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Zehntes Kapitel.

Am Tage nachdem Claude »das tote Kind« in die Ausstellung gebracht hatte, begegnete er Fagerolles während eines Spazierganges nach dem Monceaux-Parke.

»Wie, du bist es?« rief Fagerolles herzlich. »Was machst du? Was treibst du? Man sieht sich jetzt so selten!«

Als der andere ihm von seinem in die Ausstellung gesandten Bilde sprach, von jener kleinen Leinwand, die jetzt alle seine Gedanken beschäftigte, fügte Fagerolles hinzu:

»Du hast eine Leinwand in die Ausstellung geschickt? Ich werde dafür sorgen, daß sie angenommen wird; ich bin diesmal zum Richter mitbestimmt.«

Infolge des Aufruhrs und der ewigen Unzufriedenheit der Künstler nach zwanzigmal aufgenommenen und wieder fallen gelassenen Verbesserungsversuchen hatte in der Tat die Direktion den Ausstellern das Recht eingeräumt, daß sie selbst die Richter wählten. Dies hatte eine wahre Revolution in der Welt der Maler und Bildhauer herbeigeführt, ein Wahlfieber war ausgebrochen mit ehrgeizigen Strebungen, Parteiungen, Ränken, der ganzen schmutzigen Küche, welche die Politik entehrt.

»Ich nehme dich mit,« sagte Fagerolles; »du mußt mein Heim, mein kleines Haus besichtigen, wohin du trotz deiner wiederholten Versprechungen noch keinen Fuß gesetzt hast. Es ist ganz nahe an der Ecke der Villiers-Allee.« Claude, dessen Arm er gutgelaunt ergriffen hatte, mußte ihm folgen. Eine Feigheit hatte ihn ergriffen; der Gedanke, daß sein ehemaliger Kamerad seine Zulassung durchsetzen könne, erfüllte ihn mit Scham und Begierde zugleich. In der Allee blieb er vor dem kleinen Hause stehen, um seine Vorderseite zu betrachten, ein zierliches, kostbares Architektenstück, die genaue Wiedergabe eines im Renaissancestile gebauten Hauses von Bourges mit den Kreuzrahmen der Fenster, dem Stiegentürmchen, dem bleiverzierten Dache. Es war ein wahres Mädchenjuwel, und Claude war ganz überrascht, als er sich umwandte und auf der andern Seite der Straße das königliche Haus der Irma Bécot erblickte, wo er eine Nacht zugebracht hatte, die eine traumhafte Erinnerung in ihm zurückgelassen. Groß, solid, fast streng, hatte das letztere schier die Bedeutung eines Palastes gegenüber seinem Nachbar, dem Künstlerheim, das einem der Laune entsprungenen Spielzeuge glich.

»Was? Die Irma hat gleich eine ganze Kathedrale!« rief Fagerolles mit gewisser Achtung... »Mein Gott, ich verkaufe nur Bilder... So tritt doch ein!«

Das Innere war mit prächtigem, eigenartigem Luxus ausgestattet; alte Teppiche, alte Waffen, eine Anhäufung alter Möbel, merkwürdige Dinge aus China und Japan, gleich vom Flur angefangen; links ein Speisesaal, die Wände durch Lackgetäfel in Felder geteilt, unter der Decke ein roter Drache ausgespannt; eine Treppe aus geschnitztem Holze, mit Bannern und grünen Pflanzen geschmückt. Das Atelier oben war ein wunderbarer Raum; ziemlich eng, ohne ein Bild, ganz mit orientalischen Teppichen bedeckt; in einer Ecke ein riesiger Kamin, dessen Tierverzierungen einen Korb trugen, am andern Ende ausgefüllt von einem großen Sofa unter einem Zelte; ein ganzes Monument: Lanzen, die einen Himmel von prächtigen Stoffen trugen, über einer Menge von Teppichen, Pelzen und Kissen, die auf dem Parkett angehäuft lagen.

Claude musterte alles, und eine Frage drängte sich ihm auf die Lippen, die er zurückhielt. War es bezahlt? Seit dem vorigen Jahre mit einer Medaille ausgezeichnet, forderte Fagerolles – wie man versicherte – zehntausend Franken für ein Porträt. Naudet, der ihn in die Mode gebracht und jetzt in regelmäßigen Zügen ausbeutete, gab keines seiner Bilder unter zwanzig-, dreißig-, vierzigtausend Franken ab. Die Bestellungen wären hageldicht gekommen, wenn der Maler nicht die Mißachtung, den Überdruß eines Mannes geheuchelt hätte, um dessen geringste Skizze man »sich riß«. Dennoch roch der ganze hier ausgebreitete Luxus nach Verschuldung; die Lieferer hatten nur Anzahlungen bekommen; alles Geld – dieses Geld, das so gewonnen wurde wie auf der Börse bei zeitweiligen Kurssteigerungen – floß zwischen den Fingern durch, wurde ausgegeben, ohne eine Spur zurückzulassen. Fagerolles, noch voll Feuer und Flamme über sein plötzliches Glück, rechnete übrigens nicht mehr, beunruhigte sich nicht, rechnete fest damit, immer zu verkaufen, immer teurer zu verkaufen, und war sehr stolz auf die hohe Stellung, die er in der zeitgenössischen Kunst einnahm.

Schließlich bemerkte Claude eine kleine Leinwand auf einer Staffelei von schwarzem Holze, die mit rotem Plüsch eingefaßt war. Das war alles, was vom Künstlerberuf zu sehen war, mit einem Farbenkasten von Palissanderholz und einer Pastellbüchse, die auf einem Möbelstück vergessen worden.

»Sehr fein«, sagte Claude, um verbindlich zu sein, indem er auf die kleine Leinwand zeigte. »Hast du schon die Ausstellung beschickt?«

»Ach ja, Gott sei Dank! Was ich für eine Menge Besuche hatte! Ein wahres Kommen und Gehen von Leuten, das mich acht Tage lang vom Morgen bis zum Abend nicht dazu kommen ließ, Atem zu holen... Ich wollte nicht ausstellen, man büßt dadurch von seinem Ansehen ein... Auch Naudet war dagegen. Doch was willst du machen? Man hat mir so hart zugesetzt; alle jungen Leute wollen mich unter den Richtern haben, damit ich sie verteidige. Mein Bild ist sehr einfach. ,Ein Frühstück' habe ich es benannt: zwei Herren und drei Damen unter Bäumen, die Gäste eines Schlosses, die ihre Mahlzeit mitgenommen haben und in einer Lichtung verzehren. Du wirst es sehen: es ist ziemlich originell.«

Seine Stimme schwankte, und als er den Augen Claudes begegnete, der ihn fest anschaute, ward er vollends verwirrt und scherzte über das kleine Bild auf der Staffelei.

»Das ist eine Schweinerei, die Naudet von mir verlangt hat. Ich weiß, was mir fehlt: ein wenig von dem, wovon du zuviel hast. Ich liebe dich noch immer; ich habe dich erst gestern unter Malern verteidigt.«

Er klopfte ihm auf die Schultern; er hatte die geheime Mißachtung seines einstigen Meisters gefühlt und wollte ihn durch seine früheren Schmeicheleien wiedergewinnen, durch die Liebkosungen einer Dirne, die da sagt: »Ich bin eine Dirne« – damit man sie liebe. Ganz aufrichtig, mit einer gewissen unruhigen Unterwürfigkeit versprach er ihm noch einmal, sich mit seinem ganzen Einflüsse für die Zulassung seines Bildes einzusetzen.

Doch es kam Besuch; in einer Stunde kamen und gingen mehr als fünfzehn Personen: Väter, die junge Schüler brachten; Aussteller, die kamen, um sich seinem Wohlwollen zu empfehlen, Kameraden, die mit ihm Schützlinge auszutauschen hatten, selbst Frauen, die ihr Talent unter der Flagge ihrer Schönheit steuerten. Man mußte den Maler sehen, wie er seine Rolle eines zukünftigen Richters spielte, Händedrücke austeilte, dem einen sagte: »Ihr diesjähriges Bild ist sehr schön, es gefällt mir recht gut«, vor einem andern erstaunt ausrief: »Wie? Sie haben noch keine Medaille?« und allen wiederholte: »Wenn ich mit dabei wäre, ginge alles besser!« Er entließ die Leute entzückt, öffnete jedem Besuch die Tür mit einer Miene außerordentlicher Liebenswürdigkeit, in die sich das verstohlene Hohnlächeln des ehemaligen Straßenbummlers mengte.

»Glaubst du jetzt, wieviel Zeit ich mit diesen Blödsinnigen verliere?« rief er in einem Augenblicke, da er mit Claude allein war.

Doch als er sich dem großen Bogenfenster näherte, öffnete er plötzlich einen Flügel, und man bemerkte auf der andern Seite der Allee an einem Balkon des gegenüber befindlichen Hauses eine weiße Gestalt, eine Frau im Spitzenumhang, die ein Taschentuch in die Höhe hob. Er selbst winkte dreimal mit der Hand. Dann wurden beide Fenster geschlossen.

Claude hatte Irma erkannt; in der Stille, die jetzt eingetreten war, erklärte sich Fagerolles ganz ruhig.

»Du siehst, wir können uns sehr bequem verständigen. Wir haben eine vollständige Telegraphie. Sie ruft mich, ich muß gehen... Von der können wir was lernen.«

»Was denn?«

»Alles: Laster, Kunst, Verstand!... Ich muß dir sagen: Sie leitet mich in der Malerei; ja, bei meiner Ehre! sie hat eine ganz außerordentliche Witterung für den Erfolg!... Im Grunde ist sie noch immer eine Gassendirne, aber so drollig, von einer so ergötzlichen Leidenschaft, wenn sie einen lieb hat!...«

Seine Wangen färbten sich plötzlich rot, während seine Augen sich trübten, als sei in seinem Innern ein Sumpf aufgewühlt worden. Seitdem beide in derselben Allee wohnten, lebten sie wieder zusammen; man erzählte sogar, daß er – so geschickt, in allen Schlichen des Pariser Pflasters so bewandert – sich von ihr ruinieren, jeden Augenblick eine hübsche Summe abnehmen lasse. Sie sandte bei solchen Gelegenheiten ihre Kammerfrau hinüber; bald war es für irgendeinen Lieferer, bald für eine Laune, oft für nichts, um des bloßen Vergnügens willen, ihm die Taschen auszuleeren. Das erklärte auch zum Teil seine Verlegenheit, seine wachsende Verschuldung trotz der fortwährenden Bewegung, die seine Bilder im Kurse steigen ließ. Es war ihm übrigens wohlbekannt, daß er bei ihr der überflüssige Luxus war, die Zerstreuung einer Frau, welche die Malerei liebt, eine Zerstreuung, die sie sich hinter dem Rücken der ernsthaften Liebhaber gönnte, die als Gatten den Haushalt zu bestreiten hatten. Sie scherzte darüber; zwischen ihnen lag gleichsam das Aas ihrer Verderbtheit, ein Gemisch von Niedrigkeit, über das er lachte; diese Rolle eines Herzliebsten war ihm ein Anreiz mehr, der ihn all das Geld vergessen ließ, das er ihr gab.

Claude hatte seinen Hut wieder aufgesetzt. Fagerolles trippelte umher und warf unruhige Blicke nach dem Hause gegenüber.

»Ich schicke dich nicht weg, aber du siehst, sie erwartet mich... Also abgemacht, deine Sache ist sicher; es sei denn, daß ich nicht gewählt werde. Komm am Abend der Stimmenzählung nach dem Industriepalast. Es herrscht da ein arges Gedränge, ein Höllenlärm; aber du wirst sogleich wissen, ob du auf mich zählen kannst.«

Zuerst nahm sich Claude fest vor, nicht im mindesten sich zu bemühen. Diese Gönnerschaft durch Fagerolles war ihm lästig: im Grunde hatte er nur die eine Besorgnis, daß jener sein Versprechen halten könne: es war die feige Furcht vor dem Mißerfolge. Am Tage der Abstimmung duldete es ihn aber nicht auf einem Platze; er trieb sich in den Elysäischen Feldern herum und gab sich selbst den Vorwand, daß er einen langen Spaziergang mache. Ob hier oder anderwärts, sei doch gleich; denn in der uneingestandenen Erwartung seines Erfolges im Salon hatte er jede Arbeit aufgegeben und streifte jetzt wieder in Paris herum. Er selbst hatte kein Stimmrecht, weil man dazu mindestens einmal zugelassen sein mußte. Doch kam er wiederholt an dem Industriepalast vorüber; ihn interessierte das auf dem Bürgersteig vor dem Palaste herrschende Treiben. Es war ein schier unendlicher Zug von Künstlern, die sich nach dem Schauplatz der Richterwahl begaben. Diese Wähler suchten sich Männer in schmutzigen Kitteln streitig zu machen, die ihre Wahllisten ausriefen. Es gab solcher Listen etwa dreißig von allen Parteien und allen Anschauungen; die Liste der Ateliers der Kunstschule, die liberale Liste, die Liste der Unversöhnlichen, die Liste der Friedliebenden, die Liste der Jungen, die Liste der Damen. Man konnte meinen, sich am Tage nach einem Aufstande im Wahlfieber zur Einsetzung einer neuen Regierung vor der Tür eines Wahllokals zu befinden.

Um vier Uhr nachmittags, als die Abstimmung beendet war, konnte Claude der Neugier nicht widerstehen und ging hinauf. Die Treppe war jetzt frei, jeder konnte eintreten. Oben geriet er in den riesigen Saal der Richter, dessen Fenster auf die Elysäischen Felder gehen. Ein Tisch von zwölf Meter Länge nahm die Mitte des Saales ein; in einer Ecke stand ein riesiger Kamin, in dem ganze Bäume brannten. Es waren vier- bis fünfhundert Wähler im Saale, die geblieben waren, um das Ergebnis abzuwarten, darunter viele Bekannte, die aus bloßer Neugierde gekommen waren; alle diese Leute schrien und lachten laut, entfesselten einen wahren Sturm unter der hohen Saaldecke. Rings um den Tisch hatten schon die mit der Stimmenzählung betrauten Abordnungen ihre Arbeit begonnen; es waren etwa fünfzehn, je ein Obmann und zwei Schriftführer. Aber es mußten noch drei oder vier eingesetzt werden, und es meldete sich niemand; alle flohen aus Furcht vor der schweren Arbeit, welche die Zählenden einen Teil der Nacht hier festhielt.

Fagerolles, der seit dem Morgen schon tätig, schrie eben unter heftigen Armbewegungen, um den Tumult zu beherrschen, in die Menge hinein:

»Meine Herren! Wir brauchen einen Mann! einen dienstfertigen Mann!«

Als er in diesem Augenblick Claude bemerkte, stürzte er hinzu und führte ihn mit Gewalt zum Tische.

»Du wirst mir das Vergnügen machen, dich da niederzusetzen und mir zu helfen. Es ist für die Sache!«

Im Handumdrehen war Claude Obmann einer Abordnung; er erfüllte sein Amt mit dem Ernst eines Schüchternen, im Grunde aufgeregt, und schien zu glauben, die Zulassung seines Bildes hänge von seiner Gewissenhaftigkeit bei dieser Verrichtung ab. Er rief laut die Namen aus, die auf den in kleinen Bündeln ihm dargereichten Listen geschrieben standen, während die beiden Schriftführer die Namen verzeichneten. Das geschah inmitten eines schauerlichen Stimmengewirres, in dem Lärm von zwanzig, dreißig Namen, die von verschiedenen Stimmen ausgerufen wurden mitten in dem fortwährenden Gesumme der Menge. Da er nichts ohne Leidenschaft tun konnte, ward er lebhafter, war trostlos, wenn eine Liste den Namen Fagerolles nicht enthielt, und war glücklich, wenn er diesen Namen einmal mehr ausrufen konnte. Er hatte übrigens oft diese Freude, denn der Kamerad hatte sich volkstümlich gemacht, indem er sich überall zeigte, die Kaffeehäuser besuchte, wo einflußreiche Gruppen zu finden waren, sogar künstlerische Glaubensbekenntnisse abzulegen wagte, den Jungen gegenüber Verpflichtungen einging, ohne die Mitglieder des Instituts zu vernachlässigen, die er sehr ehrerbietig grüßte. Eine allgemeine Zuneigung machte sich geltend; Fagerolles war gleichsam das Schoßkind aller.

An diesem regnerischen Märztage war um sechs Uhr die Nacht hereingebrochen. Die Diener brachten Lampen; mißtrauische Künstler traten näher und überwachten mit stummen, ernsten Gesichtern die Stimmenzählung; andere trieben allerlei Schnurren, ließen Tierlaute oder einen Jodler aus. Als um acht Uhr kalter Braten und Wein aufgetragen wurden, erreichte die Heiterkeit ihren Höhepunkt. Man leerte hastig die Flaschen und stopfte sich mit dem Inhalte der im Fluge abgefangenen Schüsseln, es war ein echter Kirchweihschmaus in diesem Riesensaale, den die Klötze in dem Kamin mit dem Widerschein einer Schmiede erhellten. Dann begannen alle zu rauchen, dichter Tabakrauch trübte das gelbe Licht der Lampen. Auf dem Fußboden lagen die während der Abstimmung weggeworfenen Berichtzettel, eine dicke Papierschicht, beschmutzt durch die Flaschenkorke, durch Brosamen, zerbrochene Teller, ein ganzer Misthaufen, in dem die Stiefelabsätze versanken. Die Künstler ließen sich gehen; ein kleiner, blasser Bildhauer stieg auf einen Sessel, um »eine Anrede an das Volk zu halten«; ein Maler mit gebogener Nase und ausgepichtem Schnurrbart ritt auf einem Sessel um den Tisch herum und grüßte leutselig. Das nannte er »den Kaiser machen«.

Allmählich wurden viele des Wartens müde und gingen weg. Um elf Uhr waren nicht mehr als zweihundert Menschen da. Nach Mitternacht kamen neue Besucher: Spaziergänger in schwarzem Frack und weißer Krawatte, die aus dem Theater oder einer Abendgesellschaft kamen und neugierig waren, früher als Paris das Ergebnis der Stimmenzählung zu erfahren. Es kamen auch Berichterstatter, man sah sie einzeln zum Saale hinausstürmen, sobald ihnen eine Ziffer mitgeteilt werden konnte.

Claude rief mit heiserer Stimme noch immer Namen aus. Der Rauch und die Hitze waren unerträglich geworden, ein Stallgeruch stieg von dem Mist am Boden auf. Es schlug ein Uhr, dann zwei Uhr morgens. Er zählte und zählte, und die Gewissenhaftigkeit, mit der er dabei vorging, hielt ihn dermaßen auf, daß die anderen Abordnungen ihre Arbeit längst beendigt hatten, als er mit der seinen noch in ganzen Ziffernreihen steckte. Endlich waren alle Summen zusammengezählt, und man verkündete die endgültigen Ergebnisse der Wahl. Fagerolles war der Fünfzehnte unter vierzig, fünf Stellen vor Bongrand, der auf der nämlichen Liste stand, aber von vielen gestrichen war. Der Tag brach an, als Claude – gebrochen und entzückt zugleich – heimkehrte.

Er verbrachte jetzt zwei angstvolle Wochen. Zehnmal hatte er die Absicht, Nachrichten bei Fagerolles einzuholen, doch ein Gefühl der Scham hielt ihn zurück. Da übrigens die Richter in alphabetischer Ordnung vorgingen, war vielleicht noch nichts entschieden. Eines Abends ging es ihm wie ein Stich durch das Herz, als er auf der Clichy-Promenade zwei Schultern auf sich zukommen sah, deren Schaukeln ihm wohlbekannt war.

Es war Bongrand, der verlegen schien. Er sprach zuerst.

»Sie müssen wissen: die Arbeit geht mit diesen Kerlen nur langsam vorwärts... Noch ist nicht alles verloren; wir halten Wacht: ich und Fagerolles. Zählen Sie auf Fagerolles, denn ich fürchte, Sie nur zu kompromittieren.«

Die Wahrheit war, daß Bongrand in ewiger Feindschaft mit Mazel, dem Vorsitzenden, lebte, einem berühmten Meister der Kunstschule, dem letzten Wall der herkömmlichen eleganten und butterigen Manier. Obgleich sie sich als liebe Kollegen behandelten und kräftige Händedrücke austauschten, war diese Feindschaft gleich am ersten Tage offenkundig geworden; der eine konnte nicht die Zulassung eines Bildes verlangen, ohne daß der andere für die Zurückweisung stimmte. Fagerolles hingegen, der zum Schriftführer gewählt worden, hatte sich zum Lustigmacher, zum Liebling Mazels gemacht, der ihm seine Abtrünnigkeit eines ehemaligen Schülers verzieh, so sehr schmeichelte ihm heute dieser Renegat. Der junge Meister – ein jämmerlicher Kerl, wie die Kameraden sagten – erwies sich übrigens für die Anfänger, für die Wagemutigen härter als die Mitglieder des Instituts und ward nur milder, wenn er die Zulassung eines Bildes durchsetzen wollte; dann war er unerschöpflich an drolligen Einfällen und Ränken und ergatterte sich die angestrebte Stimme mit der Geschmeidigkeit eines Taschenspielers.

Dieses Arbeiten der Richter war eine schwere Frone, bei der selbst Bongrand seine starken Beine abnutzte. Jeden Tag wurde die Arbeit von den Saalhütern vorbereitet; es war eine endlose Reihe von großen Bildern auf die Erde gestellt, an die Schranken gelehnt, durch alle Säle des ersten Stockes laufend, rings um den ganzen Palast; jeden Nachmittag um ein Uhr begannen die vierzig Richter mit dem klingelbewehrten Präsidenten an der Spitze den Spaziergang von neuem, bis das ganze Alphabet erledigt war. Die Urteile wurden stehenden Fußes gefällt, man machte die Arbeit so rasch wie möglich fertig, die schlechtesten Bilder wurden ohne Abstimmung verworfen; doch geschah es zuweilen, daß die Gruppe durch Meinungsverschiedenheiten aufgehalten wurde, man stritt zehn Minuten und behielt sich vor, über das strittige Gemälde bei der Überprüfung am Abend zu entscheiden; zwei Männer hielten Leinen von zehn Meter Länge und zogen sie vier Schritte vor der Reihe der Gemälde straff an, um die Richter, die in der Hitze des Streites immer näher an die Bilder herandrängten, in gebührender Entfernung zu halten. Hinter ihnen kamen siebzig Saalhüter in weißen Kitteln, die unter den Befehlen eines Aufsehers arbeiteten und bei jeder Entscheidung, die ihnen durch die Schriftführer mitgeteilt wurde, die Ausmusterung vollzogen, indem sie die zugelassenen Bilder von den zurückgewiesenen sonderten, die sogleich beiseite geschafft wurden wie die Leichen nach einer Schlacht. Dieser Gang durch die Säle dauerte volle zwei Stunden ohne eine Rast, ohne daß man einen Augenblick auf einem Sessel ausruhen konnte, immer auf den müde trippelnden Beinen, im eisigen Luftzug, der selbst die am wenigsten Empfindlichen zwang, sich in ihre Pelze zu hüllen.

Der Imbiß um drei Uhr war denn auch sehr willkommen; man hatte eine halbe Stunde Rast und stärkte sich an einem Büfett mit Bordeaux, Schokolade, belegten Brötchen. Hier war auch der Markt für die gegenseitigen Zugeständnisse, für den Austausch der Einflüsse und der Stimmen. Die Mehrzahl der Herren war mit kleinen Notizheftchen versehen, um niemanden zu vergessen in dem Hagel von Empfehlungen, der über sie niedergegangen war; dieses Büchlein zogen sie zu Rate und verpflichteten sich, für die Schützlinge eines Kollegen zu stimmen, wenn dieser für den ihrigen stimme. Andere wieder, die diesem Ränkespiel fremd blieben, rauchten mit strenger oder sorgloser Miene ihre Zigarette zu Ende.

Dann ward die Arbeit wieder aufgenommen, aber bedächtiger in einem einzigen Saale, wo es Tische und Sessel, Tinte und Federn gab. Alle Bilder, die nicht die Höhe von anderthalb Meter erreichten, wurden hier beurteilt, kamen »auf die Staffelei«, das heißt ihrer zehn oder zwölf in einer Reihe auf eine Art Gerüst, das mit grüner Leinwand verhängt war. Viele Richter streckten sich behaglich in ihren Sessel, andere besorgten ihren Briefwechsel; der Vorsitzende mußte sich oft ereifern, um bei den Abstimmungen die nötige Mehrheit zu erlangen. Zuweilen ging ein leidenschaftlicher Zug durch die Gesellschaft; alle drängten heran, und das Abstimmen mit erhobener Hand ging in einer solchen Erregung vor sich, daß man über der bewegten Flut der Köpfe Hüte und Stöcke sah, die in der Luft geschüttelt wurden.

Hier, auf der Staffelei, erschien endlich das tote Kind. Fagerolles, dessen Heftchen voll Notizen war, betrieb seit acht Tagen ein sehr verwickeltes Feilschen, um zugunsten Claudes Stimmen zu werben; allein die Sache ging schwer vonstatten und ließ sich nicht mit seinen anderen Verpflichtungen abmachen; er holte sich nichts als Weigerungen, sobald er nur den Namen seines Freundes aussprach; er beklagte sich, daß Bongrand ihn nicht unterstütze; dieser hatte kein Notizheft und war übrigens so ungeschickt, daß er durch unzeitgemäße Äußerungen seines Freimutes der besten Sache nur schadete. Fagerolles würde Claude schon zwanzigmal haben fallen lassen, hätte er nicht an dieser als unmöglich verschrienen Zulassung seine Macht erproben wollen. Man werde sehen, ob er nicht von dem Zuschnitte sei, die Richter jetzt schon unterzukriegen. Vielleicht empfand er auf dem Grunde seines Gewissens ein Gefühl der Gerechtigkeit, der geheimen Achtung vor dem Manne, dessen Talent er bestahl.

Gerade an jenem Tage war Mazel sehr übel gelaunt. Bei Beginn der Sitzung war der Aufseher herbeigeeilt und meldete:

»Herr Mazel, gestern ist ein Irrtum geschehen. Man hat ein Bild zurückgewiesen, das außer Wettbewerb war. Sie erinnern sich: Nr. 2530, eine nackte Frau unter einem Baume.«

In der Tat hatte man gestern mit einhelliger Verachtung dieses Bild in die gemeinsame Grube geworfen, ohne zu bemerken, daß es von einem alten, klassischen Maler war, den selbst das Institut achtete. Die Bestürzung des Aufsehers, dieser gute Spaß einer unwillkürlichen Hinrichtung erheiterte die jüngeren Richter, die mit herausfordernder Miene hohnlächelten.

Mazel verabscheute solche Geschichten, die – wie er sehr wohl fühlte – dem Ansehen der Kunstschule beträchtlich schaden mußten. Er machte eine zornige Gebärde und sagte:

»Holen Sie es wieder hervor und schaffen Sie es zu den zugelassenen. Es war aber auch gestern ein unerträglicher Lärm. Wie soll man ein Bild prüfen können bei einer solchen Eile, wo es keinen Augenblick Ruhe gibt?«

Er schwang wütend seine Klingel.

»Vorwärts, meine Herren, wir sind bei der Arbeit; ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit.«

Unglücklicherweise unterlief gleich bei den ersten Bildern, die auf die Staffelei kamen, wieder ein Mißgriff; unter anderen zog eine Leinwand seine besondere Aufmerksamkeit auf sich, so schlecht fand er sie, von einer solchen Herbheit des Tones, daß man Zähneknirschen davon bekam; da seine Augen schon schwach wurden, neigte er sich herab, um das Zeichen zu sehen, wobei er murmelte:

»Wer ist denn dieses Schwein?«

Doch er hob sogleich lebhaft betroffen den Kopf, weil er den Namen eines seiner Freunde gelesen hatte, eines Künstlers, der gleichfalls einer der Wälle der gesunden Kunstlehren war. In der Hoffnung, daß man ihn nicht gehört habe, rief er:

»Ausgezeichnet! ... Nummer eins! Nicht wahr, meine Herren?«

Man bewilligte dem Bilde die Nummer eins, die ihm das Recht verlieh, den Schranken zunächst aufgestellt zu werden; allein die Herren lachten und stießen sich mit dem Ellbogen. Das verletzte ihn sehr, und er ward ganz wild.

Sie machten es übrigens alle so; viele äußerten sich auf den ersten Blick und widerriefen dann ihre Meinung, nachdem sie den Namen gelesen hatten. Dies machte sie schließlich vorsichtig, sie beugten den Kopf vor und suchten den Namen zu erhaschen, ehe sie sich aussprachen. Wenn übrigens das Werk eines Kollegen an die Reihe kam, die verdächtige Leinwand eines der Richter, dann übte man die Vorsicht, hinter dem Rücken des betreffenden Malers einander durch Winke zu warnen: »Aufgepaßt! Keine Dummheit! Es ist von ihm!«

Trotz der üblen Stimmung, die in der Sitzung herrschte, hatte Fagerolles schon einen ersten Erfolg errungen. Es war ein abscheuliches Porträt von einem seiner Schüler, dessen sehr reiche Familie ihn empfing. Er hatte Mazel beiseite führen müssen, um ihn durch eine empfindsame Geschichte zu rühren; das Bild sei von einem unglücklichen Vater dreier Töchter, der nicht das tägliche Brot habe. Der Präsident hatte sich lange bitten lassen; was Teufel! wenn man hungert, gibt man die Malerei auf; man dürfe nicht einen solchen Mißbrauch mit seinen drei Töchtern treiben! Indes erhob er die Hand mit Fagerolles. Man protestierte, ereiferte sich; selbst zwei Institutsmitglieder waren aufgebracht, als Fagerolles ihnen zuflüsterte:

»Es ist Mazels wegen; Mazel hat mich gebeten, mit ihm zu stimmen ... Ein Anverwandter, glaube ich ... Kurz, er legt Gewicht darauf.«

Die beiden Akademiker erhoben sogleich die Hand, und es fand sich eine bedeutende Mehrheit.

Doch jetzt brach ein Sturm von Gelächter, Witzworten und Entrüstungsrufen los: man hatte soeben »das tote Kind« auf die Staffel gestellt. Was, sendet man ihnen jetzt gar die Leichenkammer? Die Jungen scherzten über den großen Kopf: ein Affe, der an einem großen Kürbis erstickt ist; die Alten wichen entsetzt zurück.

Fagerolles fühlte sogleich, daß die Sache verloren sei. Zuerst versuchte er nach seiner geschickten Art die Stimmen im Scherze zu erhaschen.

»Aber, meine Herren, ein alter Kämpfer! ...«

Wütende Worte unterbrachen ihn. Nein, den nicht! Man kannte den alten Kämpfer! Ein Narr, der sich seit fünfzehn Jahren in seinem Eigensinn verstrickte; ein Hochmütiger, der das Genie spielte und davon gesprochen hat, den Salon zu sprengen, ohne jemals eine annehmbare Leinwand dahin zu senden. Der ganze Haß gegen die regellose Ursprünglichkeit, gegen den offenen Wettbewerb, den man fürchtete, gegen die unüberwindliche Kraft, die selbst geschlagen noch siegt, grollte in dem Ausbruch der Stimmen. Nein, nein; hinaus!

Da beging Fagerolles den Fehler, sich auch seinerseits aufzuregen, indem er dem Unwillen darüber nachgab, daß er seinen geringen Einfluß erkannte.

»Ihr seid ungerecht! Übt doch wenigstens Gerechtigkeit!«

Da stieg der Tumult auf den Gipfel. Man umringte ihn, man stieß ihn, drohende Arme erhoben sich, Sätze wurden gleich Kugeln hervorgestoßen.

»Mein Herr, Sie beleidigen die Richter!«

»Sie verteidigen es nur, damit Ihr Name in die Zeitungen komme!«

»Sie verstehen es nicht!«

Fagerolles, der außer sich war und seine sonstige höhnische Geschmeidigkeit verlor, erwiderte plump:

»Ich verstehe es besser als ihr!«

»So schweig doch!« sagte ein Kamerad, ein kleiner, blonder Maler, der am ärgsten schrie; du wirst uns doch nicht diese Steckrübe verschlucken lassen wollen!«

Ja, ja, eine Steckrübe! Alle wiederholten überzeugt das Wort, das sie gewöhnlich den schlimmsten Klecksereien, der platten, kalten, blassen Malerei der Farbenschmierer hinschleuderten.

»Es ist gut,« sagte Fagerolles endlich zähneknirschend, »ich verlange die Abstimmung.«

Seitdem der Streit sich verschärfte, schwang Mazel unaufhörlich seine Glocke, sehr rot darüber, daß sein Ansehen so mißachtet wurde.

»Meine Herren! ... Aber, meine Herren! Es ist doch merkwürdig, daß man sich ohne Geschrei nicht mehr verständigen kann. Meine Herren, ich bitte Sie ...«

Endlich erlangte er ein wenig Stille. Er war im Grunde kein schlechter Mensch. Warum sollte man nicht dieses kleine Bild zulassen, obgleich er es abscheulich fand? Man hat ja so viele andere zugelassen!

»Meine Herren, die Abstimmung wird verlangt.«

Er selbst war eben im Begriff die Hand zu erheben, als Bongrand, der bis jetzt stumm geblieben, die Wangen rot vom verhaltenen Zorne, plötzlich losbrach und seinem empörten Gewissen Luft machte.

»Donnergottes! Es gibt nicht vier unter uns, die ein ähnliches Stück machen können!«

Ein Gebrumme lief durch die Gesellschaft; der Keulenschlag war so wuchtig, daß niemand antwortete.

»Meine Herren, man verlangt die Abstimmung«, wiederholte Mazel, der bleich geworden, mit trockener Stimme.

Dieser Ton genügte. Es war der versteckte Haß, die wilde Nebenbuhlerschaft unter dem Schirm der gemütlichen Händedrücke. Selten kam es zu solchem Streit; fast immer verständigte man sich. Allein am Grunde der verletzten Eitelkeit waren ständig blutende Wunden, Zweikämpfe auf Messer, unter denen man lächelnd verblutete.

Bongrand und Fagerolles allein erhoben die Hände; das »tote Kind« wurde abgelehnt und hatte nur noch die Hoffnung, bei der allgemeinen Überprüfung durchzukommen.

Diese allgemeine Überprüfung war eine furchtbare Fron. Die zwei Tage Ruhe, welche die Richter nach zwanzig ununterbrochenen Sitzungstagen sich gönnte, um den Saalhütern die Möglichkeit zu bieten, die Arbeit vorzubereiten, diese zwei Tage nützten nicht viel; nur mit Schauder erschienen die Herren an dem Nachmittag, an dem sie unter die dreitausend zurückgewiesenen Bilder gerieten, aus denen eine bestimmte Anzahl ausgewählt werden mußte, um die vorgeschriebene Ziffer von zweitausendfünfhundert zugelassenen Bildern zu vervollständigen. Ach, diese dreitausend Bilder, eines hart neben dem andern, an die Schranken gelehnt, in allen Sälen, rings um die äußere Galerie, kurz überall, selbst auf dem Fußboden, wo sie wie stille Sümpfe ausgebreitet lagen, zwischen denen man nur einen schmalen Pfad längs der Rahmen freiließ, eine Überschwemmung, eine Hochflut, die immer höher stieg und den ganzen Industriepalast zu überschwemmen drohte mit dem trüben Strom all dessen, was die Kunst an Mittelmäßigem und Törichtem dahinwälzen kann. Sie hatten dazu nur eine Sitzung, von ein Uhr bis sieben Uhr, sechs Stunden verzweifelten Rennens durch dieses Wirrsal. Anfänglich wehrten sie sich tapfer gegen die Ermüdung und bewahrten sich den klaren Blick; doch bald schlotterten ihre Beine bei diesem Gewaltmarsch, und ihre Augen wurden gereizt durch dieses Farbengeflimmer; es galt noch immer weiter zu gehen, zu sehen und zu urteilen, bis man vor Ermüdung umsinken würde. Um vier Uhr waren die Richter in voller Auflösung gleich einer geschlagenen Armee. Weit hinten schleppten sich einige Mitglieder atemlos nach; andere folgten einzeln; sie verloren sich zwischen den Rahmen, den schmalen Pfaden und gaben die Hoffnung auf, jemals das Ende zu finden. Wie sollten sie da gerecht sein, großer Gott! Was sollten sie aus diesem schrecklichen Haufen zurücknehmen? Auf gut Glück, ohne eine Landschaft von einem Porträt zu unterscheiden, vervollständigten sie die Zahl. Zweihundert, zweihundertvierzig, noch acht, es fehlten noch acht Bilder. Dieses da? Nein, jenes dort! Welches Sie wollen. Sieben, acht, fertig. Endlich hatten sie das Ende gefunden und hinkten frei, gerettet von dannen.

Eine neuerliche Szene hatte sie in einem Saale bei dem »toten Kinde« aufgehalten, das unter anderen Trümmern am Boden lag. Allein jetzt scherzte man; ein Spaßvogel tat, als wolle er mitten auf die Leinwand treten; andere liefen auf dem schmalen Pfade hinüber, wie um die richtige Seite des Bildes zu suchen und erklärten, verkehrt sei es viel besser.

Auch Fagerolles stimmte in den Spaß mit ein.

»Ein wenig Mut, meine Herren. Prüfen Sie in der Runde, es wird' sich lohnen. Ich bitte Sie, meine Herren, seien Sie freundlicher; nehmen Sie das Bild an, tun Sie ein gutes Werk.«

Alle erheiterten sich an seinen Reden, aber sie weigerten sich mit ihrem grausamen Lachen noch hartnäckiger als früher. Nein, nein, niemals!

»Nimmst du es auf deine Gnadenrechnung?« rief die Stimme eines Kameraden.

Es war der Brauch, daß jeder Richter ein Bild aufnehmen konnte, das nicht näher geprüft wurde, und mochte es noch so schlecht sein. In der Regel machte man mit einer solchen gnadenweisen Zulassung Armen ein Geschenk. Diese vierzig, die in letzter Stunde aus dem Haufen herausgefischt wurden, waren die Bettler an der Tür, die Hungrigen, die sich an das unterste Ende der Tafel heranschleichen durften.

»Für meine Gnadenrechnung?« wiederholte Fagerolles verlegen. Dazu habe ich ein anderes Bild in Vormerkung; ja, Blumen, von einer Dame gemalt ...«

Er ward durch höhnisches Gelächter unterbrochen. War sie hübsch? Der Malerei von Frauen gegenüber waren die Herren stets zu boshaften Witzen geneigt, ohne jede Galanterie. Fagerolles war in arger Verwirrung, denn die in Rede stehende Dame war ein Schützling Irmas. Er zitterte bei dem Gedanken an die furchtbare Szene, die ihm diese machen werde, wenn er sein Versprechen nicht hielt. Da verfiel er auf einen Ausweg.

»Und Sie, Bongrand? ... Nehmen Sie doch dieses drollige »tote Kind« auf Ihre Gnadenrechnung!«

Bekümmerten Herzens und entrüstet über einen solchen Handel fuchtelte Bongrand mit seinen großen Armen.

»Ich sollte einem wahren Maler diesen Schimpf antun? Er sollte doch mehr Selbstbewußtsein haben und nichts mehr in die Ausstellung schicken!«

Da die anderen noch immer hohnlachten, entschloß sich Fagerolles dazu, der den Sieg behalten wollte, mit stolzer Miene als kühner Junge, der nicht fürchtet bloßgestellt zu werden.

»Es ist gut, ich nehme es auf meine Gnadenrechnung.«

Man rief Bravo und brachte ihm spöttelnd Ehrenbezeigungen; man verbeugte sich vor ihm, drückte ihm die Hand. Ehre dem Wackern, der den Mut seiner Überzeugung hatte! Ein Saalhüter trug das arme, verhöhnte, verstoßene, verunglimpfte Bild in seinen Armen fort. So wurde ein Gemälde des Malers von »Freilicht« endlich von den Richtern angenommen.

Am folgenden Morgen verständigte Fagerolles Claude in zwei Zeilen, daß es ihm endlich gelungen sei, das »tote Kind« in den Salon aufnehmen zu lassen, daß es aber nicht ohne Mühe geschehen sei. Trotz der Freude über diese Nachricht fühlte Claude, wie sein Herz sich zusammenschnürte: etwas Wohlwollendes, Mitleidiges, die ganze Erniedrigung dieses Geschehnisses sprach aus jedem Worte dieser kurzen Verständigung. Einen Augenblick war er unglücklich über diesen Sieg, daß er sein Werk zurücknehmen und verbergen wollte. Allein dieses Empfinden stumpfte ab, und er verfiel wieder in die Ohnmacht seines Künstlerstolzes, so sehr hatte sein menschliches Elend durch das lange Warten nach dem Erfolg gelitten. Gesehen werden, trotz allem ans Ziel gelangen! Er war ans Ende des Entsagens angekommen, sehnte die Eröffnung des Salons mit der fieberhaften Ungeduld eines Anfängers herbei und lebte in einem Wahn, der ihm sein Bild von einer Beifall rufenden Menge umdrängt sehen ließ.

Der »Firnistag« war in Paris allmählich in die Mode gekommen, das ist der Tag, der früher den Malern allein vorbehalten war, die kamen, um die Aufstellung ihrer Bilder noch im letzten Augenblicke zu überwachen. Jetzt war dieser Tag eine Art Erstlingsfrucht, eine jener Festlichkeiten, welche die ganze Stadt auf die Beine bringen, in dichtgedrängten Scharen herbeilocken. Seit einer Woche gehörten die Presse, die Straße, das Publikum den Künstlern. Sie hielten Paris in Atem, es war einzig und allein von ihnen die Rede, von ihren Einsendungen, von ihren Handlungen, von ihren Gebärden, von allem, was ihre Person berührte; es war eine jener plötzlich niederfahrenden Torheiten, die mit ihrer Gewalt das Straßenpflaster aufzureißen drohen; ganze Scharen von Landleuten, Soldaten und Kindermädchen drängten sich an Tagen, wo der Eintritt freigegeben war, durch die Säle; an manchen schönen Sonntagen wurde die erschreckende Ziffer von fünfzigtausend Besuchern erreicht; eine ganze Armee, die Bataillone des unwissenden kleinen Volkes, welche, den höheren Gesellschaftskreisen folgend, mit weit aufgerissenen Augen durch diesen großen Bilderladen zog.

Anfänglich hatte Claude Angst vor diesem berühmten Firniß tag; ihn schüchterte der Gedanke an das Gedränge vornehmer Leute ein, von denen man sprach, und er war entschlossen, den demokratischen Tag der wirklichen Eröffnung abzuwarten. Er weigerte sich, Sandoz dahin zu begleiten. Dann aber ward er von einem solchen Fieber ergriffen, daß er um acht Uhr plötzlich aufbrach, nachdem er in aller Hast ein Stück Brot und ein wenig Käse verschluckt hatte. Christine, die nicht den Mut hatte, mit ihm zu gehen, rief ihn zurück und küßte ihn noch einmal besorgt und tiefbewegt.

»Vor allem, mein Liebling: gräme dich nicht, was auch geschehen mag.«

Als Claude den Ehrensalon betrat, war er schier atemlos, und sein Herz pochte stürmisch; er war die große Treppe zu schnell heraufgeeilt. Draußen war ein durchsichtiger Maihimmel; die unter dem Glasdache ausgespannte Leinwand dämpfte die Sonne zu einem lebhaften, weißen Lichte; durch die benachbarten Türen, die sich auf die Gartengalerie öffneten, wehten feuchte Lüfte von einer bebenden Frische herein. Claude verschnaufte sich einen Augenblick in dieser Luft, die sich schon verdichtete und einen schwachen Firnisgeruch bewahrte, der mit dem feinen Moschusgeruch der Frauen sich mengte. Mit einem. Blick übersah er die an den Wänden hängenden Bilder, geradeaus ein riesiges, bluttriefendes Gemetzel, links ein großes, blasses Heiligenbild, das der Staat bezahlt hatte, rechts die nüchterne Darstellung eines offiziellen Festes, dann Porträts, Landschaften, Familienszenen, alle in grellen Farben schimmernd, in Rahmen von allzu neuem Golde. Doch in seiner Furcht vor den Besuchern dieser Feierlichkeit lenkte er die Blicke wieder auf die allmählich angewachsene Menge. Auf dem Rundpuff, das in der Mitte des Saales stand, und von dem eine Garbe grüner Pflanzen aufstieg, saßen nur drei Damen, drei abscheulich gekleidete Ungeheuer, die es sich da bequem gemacht hatten, als wollten sie ihr Lästerstündchen halten. Hinter sich hörte er eine rauhe Stimme Silben zermalmen: es war ein Engländer in karriertem Überrock, welcher die Metzelei einer gelben Frau erklärte, die in einen Staubmantel gehüllt war. Es waren noch leere Plätze im Saale, Gruppen bildeten sich und lösten sich wieder, um sich weiterhin neuerlich zusammenzufinden. Alle Köpfe blickten in die Höhe; die Herren hatten Stöcke, ihre Überröcke über den Arm geschlagen; die Frauen wandelten mit leisen Schritten durch den Saal, blieben zuweilen stehen und ließen ein flüchtiges Profil erblicken. Sein Malerauge wurde vor allem von den Blumen ihrer Hüte festgehalten, deren Töne sich von den dunkeln Zylinderhüten scharf abhoben. Er bemerkte drei Priester, zwei Soldaten, die, Gott weiß wie, hierher verschlagen worden, eine ununterbrochene Reihe von ordengeschmückten Herren, ganze Schwärme von jungen Mädchen mit ihren Müttern, bald da, bald dort den Verkehr hemmend. Viele kannten sich, es war ein Lächeln und Grüßen von ferne, zuweilen wurde ein flüchtiger Händedruck im Vorübergehen gewechselt. Die Stimmen blieben halblaut, durch das fortdauernde Getrappel der Füße übertönt.

Jetzt begann Claude sein Bild zu suchen. Er suchte sich nach dem Alphabet zu orientieren, irrte sich und ging durch die linksseitigen Säle. Alle Türen standen offen; es war ein tiefer Durchblick von Türvorhängen mit einzelnen Bilderecken, die sichtbar waren. Er ging bis zum großen Saale auf der Westseite, kam durch die andere Flucht zurück, ohne seinen Buchstaben zu finden. Als er wieder in den Ehrensalon geriet, sah er daselbst die Menge so schnell angewachsen, daß man sich nur mit Mühe fortbewegen konnte. Weil er jetzt nicht vorwärts konnte, erkannte er Maler, das Volk der Maler, das heute hier daheim war und die Ehren des Hauses erwies; besonders einer, ein ehemaliger Freund aus dem Atelier Boutin, noch jung, von einem Bedürfnis nach Öffentlichkeit verzehrt, für die Medaille arbeitend, alle Besucher von einigem Einfluß abfangend und mit Gewalt zu seinen Gemälden führend; dann den berühmten, reichen Maler, der die Besucher mit einem triumphierenden Lächeln vor seinem Werke empfing, mit einer auffälligen Galanterie gegenüber den Frauen, die einen immer wieder sich erneuernden Hof um ihn bildeten; dann die anderen, die Nebenbuhler, die einander verabscheuen und sich gegenseitig mit lauter Stimme Lobsprüche zurufen; die Wütenden, die an einer Tür stehend die Erfolge der Kameraden belauern; die Schüchternen, die nicht für ein Königreich in ihren Saal gingen; die Spötter, welche die blutende Wunde ihrer Niederlage unter einem Scherzworte verbargen; die wahren Beobachter, welche die Ausstellung studierten und im Geiste schon die Medaillen verteilten. Es waren auch die Familien der Maler da, eine junge, reizende Frau, begleitet von einem zierlich geschniegelten Kinde; eine magere, mürrische Spießbürgerin, von zwei schwarzgekleideten häßlichen Töchtern begleitet, eine dicke Hausmutter, auf einem Bänkchen gelagert und von einem Schwärm schlecht gesäuberter Kleinen umgeben; eine reife, noch schöne Dame, die mit ihrer erwachsenen Tochter eine Dirne, die Geliebte des Vaters vorüberkommen sah; die Damen waren über das Verhältnis auf dem Laufenden und tauschten ein stilles Lächeln aus; dann die Modelle, Weiber, die einander an den Armen zogen und in den Nacktheiten der Gemälde sich gegenseitig ihre Körper zeigten, laut sprechend, geschmacklos gekleidet, ihre prächtigen Leiber in Kleider gehüllt, daß sie bucklig schienen neben den gut gekleideten Puppen, den Pariserinnen, von denen, hätte man sie aus ihrer Toilette geschält, nichts übrig geblieben wäre.

Als Claude sich freigemacht hatte, betrat er die rechtsseitige Saalreihe. Auf dieser Seite fand sich sein Buchstabe. Er durchforschte die mit einem L bezeichneten Säle und fand nichts. Vielleicht war sein Bild verlegt oder irgendwo zur Ausfüllung einer Lücke benützt worden. Als er in dem großen östlichen Saale angekommen war, durcheilte er die hinteren, kleinen Säle, die weniger besucht, der Schrecken der Maler waren, weil daselbst die ausgestellten Bilder in langweiligem Düster verkümmerten. Auch da fand er nichts. Betroffen, verzweifelt irrte er umher, trat auf die Gartengalerie hinaus und fuhr fort zu suchen in dieser Überfülle von Nummern, die fahl und gleichsam zitternd in der grellen Beleuchtung hieher verdrängt worden waren; nachdem er noch in anderen Richtungen lange herumgeirrt, geriet er zum drittenmal in den Ehrensalon. Dort herrschte jetzt ein Gedränge zum Erdrücktwerden. Das berühmte, reiche, angebetete Paris, alles was von sich reden macht, das Genie, die Million, die Schönheit, die Meister des Romans, des Theaters und der Zeitung, die Klubmänner, die Sportmänner, die Börsenmänner, die Weiber aller Klassen, Dirnen, Schauspielerinnen, Damen der guten Gesellschaft in auffälligem Durcheinander strömten in immer wachsender Menge herauf. In dem Zorn wegen seines vergeblichen Suchens war er erstaunt über die Gewöhnlichkeit der Gesichter, die er da in Masse sah, über die Verschiedenheit der Toiletten, von denen er wenige elegante unter vielen alltäglichen bemerkte, über den Mangel an Würde dieser Gesellschaft, die er anfänglich gefürchtet hatte und jetzt verachtete. Sollten diese Leute abermals seine Gemälde verhöhnen, wenn es überhaupt auffindbar wäre? Zwei kleine blonde Berichterstatter vervollständigten ihre Listen der anzuführenden Personen. Ein Kritiker machte in auf fälliger Weise Anmerkungen an den Blatträndern seines Katalogs. Ein anderer stand mitten in einer Gruppe von Anhängern und hielt ihnen Vorträge. Ein dritter stand einsam mit den Händen hinter dem Rücken und ließ auf jedes Bild die Wucht seines erhabenen Gleichmutes niedergehen. Hauptsächlich verblüffte Claude dieses Gedränge, diese Massenneugierde ohne Unbefangenheit und ohne Leidenschaft, die Herbheit der Stimmen, die Mattheit der Gesichter, ein Aussehen bösartigen Leidens. Schon war der Neid am Werke: der Herr, der bei den Damen den Geistreichen spielt; der andere, der wortlos betrachtete, furchtbar die Achseln zuckte und dann ging: die zwei Herren, die eine Viertelstunde Seite an Seite an das Brettchen der Schranken gelehnt stehen mit der Nase auf einer kleinen Leinwand, leise miteinander flüsterten und verstohlene Verschwörerblicke tauschten.

Doch jetzt war Fagerolles erschienen. Inmitten des unablässigen Zuströmens der Gruppen sah man jetzt ihn allein mit ausgestreckter Hand, sich überall gleichzeitig zeigend, in seiner Doppelrolle eines jungen Meisters und eines einflußreichen Richters sich gebend. Mit Lobsprüchen, Danksagungen und Beschwerden überhäuft, hatte er für jeden eine Antwort, ohne etwas von seiner Liebenswürdigkeit zu verlieren. Seit dem Morgen ertrug er den Ansturm der von ihm beschützten kleinen Maler, deren Bilder etwa schlecht untergebracht waren. Es war das gewöhnliche Drängen der ersten Stunde; alle eilten herbei, um ihre Bilder aufzusuchen und ergingen sich in endlosen wütenden Beschwerden; das Bild hänge zu hoch, die Beleuchtung sei eine ungünstige: die Nachbarschaft töte die Wirkung; einige wollten ihre Bilder herunterlangen und nach Hause tragen. Besonders einer war wütend, ein langer Magerer, der Fagerolles von Saal zu Saal verfolgte; dieser suchte vergebens ihm seine Unschuld zu beweisen: er könne nichts dafür, man gehe in der Reihenfolge der Rangnummern vor, die Felder jeder Mauer würden zuerst auf dem Fußboden angeordnet und dann aufgehängt, ohne daß jemand begünstigt werde. Er ging in seiner Gefälligkeit soweit, ihm seine Vermittlung zu versprechen, wenn nach der Verteilung der Medaillen die Säle neu eingerichtet würden; aber es gelang ihm nicht, den langen Magern zu beruhigen; dieser fuhr fort ihn zu verfolgen.

Einen Augenblick drängte er sich durch die Menge, um Fagerolles zu fragen, wohin er seine Leinwand getan. Allein, eine Regung des Stolzes hielt ihn zurück, als er den andern so stark umworben sah. War dieses ewige Bedürfnis nach einem andern nicht blöd und schmerzlich zugleich? Überdies bedachte er plötzlich, daß er eine ganze Flucht von Sälen auf der rechten Seite übergangen haben mußte; in der Tat hingen da noch beinahe meilenlange Reihen von Bildern. So kam er schließlich in einen Saal, wo sich die Leute in dichter Menge vor einem großen Gemälde drängten, welches das vornehmste Feld in der Mitte einnahm. Anfänglich konnte er nichts sehen, so eng standen die Leute Schulter an Schulter, ein dichter Wall von Köpfen und Hüten. In gaffender Bewunderung strömte die Menge herbei. Als er sich auf die Fußzehen stellte, bemerkte Claude endlich das Wunder; er erkannte den Vorwurf nach allem, was man ihm davon gesagt hatte.

Es war das Gemälde Fagerolles. Er fand sein »Freilicht« wieder in diesem »Frühstück«, denselben blonden Ton, dieselbe Kunstformel, aber wie sehr gemildert, gefälscht, von einer Eleganz der Haut, mit unendlicher Geschicklichkeit für den niedrigen Geschmack des Publikums hergerichtet. Fagerolles hatte nicht den Fehler begangen, seine drei Frauengestalten nackt zu malen; aber in ihren gewagten Toiletten von Weltdamen hatte er sie gleichsam entkleidet; die eine zeigte die Brust unter der durchsichtigen Spitze des Leibchens, die andere enthüllte das rechte Bein bis zum Knie, während sie sich zurücklehnte, um einen Teller zu nehmen; die dritte, die nicht das kleinste Stückchen ihrer Haut sehen ließ, trug ein so enges Kleid, daß sie, mit den gespannten Lenden einer Stute von einer geradezu sinnverwirrenden Unschicklichkeit war. Die zwei Herren, für den Landaufenthalt gekleidet, galant in ihrer Haltung, verwirklichten den Traum von der Vornehmheit; in der Ferne war ein Diener zu sehen, der noch einen Korb von dem hinter den Bäumen haltenden Landauer holte. Alles: die Figuren, die Stoffe, das Naturstück des Frühstücks, hob sich sehr schön, im vollen Sonnenlicht von dem dunkeln Grün des Hintergrundes ab; die äußerste Geschicklichkeit aber lag in der schwindelhaften Kühnheit, in der verlogenen Kraft, welche die Menge gerade genug zu packen wußte, um sie vor dem Gemälde in Entzücken schwelgen zu lassen. Ein Sturm in einem Sahnetopfe.

Claude, der nicht heran konnte, hörte die Bemerkungen, die ringsumher fielen. Endlich einer, der wirkliche Wahrheit malte. Er unterstrich nichts, er wußte alles auszudrücken, ohne es merken zu lassen. Die Schattierungen, die Kunst der Zweideutigkeiten, der Respekt vor dem Publikum, die Zustimmung der guten Gesellschaft! Und dabei eine Feinheit, ein Reiz, ein Geist! Das war keiner von denen, die sich ungeschickt in leidenschaftlichen Bildern voll überquellender Schöpfungskraft ausgeben; nein, wenn er drei Notizen nach der Natur genommen hatte, gab er diese drei Notizen und nicht eine mehr. Ein Zeitungsberichterstatter, der eben angekommen, war begeistert und fand den richtigen Ausdruck: das Bild sei durchaus pariserisch, meinte er. Man wiederholte dieses Wort; keiner kam vorüber, ohne das Bild durchaus pariserisch zu finden.

Diese fortwährend anwachsende Flut erbitterte Claude schließlich; von dem Bedürfnis ergriffen, die Köpfe zu sehen, aus denen ein Erfolg sich zusammensetzt, machte er die Runde um den Menschenhaufen und wußte es so einzurichten, daß er sich an die Schrankenleiste lehnen konnte. Hier sah er dem Publikum ins Angesicht in dem grauen Lichte, welches die an der Saaldecke angebrachte Leinwand durchließ, zugleich die Mitte des Saales verdunkelnd; das helle Licht, von den Rändern des Schirmes herabfließend, warf ein weißes Feld auf die Bilder an der Wand, wo das Gold der Rahmen den warmen Ton der Sonne annahm. Sogleich erkannte er die Leute, die ihn ehemals verhöhnt hatten; waren es nicht diese, so waren es ihre Brüder, aber ernst, begeistert, verschönt von der achtungsvollen Aufmerksamkeit. Jenes üble Aussehen der Gesichter, jene Kampfesmüdigkeit, jene Neidgalle, welche die Haut verzerrt und gelb färbt, wie er sie früher gesehen: sie waren jetzt gemildert in dem einhelligen Genuß, den dieses liebenswürdig-verlogene Werk bot. Zwei dicke Damen saßen mit offenem Munde da und gähnten vor Vergnügen. Alte Herren betrachteten das Bild mit weitgeöffneten Augen und einer Miene des Verständnisses. Ein Gatte erklärte ganz leise den Vorwurf des Bildes seiner jungen Frau, die mit einer allerliebsten Bewegung des Halses Zustimmung nickte. Man sah verblüffte, tiefe, heitere, strenge Bewunderungen, bei vielen ein unbewußtes Lächeln, bei anderen eine in Schmachten ersterbende Miene. Die schwarzen Hüte lehnten sich halb zurück; die Blumen der Frauen flössen auf ihre Nacken herab. Alle diese Gesichter waren eine Minute unbeweglich und wurden dann von anderen verdrängt und ersetzt, die ihnen immer wieder glichen.

Ganz dumm angesichts dieses Triumphes vergaß sich Claude in dem Saale, der sich schon zu klein erwies, weil immer neue Scharen sich daselbst zusammendrängten. Da fand sich keine Lücke mehr wie in der ersten Stunde, man spürte nicht die aus dem Garten aufsteigende Kühle, noch auch den flüchtigen Firnisgeruch; jetzt war die Luft erhitzt und herb von dem Geruche der Toiletten. Kurz nachher herrschte hier der Geruch eines nassen Hundes. Es mußte geregnet haben, einer jener plötzlichen Wolkenbrüche niedergegangen sein, wie sie im Frühjahr nicht selten sind; denn die zuletzt Angekommenen brachten eine Feuchtigkeit mit, schwere Kleider, die zu dampfen schienen, sobald sie in die Hitze dieses Saales eintraten. In der Tat sah man seit einer Weile die Leinwand an der Saaldecke sich plötzlich verdunkeln. Claude blickte empor und erriet, daß draußen windgepeitschte Wolken dahin jagten und Wasserstürze prasselnd auf das Glasdach schlugen. Ein Schatten lief die Mauern entlang, alle Bilder verdunkelten sich, das Publikum war in Nacht getaucht, bis der Maler – nachdem die Wolken verjagt waren – die Köpfe wieder aus dem Dämmer auftauchen sah mit dem nämlichen, von blödem Entzücken gerundeten Mund und Augen.

Doch Claude war noch eine andere Bitternis vorbehalten. Auf dem Wandfelde zur Linken sah er das Bild Bongrands, als Seitenstück zu dem Fagerolles. Vor dem Gemälde Bongrands war kein Gedränge; die Besucher gingen gleichgültig vorüber. Und doch bedeutete es die äußerste Anstrengung, der Trumpf, den der große Maler seit Jahren auszuspielen versuchte, ein letztes Werk, in dem Bedürfnis geschaffen, die Mannhaftigkeit seines Niederganges zu beweisen. Der Haß, den er gegen die »ländliche Hochzeit« hegte, gegen dieses erste Meisterwerk, mit dem man sein Arbeiterleben erdrückt, hatte ihn gedrängt als Gegenstück »das Begräbnis auf dem Lande« zu malen, den Leichenzug eines jungen Mädchens, der sich in regellosen Gruppen zwischen Hafer- und Roggenfeldern fortbewegte. Er kämpfte gegen sich selbst; man solle sehen, ob er fertig sei, ob die Erfahrung seiner sechzig Jahre nicht so viel wert sei wie das glückliche Ungestüm seiner Jugend. Die Erfahrung wurde getäuscht, das Werk sollte ein düsterer Mißerfolg werden, der dumpfe Fall eines Mannes, an dem die Besucher teilnahmslos vorübergehen. Es fehlte nicht an einzelnen meisterhaften Zügen: so der Chorknabe, der das Kreuz hielt, die Gruppe der Marien-Jungfrauen, die den Sarg trugen und deren weiße Kleider, an rötlichen Leibern klebend, einen schönen Gegensatz zu dem schwarzen Sonntagsstaate des Trauergefolges bildeten, das zwischen grünen Feldern dahinzog. Allein der Priester in seinem weißen Chorhemd, das Mädchen mit dem Muttergottes-Banner, die dem Sarge folgende Familie und übrigens das ganze Bild war von einer trockenen Mache, unangenehm in seiner Gelehrtheit, steif in seiner Beharrlichkeit. Es war eine unbewußte, verhängnisvolle Rückkehr zum gequälten Romantismus, von dem der Künstler einst ausgegangen. Dies war wohl das Schlimmste an dem Ereignisse: die Gleichgiltigkeit des Publikums hatte ihren Grund in der Kunst einer andern Zeit, in der gebackenen, ein wenig matten Malerei, die es nicht zu fesseln vermochte, seitdem die in blendendem Lichte schimmernden Werke der Neuerer in der Mode waren.

Eben erschien Bongrand mit dem zögernden Schritt eines schüchternen Anfängers im Saale, und Claude fühlte sein Herz beklommen, als er ihn einen Blick auf sein vereinsamtes Bild werfen sah und dann einen andern Blick auf das Fagerolles, vor dem ein Gedränge war. In diesem Augenblicke mußte der Maler das durchbohrende Bewußtsein seines Endes haben. Wenn bisher die Furcht vor seinem langsamen Niedergange ihn verzehrt hatte, so war es nur ein Zweifel; jetzt aber hatte er die plötzliche Gewißheit, er überlebte sich selbst, sein Talent war tot; nimmermehr würde er lebendige Werke schaffen. Er wurde sehr bleich und machte eine Bewegung, wie um zu fliehen, als der Bildhauer Chambouvard, der mit seinem gewöhnlichen Gefolge von Schülern durch die andere Türe eintrat, ihn mit seiner breiten Stimme anrief, ohne sich um die anwesenden Personen zu kümmern.

»He, Spaßvogel! erwische ich Sie dabei, wie Sie sich bewundern!«

Er selbst hatte dieses Jahr eine abscheuliche Schnitterin ausgestellt, eine jener unsinnig verpfuschten Figuren, die absonderliche Launen zu sein schienen, aus seinen mächtigen Händen hervorgegangen; aber er war deswegen nicht minder siegesstrahlend und glaubte ein neues Meisterwerk geschaffen zu haben; so schritt er mit der Unfehlbarkeit eines Gottes durch die Menge, deren Lachen er nicht hörte.

Ohne zu antworten, sah ihn Bongrand mit seinen fiebernden Augen an.

»Haben Sie mein Zeug unten gesehen?« fuhr der andere fort. »Sie sollen herankommen, die Kleinen von heute! Es gibt nichts außer uns, die wir das alte Frankreich verkörpern!«

Damit setzte er seinen Weg fort, gefolgt von seinem Hofe, die erstaunte Menge grüßend.

»Dummkopf!« murmelte Bongrand, vom Kummer schier erstickt und entrüstet wie über den Lärm eines Bauern in Totengemache.

Er hatte Claude bemerkt und trat näher. War es nicht feig, aus diesem Saale zu fliehen? Er wollte seinen Mut, den hohen Sinn seiner Seele zeigen, die den Neid niemals gekannt.

»Unser Freund Fagerolles hat einen Erfolg errungen. Ich würde lügen, wenn ich mich für sein Bild begeistern wollte, das mir ganz und gar nicht gefällt; aber er selbst ist wirklich ein artiger Junge ... In Ihrer Sache hat er sich sehr gut benommen.«

Claude strengte sich an, ein Wort der Bewunderung für das »Leichenbegängnis« zu finden.

»Der kleine Kirchhof im Hintergrunde ist so hübsch!... Ist es möglich, daß das Publikum ...«

Doch Bongrand unterbrach ihn mit rauher Stimme.

»Nur kein Mitleid, mein Freund! ... Ich sehe ganz klar.«

In diesem Augenblicke grüßte jemand mit vertraulicher Handbewegung, und Claude erkannte Naudet, einen größer gewordenen, angeschwollenen Naudet, vergoldet durch die riesigen Geschäfte, die er jetzt machte. Der Ehrgeiz verdrehte ihm den Kopf, und er sprach davon, alle anderen Bilderhändler in den Staub zu werfen. Er hatte einen Palast bauen lassen, wo er sich als König des Marktes gebärdete, die Meisterwerke vereinigte, die großen modernen Kunstmagazine eröffnete. Im Flur seines Hauses erklangen die Millionen; er veranstaltete daselbst Ausstellungen, richtete außerhalb des Hauses Bildersammlungen ein, denen er Bilder, die er für zehntausend Franken erstanden, für vierzig- und fünfzigtausend verkaufte. Er führte einen fürstlichen Haushalt, hatte eine Gattin, Kinder, eine Geliebte, Pferde, ein Landgut in der Pikardie, wo er große Jagden veranstaltete. Seine ersten Gewinste kamen von der Preissteigerung der Bilder der berühmten toten Meister, die zu ihren Lebzeiten verleugnet worden, wie Gourbet, Millet, Rousseau. Dies bestärkte ihn vollends in seiner Mißachtung gegen jedes Gemälde, das von einem noch um die Anerkennung kämpfenden Maler gezeichnet war. Indessen waren schon allerlei ungünstige Gerüchte über ihn im Umlauf. Die Zahl der bekannten Bilder war eine begrenzte, und da die der Kunstliebhaber nicht vergrößert werden konnte, kam die Zeit, wo die Geschäfte schwieriger wurden. Man sprach von einem Syndikat, von einer Abmachung mit den Bankiers zur Aufrechterhaltung der hohen Preise. Im Versteigerungshause »Saal Drouot« kam man so weit, daß man Scheinverkäufe veranstaltete, wo der Händler selbst seine Bilder für teures Geld zurückkaufte. Der Zusammenbruch drohte verhängnisvoll am Ende dieser Börsenoperationen; der Sturz in die Übertreibungen und Lügen des Agio.

»Guten Tag, teurer Meister«, sagte Naudet, der sich genähert hatte. »Sie kommen – wie alle – um meinen Fagerolles zu bewundern, wie?«

Seine Haltung Bongrand gegenüber war nicht mehr so achtungsvoll und einschmeichelnd wie früher. Er sprach von Fagerolles wie von einem ihm gehörenden Maler, von einem in seinen Diensten stehenden Arbeiter, den er oft ausschelten mußte. Er hatte ihn in der Villiersallee eingerichtet, indem er ihn zwang, ein eigenes Hotel zu haben, ihn möblierte wie eine ausgehaltene Dirne, ihn durch Lieferungen von Teppichen und Nippsachen in Schulden stürzte, um ihn nachher in seiner Gewalt zu haben. Jetzt begann er ihn zu beschuldigen, daß er das unordentliche Leben eines leichtfertigen Burschen führe. Dieses Bild zum Beispiel! Niemals hätte ein ernster Maler es in die Ausstellung gesandt; das Bild machte allerdings Aufsehen, man sprach sogar von der Ehrenmedaille; aber es tauge nichts, wenn man hohe Preise erzielen wolle. Wer die Amerikaner haben wolle, müsse hübsch zu Hause bleiben wie ein Gott in der Tiefe seines Heiligtums.

»Mein Lieber, ob Sie mir es glauben oder nicht: ich hätte zwanzigtausend Franken aus meiner Tasche dafür gegeben, daß die blöden Zeitungen nicht soviel Lärm mit meinem diesjährigen Fagerolles machen.«

Bongrand, der trotz seines inneren Leides mutig zuhörte, lächelte nur.

»In der Tat,« sagte er, »die Blätter sind vielleicht ein wenig zu weit gegangen ... Gestern las ich einen Artikel, aus dem ich erfuhr, daß Fagerolles jeden Morgen zwei weiche Eier zum Frühstück genießt.«

Er lachte über diesen törichten Zug der Öffentlichkeit, die seit einer Woche ganz Paris mit dem jungen Meister beschäftigte in Verfolg eines ersten Artikels über sein Gemälde, das noch niemand gesehen hatte. Die ganze Berichterstatterschar war auf den Beinen; man entkleidete den Meister, schilderte seine Kindheit, erzählte von seinem Vater, dem Fabrikanten von Zinkgegenständen, von seinen Studien; man erzählte, wo er wohnte, wie er lebte; man schilderte die Farbe seiner Strümpfe und seine Gewohnheit, an seiner Nasenspitze zu zupfen. Er war die Leidenschaft des Augenblicks, der junge Meister nach dem Geschmack des Tages, der so glücklich war, den Preis von Rom nicht zu bekommen und mit der Schule zu brechen, deren Methode er aber beibehielt; es war das Glück einer Jahreszeit, das der Wind bringt und wieder entführt, eine nervöse Laune dieser großen, verrückten Stadt, ein Erfolg des Beiläufigen, der halb verhüllten Kühnheit, des Zufalls, der am Morgen die Menge in Aufruhr bringt, um sich des Abends in der Gleichgültigkeit aller zu verlieren.

Doch Naudet bemerkte jetzt das »Leichenbegängnis«.

»Das ist Ihr Bild! ... Sie wollten also ein Seitenstück zur ›Ländlichen Hochzeit‹ machen? Ich würde Ihnen abgeraten haben ... Ach, die ländliche Hochzeit

Bongrand hörte ihm Hoch immer lächelnd zu; nur eine schmerzliche Falte durchschnitt seine zitternden Lippen. Er vergaß seine Meisterwerke, die seinem Namen gesicherte Unsterblichkeit; er sah nur den unmittelbaren, ohne Anstrengung erlangten Erfolg dieses grünen Jungen, der nicht wert war, ihm die Palette zu reinigen, und ihn vergessen ließ, ihn, der zehn Jahre gekämpft hatte, bis sein Name bekannt wurde. Wenn dieses neue Geschlecht, das die Alten begräbt, wüßte, welche blutige Zähren es den Sterbenden erpreßt!

Als er schwieg, ergriff ihn die Furcht, daß er sein geheimes Leid habe erraten lassen. Sollte er zur Niedrigkeit des Neides herabsinken? Ein Zorn gegen sich selbst richtete ihn wieder empor; man müsse aufrecht stehend zu sterben wissen. Anstatt der heftigen Antwort, die sich ihm auf die Lippen drängte, sagte er in vertraulichem Tone:

»Sie haben recht, Naudet; an dem Tage, da ich den Einfall hatte, dieses Bild zu malen, hätte ich besser getan, schlafen zu gehen.«

»Ach, da ist er! Verzeihen Sie!« rief der Kaufmann und entschlüpfte ihm.

Es war Fagerolles am Eingang des Saales. Er trat nicht ein, verhielt sich bescheiden, lächelnd, trug sein Glück mit dem Anstände eines geistvollen Jungen. Er schien jemand zu suchen, winkte einem jungen Manne und gab ihm eine Auskunft, ohne Zweifel eine günstige, denn der junge Mann floß von Danksagungen über. Zwei andere eilten herbei, um ihn zu beglückwünschen; eine Dame hielt ihn zurück und zeigte ihm mit den Gebärden einer Märtyrerin ein Bild – ein Naturstück darstellend – das sehr ungünstig, in einem dunkeln Winkel untergebracht war. Dann verschwand er, nicht ohne vorher das vor seinem Gemälde sich begeisternde Volk in einen einzigen Blick einzuhüllen.

Claude, der es gesehen und gehört hatte, fühlte sein Herz in Traurigkeit versinken. Das Gedränge nahm immer mehr zu; er hatte vor sich nur gaffende, in der unerträglichen Hitze schwitzende Gesichter. Hinter den Schultern waren noch andere Schultern, bis zur Tür, wo alle, die nichts sehen konnten, sich mit ihren wassertriefenden Regenschirmen das Gemälde zeigten. Bongrand blieb da, stolz und aufrecht in seiner Niederlage, fest auf seinen alten Kämpferbeinen, die hellen Augen auf das undankbare Paris gerichtet. Als tapferer Mann von allumfassender Güte wollte er reden. Claude, der zu ihm sprach, ohne eine Antwort zu erhalten, sah sehr wohl, daß hinter diesem ruhigen und heiteren Antlitze die Seele abwesend war, in Trauer verloren, blutend in furchtbarer Qual; von Schreck und Ehrfurcht ergriffen, drang er nicht länger in ihn und ging fort, ohne daß Bongrand mit seinen hohl blickenden Augen es bemerkte.

Von neuem jagte ein Gedanke Claude durch die Menge. Er war erstaunt, sein Bild nicht gefunden zu haben. Und doch war nichts einfacher. Gab es denn nicht einen Saal, wo man lachte, einen Winkel, wo gespottet und gelärmt wurde, eine Ansammlung von höhnendem Publikum, das ein Bild schmähte? Dieses Bild war sicherlich das seine. Noch hatte er das Gelächter aus dem ehemaligen Salon der Zurückgewiesenen in den Ohren; er lauschte jetzt bei jeder Tür, ob man ihn nicht dort verhöhne.

Doch als er sich wieder im östlichen Saale befand, in dieser Halle, wo die hohe Kunst schlummerte, in der Niederlage, wo die ernsten, kühlen, geschichtlichen und Heiligenbilder angehäuft waren, fuhr er plötzlich zusammen und blieb unbeweglich stehen, die Augen in die Höhe gerichtet. Er war schon zweimal durch diesen Saal gekommen! Das dort oben war ja sein Bild, so hoch, so hoch, daß er es nicht erkennen konnte, ganz klein wie eine Schwalbe neben der Ecke des gewaltigen Rahmens eines Riesengemäldes von zehn Metern, welches die Sintflut darstellte, das Gewühl eines gelben Volkes im Todeskampfe mit einer schmutzigen Flut von der Farbe der Weinhefe. Links hing das Vollbild eines aschfarbenen Generals, rechts eine kolossale Nymphe in einer Mondlandschaft, der blutlose Leichnam einer Ermordeten, der im Grase verwest; ringsumher überall rötliche, violette Sachen, traurige Bilder, selbst eine komische Szene: Mönche, die sich betrinken, dann eine Eröffnung der Abgeordnetenkammer, mit einem beschriebenen Blatte in vergoldetem Zierrahmen, wo die Köpfe der bekannten Abgeordneten in bloßen Strichen wiedergegeben waren, begleitet von ihren Namen. Das kleine Bild dort oben, umgeben von bleichen Nachbarschaften, stach grell ab, gleich der schmerzlichen Grimasse eines Unholdes.

Das tote Kind, die mitleiderregende, kleine Leiche, die in dieser Entfernung nichts mehr war als eine verschwimmende Fleischmasse, das hingefallene Aas irgendeines unförmigen Tieres! War es ein Schädel, war es ein Bauch, dieser ungeheuerliche, aufgedunsene, weiße Kopf? Und diese armen Hände, auf dem Bettlinnen gekrümmt wie die verzerrten Füße eines erfrorenen Vogels! Und das Bett selbst, diese Fahle der Tücher unter der Fahle der Glieder, all das trübselige Weiß, ein Verblassen des Tons, das letzte Ende! Dann unterschied man die hellen, starren Augen und erkannte einen Kinderkopf, den Fall irgendeiner Gehirnkrankheit, scheußlich und tief mitleiderregend zugleich.

Claude näherte sich und trat wieder zurück, um besser zu sehen. Das Licht war so schlecht, daß von überall her Reflexe auf dem Bilde tanzten. Sein kleiner Hans – wie hatte man ihn da untergebracht! Ohne Zweifel aus Mißachtung oder vielmehr aus Scham, um sich seiner trübseligen Häßlichkeit zu entledigen. Er aber erinnerte sich seiner: zuerst auf dem Lande war er frisch und rosig und wälzte sich im Grase; in der Douaistraße verblaßte und verblödete er allmählich, in der Tourlaquestraße konnte er die Stirne nicht mehr tragen und starb in einer Nacht einsam, während die Mutter schlief; er sah auch sie wieder, die Mutter, das traurige Weib, das zu Hause geblieben war, ohne Zweifel um zu weinen, wie sie jetzt ganze Tage weinte. Sie hatte wohl daran getan, nicht zu kommen: es war ein gar zu trauriger Anblick, ihr kleiner Hans, schon kalt in seinem Bette, beiseite geworfen wie ein Paria, in einem so grellen Lichte, daß das Antlitz greulich zu lachen schien.

Claude litt noch mehr durch die Verlassenheit seines Werkes. Erstaunt und enttäuscht suchte er mit den Augen die Menge, das erwartete Gedränge. Warum verhöhnte man ihn nicht? Die ehemaligen Beschimpfungen, Ausrufe des Hohnes und der Entrüstung hatten ihm ins Herz geschnitten, aber er lebte dabei! Jetzt nichts mehr, nicht ein Ausspeien im Vorübergehen: das war der Tod. Von einem Frösteln der Langeweile ergriffen, beeilte sich das Publikum, diesen Saal zu verlassen. Es standen Besucher nur vor der »Eröffnung der Kammer«; da erneuerte sich die Gruppe unaufhörlich, man las die Namensliste und zeigte sich die Köpfe der Abgeordneten. Als er plötzlich hinter sich lachen hörte, wandte er sich um; aber es war kein Spottgelächter, man belustigte sich bloß über die zechenden Mönche, den Heiterkeitserfolg des Salons, den die Herren den Damen erklärten, das Bild als überaus geistreich bezeichnend. Alle diese Leute gingen unter dem kleinen Hans vorüber; kein einziger erhob den Kopf, kein einziger wußte auch nur, daß er da oben sei.

Der Maler hatte indes eine letzte Hoffnung. Auf dem Puff in der Mitte des Saales saßen zwei Personen, ein dicker Herr und ein magerer Herr, beide mit dem Bändchen der Ehrenlegion; auf die Samtlehne gestützt, plauderten sie, die Augen auf die Bilder gerichtet. Er trat näher und hörte ihnen zu.

»Ich bin ihnen gefolgt«, erzählte der Dicke. »Sie haben die Honoriusstraße eingeschlagen, sind dann durch die Rochusstraße die Chaussee nach Antin, die La Fayettestraße gegangen ...«

»Und Sie haben sie schließlich angesprochen?« fragte der Magere mit einer Miene tiefen Interesses.

»Nein, ich fürchtete in Zorn zu geraten.«

Claude ging und kam mit erregt pochendem Herzen dreimal wieder, wenn irgendein Besucher sich hierher verirrte und die Blicke langsam von den Schranken bis zur Saaldecke schweifen ließ. Ihn beherrschte ein krankhaftes Bedürfnis, ein Wort zu hören, ein einziges Wort. Wozu stellte er aus? Wie konnte er da ein Urteil erfahren? Alles lieber als diese Marter des Stillschweigens! Er drohte zu ersticken, als er ein junges Ehepaar sich nähern sah, der Mann hübsch, mit einem kleinen, blonden Schnurrbart, die Frau entzückend, zart und zierlich, wie eine Schäferin aus sächsischem Porzellan. Sie hatte das Bild bemerkt und fragte ihren Gatten, was es bedeute, weil sie zu ihrem Erstaunen nichts davon begriff; als der Gatte im Kataloge blätternd den Titel gefunden hatte: »das tote Kind« – da zog sie ihn erschauernd, mit dem Schreckensrufe hinweg:

»Wie kann die Polizei eine solche Scheußlichkeit gestatten?«

Claude blieb stehen, unbewußt, wie unter einem Banne, in die Luft starrend, inmitten des fortwährenden Getrappels der Menge, die gleichgültig hindurcheilte ohne einen Blick nach dieser einzigen, heiligen, für ihn allein sichtbaren Sache. Hier in diesem Gedränge erkannte ihn Sandoz schließlich.

Auch er schlenderte allein durch die Ausstellungssäle; seine Frau war bei seiner kranken Mutter geblieben. Er hatte die kleine Leinwand zufällig erblickt und war mit beklommenem Herzen unter ihr stehen geblieben. Welchen Ekel flößte dieses elende Leben ihm ein! Mit einem Schlage durchlebte er ihre Jugend, die Schule zu Plassans, die langen Ausflüge am Ufer der Viorne, das Herumstreifen in sengender Sonnenhitze, das Aufflammen ihres jungen Ehrgeizes; er erinnerte sich aus ihren spätem gemeinsamen Leben ihrer Anstrengungen, ihrer Ruhmeszuversicht, ihres maßlosen Hungers, der ganz Paris auf einen Bissen verschlucken wollte. Wie oft hatte er zu jener Zeit in Claude den großen Mann gesehen, dessen zügelloses Genie das Talent der anderen weit hinter sich lassen sollte! Zuerst das Atelier im Bourdonnais-Sackgäßchen, später das Atelier am Bourbonufer, Träume von riesigen Bildern, Entwürfe, die den Louvre sprengen sollten. Es war ein unaufhörlicher Kampf, zehn Stunden Arbeit täglich, eine vollständige Hingabe seines Wesens. Und dann, was? Nach zwanzig Jahren leidenschaftlichen Ringens damit zu enden, mit diesem armseligen, traurigen, unbemerkten Ding, von einer herzergreifenden Trostlosigkeit in seiner Vereinsamung, als bringe es die Pest! So viele Hoffnungen, so viele Leiden, ein Leben in harter Schaffensarbeit verbracht und als Frucht – das, nichts als das! Großer Gott!

Sandoz erkannte jetzt den neben ihm stehenden Claude. Seine Stimme erbebte in brüderlicher Rührung.

»Wie, du bist's? Warum hast du mich nicht abholen wollen?«

Der Maler entschuldigte sich nicht. Er schien sehr ermüdet, keineswegs empört, in einer leisen, erstarrenden Betäubung.

»Komm', bleib' nicht hier. Mittag ist vorüber, du frühstückst mit mir. Mich erwarten Leute bei Ledoyen, aber ich gehe nicht hin; laß uns das Büfett aufsuchen. Es wird uns erfrischen, meinst du nicht?«

Sandoz führte ihn hinweg Arm in Arm, drückte ihn an sich, suchte ihn aufzumuntern, aus seinem düstern Schweigen zu ziehen ...

»Du darfst dich nicht so härmen! Haben Sie dein Bild auch schlecht untergebracht, so ist es doch prächtig, ein famoses Stück Malerei! ... Ich weiß, du hast etwas anderes erträumt; aber zum Teufel, du bist noch nicht tot, es wird schon kommen! ... Du solltest stolz sein, denn du bist heuer der wirkliche Sieger des Salons. Nicht Fagerolles allein plündert dich; alle ahmen dir jetzt nach; du hast sie in Aufruhr gebracht mit deinem »Freilicht«, über das sie soviel gelacht haben ... Da ist wieder einer vom Freilicht, und da noch einer, und dort noch einer, alle, alle!«

Wie sie die Säle durchschritten, zeigte er mit der Hand nach einzelnen Bildern. Die Helle, die in die Malerei allmählich eingeführt worden, machte in der Tat sich endlich geltend. Der ehemalige schwarze, wie in Erdpech gekochte Salon hatte einem sonnenhellen, frühlingsfrohen Salon Platz gemacht. Es war die Morgenröte, der neue Tag, der ehemals im Salon der Zurückgewiesenen aufgegangen war und jetzt immer höher heraufzog, die Werke in einem feinen, weit ausgegossenen, in unendliche Schattierungen aufgelösten Lichte verjüngend. Überall fand dieser bläuliche Schein sich wieder, selbst in den Porträts und Genreszenen, die sich zu den Ausmaßen und dem Ernste von Geschichtsbildern erhoben. Auch sie, die alten akademischen Stoffe mit den immer wieder aufgekochten Säften der Überlieferung waren verschwunden, als habe die verurteilte Lehre ihr Schattenvolk mitgenommen; die Einfälle und Erfindungen waren selten: die leichenhaften Nacktheiten der Mythologien und des Katholizismus, die Legenden ohne Glauben, die Anekdoten ohne Leben, der ganze Trödelkram der Schule, durch Generationen von Schlauköpfen und Tölpeln abgenützt; bei den hartnäckigen Anhängern der alten Formeln, selbst bei den alten Meistern war der Einfluß augenscheinlich, die Sonne hatte da hineingeschienen. Aus der Ferne, bei jedem Schritte sah man ein Bild die Mauer durchlöchern, ein Fenster nach außen öffnen. Bald sollten die Mauern fallen und die große Natur ihren Einzug halten, denn die Bresche war breit, der Ansturm hatte die Wache weggefegt in diesem frischen, fröhlichen Krieg, den Kühnheit und Jugend führten.

»Dein Anteil ist schön,« fuhr Sandoz fort; »die Kunst des morgenden Tages ist die deine; du hast sie alle gemacht.«

Da öffnete Claude endlich den Mund und sagte leise und düster:

»Was nützt es mir, sie gemacht zu haben, wenn ich mich selbst nicht gemacht habe? Die Aufgabe war für mich zu schwer, und das erstickt mich.«

Mit einer Gebärde vervollständigte er seinen Gedanken, seine Ohnmacht, das Genie der Formel zu sein, die er in der Kunst aufgestellt, seine Qual eines Vorläufers, der den Gedanken sät, ohne den Ruhm zu ernten, seine Trostlosigkeit darüber, sich von Stümpern bestohlen und aufgezehrt zu sehen von einer ganzen Schar von Kerlen, die ihre Anstrengungen verzetteln, die neue Kunst verhunzen, noch bevor er oder ein anderer das Kunstwerk geschaffen hätte, das ein Denkmal dieser Jahrhundertneige werden sollte.

Sandoz protestierte; die Zukunft bleibe frei. Um ihn zu zerstreuen, hielt er ihn zurück, als sie eben durch den Ehrensaal kamen.

»Schau die Dame in Blau vor jenem Porträt! Welchen Hieb versetzt die Natur zuweilen der Malerei. Du erinnerst dich, wie wir ehemals das Publikum beobachteten, die Toiletten, das Leben in den Sälen. Nicht ein Gemälde hielt den Vergleich aus. Heute sind manche von ihnen nicht so übel... Dort drüben habe ich eine Landschaft bemerkt, deren gelbe Tonbeschaffenheit die Frauen, die sich ihr näherten, vollständig in den Schatten stellte.

Doch Claude erschauerte in unsagbarem Leid.

»Ich bitte dich, laß uns gehen. Führe mich hinweg, ich kann nicht weiter.«

Am Büfett hatten sie schwere Mühe, einen freien Tisch zu finden. Es herrschte ein furchtbares Drängen und Stoßen in dem weiten, dunkeln Raum, den Vorhänge von brauner Serge unter dem hohen Eisengebälk gegen die Sonne schützten. Im Hintergrunde halb im Schatten standen drei Anrichtetische, auf deren stufenförmig angeordneten Brettern Näpfe mit eingemachten Früchten gleichmäßig aufgereiht waren, während weiter vorn zwei Damen, eine Blonde und eine Braune, an Zahlpulten mit soldatisch strengen Blicken das Gewühl überwachten. Aus den dunklen Tiefen dieser Höhle ergoß sich eine Flut von eng zusammengerückten Marmortischchen und Sesseln; eine Flut, die immer mehr anschwoll und sich bis in den Garten ausbreitete in dem fahlen Lichte, das durch die Scheiben hereinfiel.

Endlich sah Sandoz einige Personen ihre Plätze verlassen; er stürzte hinzu und eroberte den Tisch nach hartem Kampfe inmitten der Menge.

»Da sind wir ... Was willst du essen?« Claude machte eine gleichgültige Gebärde. Das Frühstück war übrigens abscheulich: eine Forelle, durch die polnische Brühe ganz weich gemacht, ein ausgedörrtes Filet und Spargel, der nach feuchtem Linnen roch; es kostete ordentliche Schlachten, wenn man bedient werden wollte, denn die Kellner hatten den Kopf verloren und konnten in den schmalen, durch Sessel verrammelten Gängen nicht hin und nicht her. Hinter dem linksseitigen Vorhang hörte man ein Geräusch von Schüsseln und Geschirr; dort war die Küche aufgeschlagen auf dem Sandboden wie die Garküchen der Kirchweihfeste, deren Kessel im Freien auf den Landstraßen aufgestellt werden.

Sandoz und Claude aßen, zwischen zwei andere Gesellschaften eingeklemmt, deren Ellbogen fast in ihre Teller reichten; sooft ein Kellner vorüberkam, erschütterte er die Sessel mit einem heftigen Stoß der Hüfte. Doch dieser Zwang und die abscheuliche Nahrung erheiterten die Leute. Man scherzte über die Speisen; eine Vertraulichkeit entwickelte sich von Tisch zu Tisch in dem gemeinsamen Mißgeschick, das sich allmählich in einen Spaß verwandelte. Unbekannte wurden schließlich bekannt miteinander, Freunde führten Unterhaltungen über drei Tischreihen hinweg mit zurückgewandtem Kopf und über die Schultern der Nachbarn hinweg gestikulierend. Besonders die Frauen, die anfänglich unruhig waren in dieser bunten Menge, wurden allmählich lebhafter, zogen die Handschuhe aus, schlugen den Schleier zurück und lachten nach dem ersten Schlückchen Wein. Die Würze des Firnistages war eben dieses bunte Durcheinander, wo alle Gesellschaftskreise dicht zusammengedrängt waren, Dirnen, Bürgerfrauen, große Künstler, arme Tröpfe, ein zufälliges Zusammentreffen, ein Gemengsel, das mit seinen verdächtigen, unvorhergesehenen Wechselfällen selbst die Anständigsten heiter stimmte.

Sandoz, der darauf verzichtet hatte, sein Fleisch aufzuessen, erhob laut die Stimme inmitten des furchtbaren Lärms der Unterhaltungen und der Bedienung.

»Ein Stück Käse!... Und nachher Kaffee!«

Claude starrte vor sich hin und hörte nichts. Er schaute in den Garten und sah von seinem Platze aus das Dickicht im Mittelpunkte, große Palmen, die sich von den braunen Vorhängen abhoben, mit denen der ganze Rundweg geziert war. Da war ein Kreis von Statuen: eine Faunin mit geschwollener Lende, das hübsche Gesicht eines jungen Mädchens, die Rundung einer Wange, die Knospe einer kleinen, harten Brust; das Antlitz eines Galliers in Bronze, eine kolossale Gestalt, abstechend durch ihren blöden Patriotismus, der milchweiße Bauch einer an den Handknöcheln aufgehängten Frau, irgendeine Andromeda aus dem Pigalle-Stadtviertel; und noch andere und wieder andere, ganze Reihen von Schultern und Hüften längs der gewundenen Gartenwege, ein Aufblinken von Weiß aus dem Grün, Köpfe, Brüste, Beine, Arme durcheinander und in der Entfernung sich verlierend; links stand eine Reihe von Büsten, die mit ihrer langen Zeile von Nasen einen überaus komischen Eindruck machte: ein Priester mit ungeheurer, spitziger Nase, ein Stubenkätzchen mit einem Stumpfnäschen, eine Italienerin aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit einer klassischen Nase, ein Matrose mit einer Phantasienase, alle Nasen, die Richternase, die Fabrikantennase, die Nase des Ordensritters, eine endlose Reihe von unbeweglichen Nasen.

Aber Claude sah nichts; es waren nur graue Flecke in dem trüben und grauen Lichte. Seine Betäubung dauerte fort; er hatte nur eine einzige Empfindung: den großen Luxus der Toiletten, die er in dem Gedränge der Säle obenhin beobachtet hatte, und der sich hier frei entwickelte wie auf dem Kies des Wintergartens eines Schlosses. Die ganze elegante Welt von Paris zog vorüber; die Frauen, die gekommen waren, um sich zu zeigen, in sorgfältig berechneten Toiletten, um am nächsten Tage in den Zeitungen geschildert zu werden. Viel betrachtet wurde eine Schauspielerin, die mit den Schritten einer Königin einherwandelte am Arme eines Herrn, der die leutseligen Mienen eines Prinzgemahls aufsteckte. Die Damen der guten Gesellschaft nahmen die Haltung von Dirnen an, schauten einander an mit jenem langsamen Blick, mit dem sie sich gegenseitig gleichsam entkleiden, die Seide abschätzend, die Spitzen nachmessend, alles prüfend von der Spitze des Stiefelchens bis zur Feder des Hutes. Es war gleichsam ein neutraler Salon; Damen rückten ihre Sessel zusammen wie in den Tuilerien und beschäftigten sich einzig mit den vorübergehenden Frauen. Zwei Freundinnen eilten lachend durch den Garten. Eine andere wandelte einsam und stumm mit finsterem Blicke umher. Noch andere, die sich verloren hatten, fanden sich wieder und tauschten laut ihre Bemerkungen über das Abenteuer aus. Die wimmelnde, dunkle Masse der Herren stockte zuweilen, setzte sich dann wieder in Bewegung, hielt vor einer Mamorstatue an, um wieder zu einer Bronzebüste zurückzufluten, während unter den wenigen Bürgern, die sich hierher verirrt hatten, die Träger berühmter Namen kreisten, alles, was Paris an Berühmtheiten zählte, der Name eines vielgenannten Mannes sich mit einem schlecht gekleideten, dicken Herrn kreuzend, der geflügelte Name eines Dichters neben einem bleichen Manne, der das glatte Gesicht eines Pförtners hatte. Eine lebende Woge stieg aus dieser Menge auf in dem gleichmäßigen und farblosen Lichte, als plötzlich hinter dem Gewölk eines letzten Regengusses ein Sonnenstrahl die hohen Fenster aufflammen ließ, daß die Scheiben erglänzten und das Licht wie ein Goldregen durch die unbewegliche Luft herniederfloß. Alles erwärmte sich: der Schnee der Statuen in dem schimmernden Grün, die zarten Rasenplätze, welche der gelbe Sand der Gehwege durchschnitt, die reichen Toiletten mit dem lebhaften Schimmern des Samtes und der Perlen; selbst die Stimmen, deren lautes, nervöses, heiteres Gebrumme zu prasseln schien wie ein lustiges Weinrebenfeuer. Gärtner, die das Setzen von Blumenkörben eben beendeten, öffneten die Hähne der Wasserschläuche und führten die Spritzen herum, deren Regen von dem bewässerten Rasen gleichsam einen warmen Rauch aufsteigen ließ. Ein dreister Spatz, der trotz der vielen Leute von dem Gebälk herabgeflogen war, pickte im Sande vor dem Büfett die Brosamen auf, die eine junge Frau ihm hinstreute.

Von all dem Lärm hörte Claude nichts als die rollende Bewegung des Publikums in den Sälen oben – gleich fernem Meeresbrausen. Er erinnerte sich jenes Lärms, der wie ein Sturm vor seinem Gemälde getobt hatte. Jetzt lachte man nicht mehr: Fagerolles war's, der oben von dem Riesenatem von Paris bejubelt wurde.

»Schau Fagerolles!« sagte Sandoz, der sich umgewandt hatte, eben zu Claude.

In der Tat hatten Fagerolles und Jory, ohne die beiden zu sehen, sich eines benachbarten Tisches bemächtigt. Der letztere sagte, eine begonnene Unterhaltung mit seiner lauten Stimme fortsetzend:

»Ja, ich habe sein krepiertes Kind gesehen! Ach, der arme Kerl, welches Ende!«

Fagerolles stieß ihn mit der Schulter an; und der andere, nachdem er die beiden Kameraden bemerkt, fügte hinzu:

»Ach, Claude! ... Wie geht es denn noch immer? Ich habe dein Bild nicht gesehen, aber man sagt, es sei ausgezeichnet.«

»Ganz ausgezeichnet!« bekräftigte Fagerolles.

Dann rief er erstaunt:

»Ihr habt hier gegessen? Welch ein Einfall. Man ißt hier so schlecht ... Wir kommen von Ledoyen. Dort gibt's Leute, ein Gedränge, eine Lebenslust! ... Rückt doch euren Tisch näher, damit wir ein wenig plaudern.«

Man vereinigte die beiden Tische; doch schon war der junge triumphierende Meister wieder von Schmeichlern und Gunstwerbern umgeben. Drei Freunde erhoben sich und grüßten ihn geräuschvoll von fern. Eine Dame begann ihn lächelnd zu betrachten, als ihr Gatte ihn ihr flüsternd genannt hatte. Der große Magere, dessen Bild schlecht untergebracht worden und der ihn seit dem Morgen verfolgte, verließ jetzt einen Tisch im Hintergrunde, wo er gesessen, und eilte abermals herbei, beklagte sich und forderte, daß sein Bild sogleich vor den Schranken angebracht werde.

»Lassen Sie mich in Frieden!« rief Fagerolles schließlich, dessen Freundlichkeit und Geduld zu Ende ging.

Als der andere sich unter halblauten Drohungen entfernt hatte, rief er:

»Es ist wirklich wahr! Man mag noch so verbindlich sein, die Leute machen einen wütend! ... Alle wollen vor den Schranken sein; es müßte ganze Meilen von Schranken geben ... Es ist wirklich gräßlich, den Richtern anzugehören! Man läuft sich die Beine ab und hat nichts als Haß zum Lohne dafür.«

Claude sah ihn mit seiner traurigen Miene an. Er schien einen Augenblick zu erwachen und murmelte mit schwerer Zunge:

»Ich habe dir geschrieben; ich wollte dich besuchen, um dir zu danken ... Bongrand hat mir erzählt, welche Mühe du meinetwegen hattest. Also noch einmal Dank!«

Doch Fagerolles unterbrach ihn lebhaft.

»Ich war es unserer alten Freundschaft schuldig ... Es freut mich sehr, dir dieses Vergnügen bereitet zu haben.«

Er geriet in jene Verlegenheit, die ihn immer wieder überkam, wenn er sich vor dem uneingestandenen Meister seiner Jugend befand, jene unüberwindliche Erniedrigung dem Manne gegenüber, dessen stumme Verachtung in diesem Augenblicke genügte, ihm seinen Triumph zu verderben.

»Dein Bild ist sehr hübsch,« fügte Claude langsam hinzu, um gut und mutig zu sein.

Dieses einfache Lob schwellte das Herz Fagerolles mit einer überschwänglichen, unwiderstehlichen, er wußte nicht woher kommenden Freude; und dieser Junge, der an nichts glaubte, in allen Schwänken gerieben war, konnte mit zitternder Stimme nur erwidern:

»Es ist hübsch von dir, daß du mir das sagst.«

Sandoz hatte endlich zwei Tassen Kaffee errungen. Da der Kellner den Zucker vergessen hatte, mußte er sich mit Stückchen begnügen, die eine Familie auf einem Nachbartische zurückgelassen. Einige Tische wurden leer; aber die Ungezwungenheit hatte zugenommen, eine Frau lachte so laut, daß alle Köpfe sich umwandten. Man rauchte; ein träger, blauer Dunst schwebte über den zerknüllten, weinfleckigen, mit fettigem Geschirr bedeckten Tafeltüchern. Als es auch Fagerolles gelungen war, ein Gläschen Likör zu erhalten, begann er mit Sandoz zu plaudern, den er schonte, weil er in ihm eine Macht ahnte. Jory hingegen bemächtigte sich Claudes, der wieder schweigsam und finster dasaß.

»Mein Lieber, ich habe dir keine Einladung zu meiner Hochzeit gesandt ... Aus Rücksicht auf unsere Lage haben wir die Sache in aller Stille abgemacht, ohne Gäste herbeizuziehen ... Immerhin hätte ich dich gern benachrichtigen mögen. Du verzeihst mir, nicht wahr?«

Er zeigte sich gesprächig, gab Einzelheiten zum besten, freute sich des Lebens in selbstsüchtiger Genugtuung über seinen Ruhm und sein Wohlergehen diesem unterlegenen armen Teufel gegenüber. »Alles gelinge ihm,« sagte er. Er hatte das Artikelschreiben aufgegeben, weil er die Notwendigkeit fühlte, sein Leben ernsthaft zu gestalten; dann hatte er sich zur Leitung eines großen Kunstblattes aufgeschwungen; und man versicherte, daß er dreißigtausend Franken jährlich beziehe, die geheimen Gewinne ungerechnet, die er beim Verkaufe von Kunstsammlungen einstreiche. Die spießbürgerliche Habgier, die er von seinem Vater geerbt, diese angeborne Gewinnsucht, die ihn nach den ersten gewonnenen Sous in geheime, schmutzige Spekulationen gestürzt hatte, breitete sich heute aus und machte aus ihm einen furchtbaren Menschen, der den Künstlern und Kunstliebhabern, die ihm in die Hände fielen, das Blut bis auf den letzten Tropfen abzapfte.

In dieser seiner Glückslage wußte die allmächtig gewordene Mathilde ihn dahin zu bringen, daß er sie unter Tränen anflehte, seine Gattin zu werden, was sie sechs Monate hindurch stolz zurückgewiesen hatte.

»Wenn man zusammenlebt« fuhr er fort, »bleibt es doch das Beste, die Lage zu regeln. Du weißt ja davon zu erzählen, mein Lieber, da du denselben Weg gewandelt bist ... Ich muß dir sagen: sie wollte nicht; ja! aus Furcht, daß sie falsch beurteilt werden und mir schaden könne. Eine Seelengröße, eine Zartheit! ... Man hat keine Ahnung von den Vorzügen dieser Frau. Sie ist ergeben, stets um mich besorgt, sparsam, klug, weiß guten Rat ... Es ist für mich ein großes Glück, Mathilde getroffen zu haben! Ich unternehme nichts mehr ohne sie, ich lasse sie schalten und walten, sie hat alles in ihrer Hand.«

Die Wahrheit war, daß Mathilde ihn schließlich gehorsam wie einen kleinen Knaben gemacht hatte, den die bloße Drohung, kein Zuckerobst zu bekommen, artig sein läßt. Aus der ehemaligen schamlosen Dirne war eine gebieterische, achtungheischende Gattin geworden, verzehrt von Ehr- und Gewinnsucht. Sie betrog ihn nicht, war tugendhaft gleich einer ehrbaren Frau, hatte das Tun von ehemals aufgegeben und auf ihn allein beschränkt, um aus ihm sich das eheliche Werkzeug ihrer Macht zu schaffen. Man erzählte, man habe sie beide in der Kirche unserer lieben Frau von Loretto zum heiligen Abendmahl gehen sehen. Sie küßten sich in Gegenwart anderer und gaben sich gegenseitig Kosenamen. Allein des Abends mußte er ihr erzählen, wie er seinen Tag zugebracht, und wenn die Verwendung einer einzigen Stunde verdächtig blieb, wenn er die erworbenen Summen nicht auf Heller und Pfennig heimbrachte, bereitete sie ihm durch Androhung schwerer Krankheiten und durch fromme Verweigerung der ehelichen Zärtlichkeiten eine so böse Nacht, daß er ihre Verzeihung jedesmal teurer erkaufte.

»So haben wir denn,« wiederholte Jory, sich in seiner Erzählung gefallend »den Tod meines Vaters abgewartet, und dann habe ich sie geheiratet.«

Claude, der im Geist weitab war und nur mit dem Kopfe nickte, ohne zuzuhören, hatte nur den letzten Satz aufgefangen.

»Wie? Du hast sie geheiratet? ... Mathilde!«

In diesen Ausruf legte er sein Erstaunen über dieses Abenteuer, alle die Erinnerungen an den Laden Mahoudeaus. Noch hörte er Jory in Worten des Abscheus von ihr reden; er erinnerte sich, wie jener eines Morgens auf der Straße ihm von romantisch klingenden Gelagen, von Scheußlichkeiten erzählte, deren Schauplatz das Hinterstübchen des von scharfen Gerüchen durchtränkten Kräuterladens war. Die ganze Schar war daran gekommen, er hatte sich noch scheußlicher benommen als die anderen und – heiratete sie! Fürwahr, ein Mann ist töricht, wenn er schlecht von einer Geliebten spricht, und sei es selbst die niedrigste; denn er weiß niemals, ob er sie nicht eines Tages heiratet.

»Ja, ja, Mathilde!« antwortete der andere lächelnd. »Laß gut sein: die alten Geliebten werden die besten Ehefrauen.«

Er war ganz ruhig und heiter, die Erinnerung erstorben ohne eine Anspielung, ohne eine Verlegenheit unter den Blicken der Kameraden. Sie schien übrigens zu kommen, und er wollte sie ihnen vorstellen, als hätten sie sie nicht ebensogut gekannt wie er.

Sandoz, der mit einem Ohr dieser Unterhaltung folgte, und den dieser Fall lebhaft interessierte, rief, als sie schwiegen:

»Laßt uns gehen? ... Meine Beine sind ganz steif.«

Doch in diesem Augenblicke erschien Irma Bécot und blieb vor dem Büfett stehen. Sie war heute als Schönheit erschienen, die Haare frisch vergoldet in dem trügerischen Glanze einer rotblonden Kurtisane, die aus einem alten Rahmen der Renaissance herabgestiegen. Sie trug eine Tunika aus blaßblauem Brokat auf einem Rock von Samt, mit Alençon-Spitzen besetzt von einem solchen Reichtum, daß ein Gefolge von Herren sie begleitete. Als sie Claude unter den übrigen bemerkte, zögerte sie einen Augenblick, von feiger Scham ergriffen angesichts dieses schlecht gekleideten, häßlichen, verachteten, armen Menschen. Dann erwachte ihr alter launenhafter Mut, und sie reichte ihm zuerst die Hand mitten unter allen den fein gekleideten Herren, die überrascht die Augen aufrissen. Sie lachte mit zärtlicher Miene und einem Zug freundschaftlichen Spottes, der ihre Mundwinkel ein wenig in die Höhe richtete.

»Keinen Groll!« sagte sie heiter.

Dieses Wort, das sie allein verstanden, brachte sie von neuem zum Lachen. Das war ihre ganze Geschichte: dieser arme Junge, dem sie Gewalt angetan, und der dabei keinerlei Vergnügen gehabt.

Fagerolles zahlte die zwei Gläschen Likör und entfernte sich mit Irma, der auch Jory zu folgen sich entschloß. Claude blickte den dreien nach, wie sie von dannen gingen, Irma zwischen den beiden Männern, königlich durch die Menge schreitend, von allen Seiten bewundert und gegrüßt.

»Man sieht, daß Mathilde nicht da ist,« begnügte sich Sandoz zu sagen. »Was für Ohrfeigen würde er bei der Heimkehr empfangen!«

Jetzt ließ auch er sich die Rechnung geben. Alle Tische leerten sich; Knochen und Brotrinden bedeckten die Wahlstatt. Zwei Kellner reinigten die Marmorplatten mit dem Schwamm, während ein dritter, mit einer Harke den mit Speichel beschmutzten und mit Brotkrumen bestreuten Sand glättete. Hinter dem Vorhang von brauner Serge frühstückte jetzt das Personal; man hörte das Arbeiten der Kinnladen, ein Gelächter mit vollem Munde, die ganze geräuschvolle Kautätigkeit eines Zigeunerlagers, das die Kochtöpfe bis auf das letzte Restchen leerfegt.

Claude und Sandoz machten einen Rundgang durch den Garten und entdeckten eine Figur von Mahoudeau, die in einem Winkel neben dem östlichen Eingang sehr schlecht untergebracht war. Es war endlich die aufrechtstehende Badende, aber noch mehr verkleinert, kaum so groß wie ein Mädchen von zehn Jahren, von einer reizenden Eleganz, mit feinen Schenkeln, ganz kleinen Brüstchen, deren Knospen ein köstliches Zögern in der Entwicklung zeigten. Ein Duft ging von der Figur aus, die Anmut, die nichts zu geben vermag, die dort blüht, wo sie will, die unüberwindliche, hartnäckige, lebendige Anmut, die immer wieder hervorsproß unter seinen plumpen Arbeiterfingern, die so lange Zeit ihr eigenes Genie verkannt hatten.

Sandoz konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

»Wenn man bedenkt, daß dieser Bursche alles getan hat, um sein Talent zu verderben! ... Wenn er besser untergebracht wäre, müßte er einen großen Erfolg haben.«

»Ja, einen großen Erfolg,« wiederholte Claude. »Es ist sehr hübsch.«

Sie bemerkten eben Mahoudeau im Flur, auf die Treppe zugehend. Sie riefen ihn an, eilten hinzu und plauderten einige Minuten. Die Galerie des Erdgeschosses lag ganz leer da, säuberlich mit Sand bestreut, in einer fahlen Helle, die durch die großen runden Fenster eindrang. Man hätte glauben mögen, daß man sich unter einer Eisenbahnbrücke befand: starke Pfeiler stützten das eiserne Gebälk, eine eisige Kälte strömte von der Höhe herab und durchfeuchtete den Boden, wo die Füße im Sande versanken. In der Ferne waren hinter einem zerrissenen Vorhang Statuen in langer Reihe zu sehen: die zurückgewiesenen Werke von Bildhauern, Gipsmodelle, welche die armen Urheber nicht wieder holen ließen, um die Kosten zu ersparen. Es war eine fahle Leichenkammer von trostloser Verlassenheit. Doch ließ überrascht in die Höhe blicken das fortwährende Getöse, das ungeheure Getrappel des Publikums auf dem Fußboden der Ausstellungssäle. Hier unten ward man davon schier betäubt, es war ein ins Maßlose gesteigertes, donnerartiges Rollen, als ob mit vollem Dampfe dahin jagende, endlose Eisenbahnzüge die eisernen Balken erschütterten.

Als sie Mahoudeau beglückwünscht hatten, sagte dieser zu Claude, er habe vergebens seine Leinwand gesucht; in welches Loch habe man sie denn gesteckt? In zarter Erinnerung an die Vergangenheit erkundigte er sich nach Gagnière und Dubuche. Wo waren die Ausstellungen von einst, als die ganze Schar der Freunde hinkam und sich toll in den Sälen tummelte wie in Feindesland! Dann das heftige Schimpfen beim Verlassen der Ausstellung, die Auseinandersetzungen, welche die Zungen schwellten und die Schädel leerten! Dubuche war nicht mehr zu sehen. Gagnière kam zwei-dreimal des Monats aus Melun in aller Eile, um ein Konzert zu hören; er interessierte sich so wenig für die Malerei, daß er nicht einmal in die Ausstellung gekommen war, obgleich seine Seine-Landschaft da war, die er seit fünfzehn Jahren einsandte, eine Landschaft in hübschem, grauem Ton, sehr gewissenhaft und fein gemalt, daß das Publikum sie noch niemals bemerkt hatte.

»Ich wollte soeben hinaufgehen,« sagte Mahoudeau. »Kommt ihr mit hinauf?«

Claude blickte jede Sekunde in die Höhe; ein Unbehagen hatte seine Wangen entfärbt. Dieses furchtbare Rollen, dieses verzehrende Eilen des Ungeheuers, dessen Erschütterung er in allen Gliedern fühlte!

Er reichte ihnen wortlos die Hand.

»Du verläßt uns?« rief Sandoz. »Mache doch noch einen Rundgang mit uns; dann wollen wir zusammen weggehen.«

Doch ein Mitleid beklemmte ihm das Herz, als er ihn so müde sah. Er fühlte, daß jener mit seinem Mute zu Ende war und sich nach Einsamkeit sehnte, um sein Leid zu verbergen.

»Dann lebe wohl, alter Freund ... Morgen komme ich zu dir.«

Wankenden Schrittes, verfolgt von dem Getümmel da oben, verschwand Claude hinter den Bäumen des Gartens.

Als Sandoz zwei Stunden später im östlichen Saale Mahoudeau, den er verloren hatte, mit Jory und Fagerolles wiederfand, bemerkte er Claude vor seiner Leinwand auf demselben Fleck, wo er ihn zuerst getroffen. Indem Augenblicke, da er die Ausstellung hatte verlassen wollen, war der Unglückliche wieder hinaufgegangen, unwillkürlich angezogen, unter einem Banne handelnd.

In den Sälen herrschte jetzt die erstickende Hitze der fünften Nachmittagsstunde, wenn die Menge, erschöpft von der Wanderung durch die Säle, von dem Schwindel der in einen Pferch losgelassenen Herden ergriffen, in wilder Hast durcheinanderdrängt, ohne den Ausgang zu finden. Seit der Kühle des Morgens hatte die Wärme der Körper und der Ausatmungen die Luft mit einem rötlichen Dunste erfüllt; und der fliegende Staub der Parkette stieg als ein feiner Nebel auf in dieser Ausdünstung menschlicher Streu. Einige Leute führten ihre Bekannten noch vor einzelne Gemälde, deren Vorwürfe allein das Publikum anzogen und fesselten. Man ging fort, man kam wieder, man trippelte endlos herum. Die Frauen hielten am längsten aus, sie wollten bleiben, bis die Saalhüter sie hinausdrängten, was mit dem Glockenschlage sechs geschah. Einige dicke Damen waren kraftlos auf die Sitzbänke hingesunken; andere, die nicht das kleinste Plätzchen entdecken konnten, stützten sich fest auf ihre Sonnenschirme und hielten stand, obgleich sie umzusinken drohten. Aller Augen suchten angstvoll und flehend die mit Leuten überladenen Bänke. Diese Köpfe zeigten die äußerste Ermüdung, welche die Beine schlotterig machte, die Gesichter verzog, die Stirnen mit der Migräne marterte, mit der eigentümlichen Ausstellungsmigräne, die aus dem unaufhörlichen Zurückbeugen des Nackens und dem blendenden Tanze der Farben entstand.

Die zwei ordengeschmückten Herren, die sich seit Mittag ihre Geschichten erzählten, saßen noch immer auf dem Puff in ruhigem Gespräch, mit ihrem Gedanken weit abwesend. Vielleicht waren sie zurückgekommen, vielleicht auch hatten sie sich nicht vom Platze gerührt.

»Sie sind also eingetreten,« sagte der Dicke, »und taten, als begriffen Sie nichts von der Sache?«

»Ganz richtig,« erwiderte der Magere. »Ich habe sie betrachtet und habe meinen Hut abgenommen ... Es war klar! ...«

»Erstaunlich! Sie sind erstaunlich, lieber Freund.«

Aber Claude hörte nichts als die dumpfen Schläge seines Herzens, sah nichts als das »tote Kind« dort oben, nahe an der Saaldecke. Er ließ es nicht mehr aus den Augen; er stand unter der Macht eines Zaubers, der ihn hier willenlos festnagelte. Müde und abgespannt kreiste die Menge um ihn her; viele traten ihn auf die Füße; er ward gestoßen, fortgerissen; wie eine träge Masse ergab er sich, pendelte hin und her, kehrte immer wieder auf denselben Platz zurück, ohne das Haupt zu beugen, nicht wissend, was unten geschah, nur dort oben lebend mit seinem Werke, mit seinem im Tode aufgedunsenen kleinen Hans. Zwei schwere Tränen hingen unbeweglich zwischen seinen Wimpern und hinderten ihn, klar zu sehen. Ihm war, als solle er nie Zeit genug haben zu sehen.

Sandoz in seinem tiefen Mitleide tat, als habe er seinen alten Freund nicht bemerkt und wolle ihn auf dem Grabe seines verfehlten Lebens allein lassen. Abermals kam die Gruppe der Kameraden vorbei, Fagerolles und Jory voraus; da Mahoudeau eben an Sandoz die Frage richtete, wo Claudes Bild sei, gab jener eine ausweichende Antwort und führte den Freund hinweg. Alle verließen die Ausstellung.

Am Abend konnte Christine von Claude nur knappe Antworten bekommen; alles gehe gut, das Publikum sei nicht böse gewesen, das Bild habe einen guten Eindruck gemacht, hänge nur ein wenig zu hoch. Trotz dieser kühlen Ruhe war er so eigentümlich, daß sie von Angst ergriffen ward.

Als sie nach dem Essen die Teller nach der Küche brachte und zurückkehrte, fand sie Claude nicht mehr bei Tische. Er hatte ein Fenster geöffnet, das auf einen leeren Grund ging; er lag so weit hinausgebeugt, daß sie ihn nicht sah. Entsetzt stürzte sie hinzu und riß ihn heftig bei der Jacke zurück.

»Claude! Claude! Was machst du?«

Als er sich umwandte, fand sie ihn bleich wie sein Hemd mit irren Augen.

»Ich sehe hinaus,« sagte er.

Sie schloß mit zitternden Händen das Fenster und blieb infolge dieser Szene dermaßen geängstigt, daß sie die ganze Nacht nicht schlafen konnte.


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