, als eines Tages ein ältlicher Mann mit aufgestreiften Hemdärmeln und ganz blauen Händen neben der schönen Wasserträgerin am Brunnen stand. Sie lächelte ihn sehr vertraulich und freundlich an. Dieser Anblick, nämlich des Lächelns, nicht der blauen Hände, entzückte unsern Astronom so innig, daß er auf seinem Observatorium nicht nur freudig mitlächelte, sondern auch den ganzen Tag lächeln mußte.

Ach, wie wenig ist doch vonnöten, einen Menschen glücklich zu machen.

So verstrichen dem armen Frock Jahr und Tag. Was soll ich von seinem einfachen, arbeits- und freudenreichen Leben erzählen? Jeder Tag wiederholte die gleiche Geschichte. Er war zufrieden. Er liebte. Er hatte wieder ein Wesen in der Welt, an das er gekettet war. – Nur Eins gehörte dabei zu den unbegreiflichsten Dingen, daß er nämlich aus sonderbarem Eigensinn sich nie die Mühe gab, die Färberin einmal in der Nähe zu bewundern, oder wohl gar ihre Aufmerksamkeit auf sich zu leiten. Denn daß sie durch das Fernrohr alltäglich betrachtet und geliebt würde, konnte ihr im Traume nicht beifallen; viel weniger noch wäre sie auf den Gedanken geraten, auch ihrerseits ein Teleskop in die Hand zu nehmen, um mit bewaffneten Augen den Mann auf dem Observatorium zu suchen. – Er blieb also von ihr ungekannt. Und, es ist kein Zweifel, er wollte es so. Jonathan Frock war ein Mann von eigenen Grundsätzen. Vielleicht hatte er auch schon die Erfahrung gemacht, daß gewisse Schönheiten nur in einer gewissen Entfernung gesehen werden müssen, um liebenswürdig zu bleiben. Und manches, das, in der Ferne gesehen, wünschenswert scheint, hört auf in der Nähe unser Glück zu machen.

Selbst aber das mäßige Glück, dessen er jetzt genoß, blieb ihm nicht lange.

Eines Abends ward noch spät angepocht. Er stand auf, kleidete sich an und öffnete einer fremden, höflichen Stimme die Türe, weil sie es dringend verlangte. Es trat ein Herr im grauen Überrock herein, einen Degen an der Seite. Hinter ihm standen Soldaten im Gewehr.

»Sind Sie Herr Jonathan Frock?« war die Frage.

»Allerdings!« antwortete derselbe sehr verwundert.

»Es tut mir leid, Ihnen ankündigen zu müssen, daß Sie auf Befehl des königlichen geheimen Oberpolizeidepartements verhaftet werden, und mir, nach Ablieferung Ihrer sämtlichen Effekten, folgen müssen, wohin ich Sie führen soll.«

Frock glaubte nicht wohl gehört zu haben. Er war in seiner Einsamkeit sich keiner andern Sünde bewußt, als daß er die schöne Färberin zu leidenschaftlich mit dem Fernrohr verfolgt hatte. Inzwischen galt hier kein Säumen oder Widerstreben. Zwei handfeste Polizeitrabanten traten herein, halfen einpacken und Alles versiegeln. Frock, ohne Verlegenheit und überzeugt, es walte Irrtum über seine Person, kleidete sich anständiger, und steckte, mit Erlaubnis des Gewalthabers, seinen geringen Geldvorrat und den Dollond zu sich. Wozu eben den letztern, läßt sich schwer erraten. Vielleicht hoffte er auf einen Gefängnisturm zu geraten, weitere Aussicht zu finden und mit Hilfe des Fernrohrs sein Herzgespiel, seine Gesellschafterin mit den goldenen Locken.

Er ging in der Nacht zwischen den Begleitern zum Bestimmungsort. Es war ein weitläufiges, hohes Gebäude, mit Zwischenhöfen, Kreuz- und Quergängen. Eine dicke, schwer verriegelte Tür ward aufgetan. Man führte ihn in ein kleines Gemach, angefüllt mit einem Bett, aus einer Matratze und Decke bestehend, einem Tischchen und einem hölzernen Schemel. Man wünschte ihm angenehme Ruhe, schloß und riegelte die Tür zu, und ließ ihn im Dunkeln allein. Die Ruhe war nicht angenehm, doch blieb sie nicht aus. Er schlief gegen Morgen, nach manchen sorglichen Betrachtungen, ein, aber dann desto fester und süßer. Man weckte ihn erst spät, und brachte ihm das Frühstück, eine schmackhafte, kräftige Suppe. Er war bisher nur gewohnt, ein frugales Morgenessen von Wasser und Brot zu halten. Das neue Wohnzimmer gefiel ihm auch, wegen der großen Reinlichkeit; aber desto schlechter die Aussicht durch das vergitterte Fenster in einen kahlen, öden, von klosterähnlichen Gebäuden umfangenen Hofraum. Weg war nun Vorstadt, Färberhaus und Wasserträgerin. Er hätte weinen mögen. Doch beruhigte ihn sein Gewissen. Er zweifelte nicht, das Mißverständnis bald zu lösen, welches ihn in diese Einsamkeit geführt haben konnte. Mittags erschien ein nahrhaftes Gericht, Brot, Fleisch, Gemüse; dazu frisches Wasser im Überfluß, den Durst zu löschen. So gut hatte er lange nicht gelebt. Und die Aussicht und die Langeweile abgerechnet, lebte er köstlicher als königlicher Gefangener, denn vormals auf seinem Büreau.

Nachmittags ward er zum Verhör geführt. Er stand vor einem schwarzbehangenen Tisch, an welchem einige gestrenge Herren der Oberpolizei saßen. Nachdem er um Herkunft, Namen, Alter, Wohnung, Gewerbe und dergleichen befragt war, legte man ihm eine kleine Druckschrift vor, und fragte ihn: ob er Verfasser derselben sei? – Er las sie. Der Inhalt schien ihm nicht unbekannt zu sein; doch konnte er sogleich und mit Zuversicht antworten: er sei der Verfasser nicht, denn in seinem Leben habe er von sich noch nichts drucken lassen. Man redete ihm ernstlich zu, der Wahrheit die Ehre zu geben. Er beharrte bei seiner Aussage.

Nun zog der Vorsteher einige beschriebene Bogen hervor, reichte sie dem Inquisiten, und fragte: »Kennen Sie diese Handschrift?« – Frock erkannte sie sogleich. Es war die seinige. Es war dieselbe Abschrift, welche er einst von einer politischen Abhandlung des Oberkriminalrats von Schwarz hatte verfertigen müssen. – Ohne sich zu bedenken, gestand er, es sei seine Handschrift; er habe den Aufsatz nicht selbst verfaßt, noch weniger ihn drucken lassen, sondern für Geld abgeschrieben, wie es sein Gewerbe mit sich gebracht habe. Auf die Frage: wer die Urschrift ihm zur Kopie gegeben? erwiderte er: ein Unbekannter, dessen Gestalt und Kleidung er wohl noch ungefähr bezeichnen könne, dessen Namen er aber nie gehört.

Die Verhörrichter schüttelten den Kopf. Frock hatte schon auf der Zunge, zu beichten, daß er die Urschrift für eine Arbeit des Herrn von Schwarz gehalten habe. Dadurch konnte er vielleicht mit einem Male aller Verantwortlichkeit entbunden werden. Auch hatte er keine Ursache, seines ehemaligen Quälers zu schonen. Aber er gedachte in diesem Augenblick der geliebten Zöglinge, die ihm noch immer teuer waren. Und er fühlte edel genug, sie nicht unglücklich machen zu wollen, indem er ihren, wahrscheinlich durch jene Abhandlung sehr fehlbaren Vater verriete. Er verstummte also, und ward in sein Gefängnis zurückgeführt.

Er ging noch einmal zum Verhör und wieder zurück. Die Polizei schien immer größern Verdacht auf ihn zu wälzen, daß er selber der Verfasser, oder doch mit demselben wohl bekannt sei. Denn unter hundert ihm vorgelegten Fragen hatte er einige vielleicht zu leichtsinnig beantwortet, und sich dadurch in Widerspruch mit sich selbst gesetzt.

Schon drei Wochen war er im Gefängnis gewesen, als abermals Wachen erschienen, nicht um ihn zum Verhör zu führen, sondern in ein anderes Gefängnis, und zwar in einen eigentlichen Kerker. Das behagte ihm da auf bloßem Stroh, bei Wasser und Brot, in ewiger Dämmerung, schlecht. Und doch schwor er in seinem Herzen, den Oberkriminalrat nicht unglücklich zu machen. Denn, dachte er, bleib' ich bei meinen Aussagen, was will man mir an? Hofft man, mich vielleicht durch Stroh und magere Kost zu einem offenen Geständnis zu zwingen? Die Herren irren. Ich halte es aus. Zuletzt müssen sie mich doch frank und frei lassen, und ich habe meinen geliebten Zöglingen Angst und bittere Tränen erspart.

 

Schon den andern Tag ward er aus dem Kerker wieder in ein angenehmes, heiteres, wohlgeziertes Zimmer versetzt; nur Gitterfenster, Schloß und Riegel der dicken Tür und die Schildwache davor ließen ihn bemerken, daß er noch verhaftet sei. Seine Speisen waren ausgesuchter, er empfing Wein dazu. Es stand ihm frei, sich Schreibgeräte und Bücher zur Unterhaltung kommen zu lassen. Man sagte ihm, das Alles geschehe auf Verwendung einer hohen Person, die an seinem Schicksal lebhaften Anteil nehme. Der gute Frock war mit dieser Teilnahme gar nicht unzufrieden, meinte aber doch, es geschähe ihm damit zu viel Ehre.

Wichtiger ward ihm, da er vor eine Kommission des Kriminalgerichts geführt ward, unter seinen Richtern auch den Herrn von Schwarz zu erblicken. Vermutlich glaubte dieser, nachdem er Frocks Betragen vor der Polizei erfahren, es habe derselbe seine Handschrift entweder nicht erkannt, oder vergessen. Mit schadenfrohem Blicke beobachtete Herr von Schwarz den eintretenden Inquisiten; und eben Schwarz schien durch seine Zwischenfragen Frocks Schuld anschaulicher machen zu wollen.

Der Verklagte merkte mit Unwillen die Frechheit des Mannes. Lange bekämpfte er seinen Zorn. Aber endlich, da Herr von Schwarz auch ein verdächtigendes Wort von der goldenen Tabaksdose hinwarf, blieb Frock seiner selbst nicht länger Meister. »Aus Schonung gegen meine ehemaligen Zöglinge, Ihre beiden Söhne, schwieg ich bis jetzt«, sagte er zum Oberkriminalrat, »aber die Art Ihres Verfahrens zwingt mich, laut zu werden und das zu sagen, worüber bis jetzt keine bestimmte Frage an mich geschah. Es ist wahr, ich bin nicht Verfasser jener Abhandlung, die für den allerhöchsten Hof Beleidigungen enthalten, vielleicht Geheimnisse des Staats zum Nachteil desselben verraten haben mag. Es ist wahr, ich kenne auch den Verfasser nicht, noch den, welcher sie mir zur schleunigen Abschrift brachte. Aber ich kannte und kenne die Handschrift dessen, der das Original schrieb, welches mir zu kopieren gegeben ward. Es ist die Handschrift des Herrn Oberkriminalrat von Schwarz gewesen.«

Schwarz lächelte höhnisch, aber konnte doch nicht eine flüchtige Bestürzung verheimlichen. Seinen Amtsgenossen entging es nicht. Inzwischen bemerkte der Präsident dem Angeklagten, der nun die Rolle des Anklägers spielte, daß er eine Beschuldigung wage, die schwer zu beweisen sei.

»Es ist möglich«, erwiderte Frock, »daß das Original vernichtet worden ist, sobald man meine Kopie besaß. Aber daß ich die Handschrift des Herrn von Schwarz sehr gut erkannte, bezeugt das Gedächtnisbuch, welches ich über meine Geschäfte führte, und das unter meinen übrigen Papieren bei der geheimen Polizei liegt. Ich erinnere mich, daß ich zu der Tagesbemerkung, eine Abhandlung ohne Titel kopiert zu haben, am Rande die Buchstaben setzte: Handsch. v. O. K. R. v. S., das heißt, Handschrift vom Oberkriminalrat von Schwarz.«

Auf einen Wink des Präsidenten brachte der Gerichtsdiener eine Kiste herbei. Es waren Frocks Papiere. Er fand das Büchlein, suchte das Datum, fand die Stelle, welche der geheimen Polizei entgangen zu sein schien, und legte sie den Richtern vor. Es verhielt sich, wie er gesagt hatte. Frock ward darauf sogleich wieder in seinen Verhaft zurückgeführt.

Schon den folgenden Morgen ward ihm seine nahe Befreiung und zugleich die Verhaftung des Herrn von Schwarz verkündigt. Denn durch die geheime Oberpolizei war auch der Mensch, welcher die Abhandlung bei Frock zur Abschrift gebracht, nach den von ihm gegebenen Beschreibungen, in einer entlegenen Stadtgegend entdeckt und eingebracht worden. Die Aussagen dieses Menschen stimmten mit denen des schuldlosen Frock überein. Beide wurden zum Überfluß noch gegen einander gestellt, sich zu erkennen.

An demselben Tage, da dies geschah, hatte Frock noch eine andere Überraschung. Er empfing Besuch vom Major von Tulpen, den ein Unbekannter begleitete. Der alte Major war vor Freuden außer sich, ihn wieder zu sehen. Er drückte ihn mit Rührung an sein Herz.

»Hat doch alles sein Gutes!« sagte der Major: »Hätte man Sie nicht gefangen gesetzt, wir hätten Sie in Ewigkeit nicht gefunden. Aber Ihr Prozeß machte Aufsehen, und so erfuhren wir Ihren Aufenthalt.«

»Mich kennen Sie wohl nicht mehr?« fragte nun auch der Begleiter des Majors.

Frock betrachtete ihn lange, verbeugte sich dann ehrerbietig und sagte:«Ew. Durchlaucht erweisen mir unverdiente Ehre.«

»Nicht so unverdiente Ehre. Hätten Sie mich, da Sie mich beim Scharmützel in den Niederlanden gefangen nahmen, nicht so heldenmütig gegen Ihre Kameraden in Schutz genommen, ich wäre ja längst im Reich der Toten. Sie retteten mein Leben, und empfingen den Hieb da für mich von dem tollen Chasseur über die Stirn, der mich durchaus niederhauen wollte.«

»Aber wie konnte Ew. Durchlaucht meinen Namen wissen, den ich Ihnen nie gesagt?«

»Den erfuhr ich vom Major, und den Major lernte ich durch den Juwelier kennen, dem Sie die goldene Dose verkauft hatten, die ich Ihnen auf dem Schlachtfelde zur Erinnerung schenkte. Ich wollte während meines Aufenthaltes hier ganz andere Dinge beim Juwelier kaufen; das Erstaunen war nicht gering, meine Dose zu finden. Sie haben sie zu so edelm Zweck verkauft, daß ich sie Ihnen schlechterdings zurückstellen muß, um damit Ihre Tugend zu ehren.« – Der Fürst legte die Dose auf Frocks Tisch. Dieser vernahm nun auch, daß er vom Gericht freigesprochen sei.

»Jetzt, Freund Jonathan Schopf«, rief der Major, »müssen wir uns öfter sehen. Hier auf der Karte haben Sie den Namen meiner Wohnung. Sie müssen mich besuchen, sobald Sie frei sind. Ich hielt Sie schon für mich auf ewig verloren. Hol' der Geier den Kriminalrat Dings da; der sitzt nun statt Ihrer. Das kommt ihm vom unrechten Fleck am Herzen. Er wollte dem Justizminister einen bösen Streich spielen, und schlug sich selber ins Gesicht. Geschieht ihm Recht!«

Frock war durch diesen Besuch sehr erquickt. Er gewann wieder Vertrauen zur Menschheit, und hielt die überstandenen Schrecken und Leiden der Gefangenschaft für einen nichtigen Preis, um den er die Freude dieses Tages erkauft hatte.

Schon am andern Morgen war er in aller Form, mit feierlicher Ehren- und Unschuldserklärung, seines Verhaftes entlassen. Dabei empfing er eine ihm vom Gericht zugesprochene reichliche Summe, teils als Entschädigung für das Erlittene, teils als Ersatz für das während seiner Gefangenschaft am häuslichen Erwerb Versäumte. Lange war der gute Frock nicht so reich gewesen. Denn auch die Dose des Fürsten, der selbiges Tages wieder von der Residenz abreisete, war mit Goldstücken angefüllt.

 


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